Was währenddessen geschah

Bühne „Hommage an das Zaudern“: Mit zwei Tänzern und kaum Dekor führt der französische Choreograf Laurent Chétouane die Vielfalt der unerschlossenen Möglichkeiten des Seins vor

Verschieden sind die Arten, neben einem Klavier zu stehen. Man kann mit der Hüfte dagegenlehnen und den Arm auf dem Deckel ablegen. Frontal davor stehen und die Hände aufstützen, als wolle man einen Bocksprung machen. Man kann sich daneben positionieren und so tun, als sei da kein Klavier, um sich abzuwenden und fortzugehen, weil es zu viele Möglichkeiten gibt. Wie sollte man da eine Entscheidung treffen? Und: warum?

Die Szene mit dem Klavier zeigt en miniature, was der französische Choreograf und Regisseur Laurent Chétouane mit seiner Hommage an das Zaudern insgesamt vorführt: die unendliche Vielfalt der unerschlossenen Möglichkeiten des Seins. Ein großes Programm für eine kleine Produktion mit zwei Tänzern und fast keinem Dekor (zwei Stühle, ein Klavier), sollte man meinen. Doch nein, denn die Vielfalt liegt im Kleinen. Und warum im Zaudern?

„Zaudern“ ist ein selten gewordenes Wort, das kaum noch benutzt wird. Es beschreibt eine gewisse Unentschlossenheit, in der nichts geschieht, was für das Theater die Abwesenheit von Handlung bedeutet. Die Herkunft dieses schwachen Verbes sei etwas unklar, erläutert das etymologische Wörterbuch, vermutlich ist es zurückzuführen auf das mittelniederdeutsche „toven“ oder „tuven“, das „warten, dauern“ bedeute. Das Zaudern verlangsamt den Fluss der Zeit.

Unbeachtete Ausnahme

In einer Welt, die Entschlusskraft und zielgerichtetes Handeln als Maß aller Dinge definiert hat, stellt der Zaudernde die unbeachtete Ausnahme dar. Dass ihm etwas Komisches anhaftet, ist nicht der nächstliegende Gedanke. Wir lachen aber, als die Tänzer beginnen, sich im großen, leeren Saal der Sophiensaele zu bewegen. Ausgelöst wird das Lachen durch unterlaufene Erwartungen.

Im Tanztheater bewundern wir die Tänzer, diese muskulösen Bewegungskünstler, deren außergewöhnliche Körperspannung uns Normalsterblichen vorzuführen pflegt, wie unzureichend unsere Physis ist. Dagegen hier: Ein Mann (Rémy Héritier) erscheint von irgendwo, in Gymnastikhose und T-Shirt. Unschlüssig probiert er Bewegungen, guckt, was er mit den Armen machen könnte, rollt scheinbar kraftlos auf den Boden ab, tänzelt durch den Raum wie in Gedanken versunken, mit Bewegungen, die nicht ungeformt sind, denen aber jede selbstbewusste Energie fehlt. Was für ein Schlaffi!

Unkoordinierte Choreografie

Das ist komisch, aber nicht nur, sondern schon zu Beginn auf seltsame, unvertraute Art verheißungsvoll. Als der zweite Tänzer (Joris Camelin) erscheint, der trotz seines kraftstrotzenden Körpers ebenfalls nicht zu wissen scheint, was er damit anfangen könnte, hält das Gefühl der Heiterkeit an. Wie zwei ungeübte Verkehrspolizisten oder Flaggenmaate in Ausbildung erproben die Männer eine unkoordinierte Choreografie vielfältiger Arm- und Beinbewegungen.

Getanztes Zaudern ist ein sehr zarter Vorgang, bei dem man sehr lange keine Musik braucht und das Publikum mucksmäuschenstill bleibt. Und wenn der Abend irgendwann zu seinem Ende kommt, lacht man lange nicht mehr. Eine ebenso sachte Entwicklung wird ihren Gang genommen haben, zu der irgendwann ein bisschen Geschichtenerzählen und Klaviermusik dazugekommen sind und an deren Ende das zauderhafte Signalement mit Armen und Beinen zu einer Art zauberhaftem Pas de deux geworden ist. Solche Dinge können passieren, noch während man zaudert.

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