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Post-Finanzcrash Meisterhaft beschreibt Gene Kerrigans „Wut“ ein Dublin nach dem Finanzcrash
Ausgabe 47/2014
Alle Bilder dieses Spezials stammen aus der Fotoserie „Vele“ von Tobias Zielony*
Alle Bilder dieses Spezials stammen aus der Fotoserie „Vele“ von Tobias Zielony*

Foto: Tobias Zielony

Dass bald der passende Krimi zur Wirklichkeit erscheint, im Klima der Wutbürger und der Empört-euch-Schriften, war zu erwarten. Der Krimi heißt Die Wut. Mit einem tagesaktuellen Titel holt der Krimi in Topform der Trivialliteratur das Publikum aus seinem Alltag ab. Und dagegen ist überhaupt nichts einzuwenden. Aber: Hält sich der Krimi auch an die übrigen Regeln? Also: Gibt es gute Figuren? Einen Ermittler, dem man auf Augenhöhe folgen kann? Eine süffige Sprache und eine vernünftige Auflösung? Pardon hierfür: Checken wir’s out!

Der Fall zweier Rowdys wird vor Gericht verhandelt, Detective Bob Tidey zur Aussage hinzugerufen. Juristische Prozesse und ihre Abläufe kennt er in- und auswendig wie auch die kriminelle Welt seiner Stadt Dublin. Hier sieht er nun keinen Sinn, sich in eine Lappalie hineinziehen zu lassen. Obwohl er nachweislich gesehen hat, wie unverhältnismäßig Schlagstöcke gegen die Randalierer geschwungen wurden. Eine private Aufzeichnung durch ein mobiles phone von „nur ein paar Sekunden“ beim Verzehr seines Sandwiches im Pub des Geschehens liegt vor. Aussagen will er trotzdem nicht. Zivilcourage heißt für den Profi: peanuts.

Aber dann ist es nicht nur eine eskalierte Schlägerei dümmlicher Polizisten mit großmauliger Jugend, die verhandelt wird. Dann kommen ein Überfall auf ein Schuhgeschäft und einen Geldtransporter dazu, potenzielle Bombenleger, jugendliche Tote mit Nadeln im Arm, weltweite Geldgeschäfte und vieles mehr. Kurze, rasche Kapitel verbinden den Plot Seite für Seite zu einem gesamtkriminellen Panorama einer Welt nach dem Finanzcrash. Alle haben alles verloren. Alle rappeln sich mit mehr oder weniger krummen Geschäften mühsam wieder auf oder bleiben auf der Strecke. Das ist spannend bis zum Schluss.

Ja, es gibt gut gezeichnete Figuren, es werden immer mehr, und sie werden immer bunter – von Vincent Naylor und seinem Bruder, die ein Ding nach dem anderen durchziehen, Messer und Waffe griffbereit, bis Maura Coady, die zwischen zwei Teetassen geduldig an ihrem Fenster beobachtet, was auf der Straße vor sich geht.

Ja, der Ermittler Bob ist weder sympathisch noch unsympathisch, aber man versteht, was er tut und was er bleiben lässt: „Es lag ihm nichts daran, seine Karriere auf dem Altar der Gerechtigkeit für zwei besoffene Deppen zu opfern.“ Ja, die Sprache ist ohne Stolpersteine, knappe Dialoge, klare Gedanken, die Introspektion kursiv markiert, die Leserin im flotten Perspektivwechsel immer überall dabei. Die Fäkalsprache der Wichser, Schlampen und Schmierfinken – Letztgenanntes meint die Sensationspresse – passt sich elegant in den Lesefluss ein, ohne einen penetranten hard-boiled-Jargon zu fahren.

Denn trotz sprachlicher Vulgarismen gehört Die Wut nicht zu diesem Genre. Die Fronten der Guten und der Bösen sind nicht verhärtet. Jeder redet mit jedem, Kleinkriminelle mit Polizisten, Warlords im Straßenkrieg setzen sich auf ein Glas ohne ihre Gangs zusammen und besprechen die Lage. Im Gericht kommen Urteile durch eine wort- und gestengenaue Kommunikation von Richtern und Zeugen zustande und stiften Gerechtigkeit.

Es fällt beim Lesen kaum auf, dass es sich um eine Übersetzung handelt. Das liegt am Setting, einer Stadt nach dem Crash, wie an der Übersetzerin Antje Maria Griesinger. The Rage – so lautet der Originaltitel – könnte ebenso in Berlin, London oder Prag spielen. Alles Orte, an denen Emmet Sweetman sein Immobilienimperium aufbaute, bevor er auf seiner Türschwelle erschossen wird.

Resultat: Wieder was gelernt. Wer Verbrechen verstehen will, muss in die Gerichte gehen und Sprachen üben.

*Vele - Am Ort des Verbrechens

Tobias Zielony studierte im englischen Newport Dokumentarfotografie, als ihm die Idee kam, Jugendliche in Jogginganzügen aufzunehmen. „Damals, 1999, hatte ich das Gefühl, alle jungen Leute tragen diese Kleidung“, erzählt Zielony. Beim „Guardian“ fragte man: „Was ist jetzt die Geschichte?“ Und Zielony antwortete: „Na, die Jungs, die da rumhängen, nichts zu tun haben und Jogginganzüge tragen.“ Meint: Tobias Zielony ist kein Künstler, der seine Bilder auf eine stereotype Erzählung reduzieren will, auf Arbeitslosigkeit, Gewalt, das Übliche.

Über „Schrumpfende Städte“ (2004) sagt er, er habe für das Projekt in Halle/Saale fotografiert, ohne etwas von den Problemen zu wissen: Zielony findet es spannend, dass man eigentlich nie genau weiß, wo die Bilder aufgenommen wurden. Unser Krimi-Spezial illustrieren Fotografien aus Tobias Zielonys Buch „Vele“ (Spector Books 2014, 576 Seiten, 40 €) über Vele di Scampia, eine Wohnsiedlung im Norden von Neapel. In den 80er Jahren Schauplatz des Camorrakriegs, gehört der Gebäudekomplex heute zu den größten Drogenumschlagplätzen Europas und symbolisiert die Macht der Mafia in der Region.

Die Romanistin Eva Erdmann lehrt Literaturwissenschaft an der Universität Freiburg

Die Wut Gene Kerrigan Antje Maria Griesinger (Übers.), Polar 2014, 315 S., 14,9o €

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