WEDDINGER VORFAHRT

Ein Fahrradfahrer rammt (in voller Absicht) einen kurz vor ihm abbiegenden Personenkraftwagen und beschimpft aufs Übelste die beinah noch jugendliche ...

Ein Fahrradfahrer rammt (in voller Absicht) einen kurz vor ihm abbiegenden Personenkraftwagen und beschimpft aufs Übelste die beinah noch jugendliche Fahrerin. Frauen sind die besseren Autofahrerinnen; das wussten wir. Was jedoch nicht hinreichend bekannt ist, zumindest bisher: Die Weddinger Vorfahrt. Abends üben militante Veloisten rund um den Gesundbrunnen die Weddinger Vorfahrt. Als Kinder fragten wir uns: Heißt es nun der Rote Wedding oder das Rote Wedding? Heute gehe ich mit einem Freund alle vierzehn Tage durch die famosen Geschäfte der Badstraße und kaufe gewöhnlich einen riesigen Bund Petersilie; der groß wie ein Blumenstrauß ist, wie man ihn sich zu Hochzeitstagen schenkt; für vierzig Cent; um ihn dann in die Küche zu stellen und zu beobachten, wie sich seine Farbe im Laufe der nächsten Tage zunehmend ändert. Ich mag das beginnende Gelb und auch ein erstes Braun. Dass Petersilie angeblich gut für die Augen sein soll, halte ich für eine Übertreibung.

Als Ernst Busch und ich noch um die Häuser zogen, gab es einen Wedding: rot und voller Proletarier. Gegen Mitternacht fielen wir jedes Mal in die Seekiste und sangen die Lieder unserer Zwanziger: WIR SIND NICHT BESIEGT VON FRANZÖSISCHEN FLINTEN. DIE HEIMAT HAT UNS ERDOLCHT: VON HINTEN! Ob die französischen Flinten eine Anspielung auf, so wie es in unserer Jugend hieß, verlotterte Frauenzimmer sind, weiß ich nicht mehr genau. Jedenfalls war die Sache klar, für uns und den Wedding: NUR NICH DRÄNGELN, ZU DIE ENGELN KOMMSTE NOCH ZUR ZEIT.

Ich frage die Tochter eines türkischen Fischverkäufers, wonach der Fisch mit Namen Merlan denn schmecke. Da sie es nicht weiß, ruft sie ihren Vater, der auf meine Frage, erst ungläubig schaut und dann verkündet: "Merlan schmeckt nach Huhn."

Die Behauptung, dass es winters im Wedding bereits mittags so dunkel ist, dass man automatisch gegen Laternen und Häuserwände laufe, ohne etwas dagegen machen zu können, halte ich grundsätzlich für vollkommen überzogen. Doch, was sich durchsetzen wird: die Weddinger Vorfahrt! Nicht dass es uns an Rücksichtslosigkeit fehle. Ich kannte einen Professor für Germanistik vom Hörensagen, der auf Bahnhöfen die Elektrokarren kreischen hörte wie läufige Katzen. Ich selbst vermag das nicht. Ferner glaube ich auch an den kommenden Tag, im Gegensatz zu dem Obengenannten, der zu Protokoll gab: "Wie soll ich mich für das Leid der Aborigines interessieren, wenn ich doch kaum weiß, ob ich den morgigen Tag erlebe." Frage: Was kann der einfache Mann tun angesichts der Bedrohung auf Weddings Straßen? Hilfreich wäre ein Abschnittsbevollmächtigter, das Tiefbauamt, Abteilung Straßenunterhaltung bzw. eine richtige sozialistische Tageszeitung. Aber anstatt sich für die Arbeitersache zu organisieren, dudelt den ganzen Tag das Radio im Bauwagen.

Im Discountmarkt SUPER 2000 sehe ich, wie mehrere Rentner sich mit ihren Einkaufswagen beharken und auf dem Weg zur Kasse gegenseitig rechts überholen.

Während der Weddiner Vorfahrt: Ein umsichtiger Busfahrer verweigert einem Mann, der seinem überdurchschnittlich gut gewachsenen Rottweiler vergessen hat, einen Maulkorb anzulegen, den Zutritt zum öffentlichen Verkehrsmittel. Nach kurzem Streit, der in den Worten gipfelt, ausgerufen von jenem Mann ins Gesicht des Busfahrers: "Du elender Wichser, ich schlag dir die Fresse ein!" Daraufhin versucht der Mann mit seinem Regenschirm um sich zu schlagen, was ihm aufgrund von Schwierigkeiten in der Feinmotorik nur zum Teil gelingen will bzw. am Ende ganz misslingt, da er keine Treffer am Körper des Busfahrers anbringen kann. KEENE MOLLE SCHMEISST DER OLLE, WENN ER DIR SO SIEHT ... Wenn mein alter Ernst sehen würde, wie es um seinen Wedding bestellt ist! Ich glaube, ihm würde die Stimme brechen. Mensch, sag ick, mir kommen die Knie schon am Kopp raus, wenn ick nur daran denke. Aber die Weddinger Vorfahrt wird weiter geübt! Niemand will sie gesehen haben außer mir; ich frage Passanten und rufe ein Sorgentelefon an. Doch die Stimme am anderen Ende streitet alles ab. Ich hätte Kekse gegessen und Pilze und würde halluzinieren. Dabei kaue ich den ganzen Tag nur Knoblauchdragees und versuche mir das Ganze aus dem Kopf zu schlagen: Dass es im Wedding gar keine Vorfahrt gibt, sondern nur Massen von Arbeitern, die vor einer Dönerbude mit Efes und Jägermeister den Aufstand proben, jedenfalls etwas mit großer Lautstärke und lebensfrohen Gesichtern.

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