Freitag: Was verstehen Sie unter Vatersehnsucht und wodurch wird sie Ihrer Ansicht nach ausgelöst?
Die Sehnsucht nach dem Vater entsteht aus der Erfahrung von Hilflosigkeit gegenüber der Güte der Mutter und der Abhängigkeit ihr gegenüber. Je mehr sich die Mutter dem Kind zuwendet, umso bedrohlicher wird sie erlebt. Wenn sie mir viel geben kann, kann sie mir auch viel vorenthalten. Und wenn der Vater in der Erziehung "abwesend" ist, übernimmt sie erfahrungsgemäß, was er vernachlässigt. Durch die familiäre Arbeitsteilung, wie wir sie seit mehr als 150 Jahren kennen, steht sie im Zentrum; sie ist immer die Ansprechpartnerin, konkret und vielleicht sogar symbolisch. Das hat zu einer Aufladung der psychischen Beziehung zwischen Mutter und Kind geführt. Die Mutter ist in unserer Gesellschaft idealisiert. Der Vater verblasst.
Wieso reicht nicht eine Bezugsperson aus?
Bei Alleinerziehenden können die Kinder die Ambivalenz, die Mutter als großartig zu lieben und als versagende Instanz zu fürchten, nur schwer zusammenbringen. Sie können nicht Vernichtungsfantasien - jedes "Geh weg!" bedeutet "Du bist tot." - folgen, wenn die Mutter alle Zuverlässigkeit allein verkörpert. Die aggressiven Wünsche des Kindes können jedoch fantasiert und erlebt werden, wenn der Vater da ist und er außerdem die Ausübung der aggressiven Fantasien verhindern hilft.
Das überzeugt formal. Wie kann aber ein Kind, das nie die Erfahrung einer funktionierenden Elternschaft gemacht hat, etwas als Verlust empfinden, was es gar nicht kennt?
Noch ist die Vatersehnsucht bei vielen die Beschreibung eines weitgehend unbewussten Gefühls. Viele, die daraufhin angesprochen werden, sagen, ich spüre das nicht. Man muss sorgsam fragen, um dahinter zu kommen, welche Enttäuschung über einen Vater wirklich herrscht, der als zu wenig anwesend, zu nachgiebig erinnert wird. Dieses Gefühl ist besonders tief eingegraben, weil in den vergangenen 20, 25 Jahren kaum jemand gewagt hat, irgend etwas Positives über die Rolle des Vaters zu sagen. Im Alltag nicht und nicht in der Wissenschaft. Von der Frauenbewegung wurde festgelegt, dass die Männer an allem Schuld seien.
Aber das ist doch nur eine Kampfformel, so vergröbernd, dass man oder frau sich der Lächerlichkeit preisgäbe, sie ernsthaft behaupten zu wollen...
Man muss zwischen dem, was die Deutungselite über das Geschlechterverhältnis gesagt hat und dem, was sich als allgemeines Verständnis von Männlichkeit und Weiblichkeit durchgesetzt hat, sicher unterscheiden. Wir haben heute eine Gesellschaft, die sich in weiten Teilen am liebsten nur noch in Täter und Opfer aufteilen möchte. Es konkurriert jeder damit, in die Genussrolle des Opfers zu gelangen. Die Frauenbewegung hat diesen Diskurs gestrickt und die Männer haben ihn so laufen lassen. Beide haben das gemeinsam zu verantworten
Ist diese Analyse nicht zu pauschalisierend? Schließlich setzt sich zunehmend die Erkenntnis durch, dass Frauen in bestimmten Konstellationen auch Täterinnen sein können...
Das Opfer-Täter-Schema kann die Beziehungen der Geschlechter zueinander nicht beschreiben. Die Geschichte wird von Männern und Frauen schließlich gemeinsam gemacht. Beide haben ihre je eigene Art, Macht auszuüben. Allerdings trifft es zu, dass viele Männer die Opfer-Täter-Spaltung der Gesellschaft mitgetragen haben. Wahrscheinlich wollten sie sich damit ihre fantasierte Allmacht erhalten.
Ist die Rolle des Vaters überhaupt noch von Belang? Ich denke da an Alleinerziehende, an Patchworkfamilien, gleichgeschlechtliche Partnerschaften, in denen "Vatersein" so großen Veränderungen unterliegt, dass es fast verschwunden ist?
Dieses Bild ist zu pauschal. In den meisten Familien erscheint der Vater als Versorger. Das ist noch immer das Idealbild. 80 Prozent der Deutschen sind nach jüngeren Studien der Auffassung, dass die Position der Frau im Hause sei. Das legt auch den Mann fest. Das zeigt, wie wenig es in die Tiefenstrukturen vorgedrungen ist, zu sagen, eigentlich gehört der Mann so sehr in die Familie wie die Frau auch ins Berufsleben. Die Debatten werden nur in einer hauchdünnen Schicht geführt - was nicht heißt, dass diese hauchdünne Schicht keine Veränderungen auslösen kann. Umfragen zeigen verstärkt den Wunsch nach einer Veränderung der herkömmlichen Arbeitsteilung. Die Männer wurden immer fortschrittlicher; sie sagten, ja, wir wollen - während die Frauen konstatierten: nein, da hat sich nichts geändert. Viele junge Frauen entscheiden sich gegen den Beruf als sinnstiftende Tätigkeit. Sie verdienen zum unzureichenden Partnergehalt lediglich dazu. Damit entscheiden sie sich gegen eine zweifache Identität, in der Mutterschaft und Berufstätigkeit gleich wichtig sind. Ähnlich verbreitet ist die Neigung von jungen Männern, die Rolle des Ernährers zu übernehmen.
Handelt es sich tatsächlich um eine Entscheidung?
Ich würde sagen, die Freiheit zu entscheiden nehmen sich die jungen Leute nicht. Sie folgen dem inneren Zwang und der äußeren Tradition, das - mit Nachteilen überlieferte - Bewährte anzuerkennen und nachzuvollziehen. Sehr viele Entscheidungen gegen die Schwangerschaft folgen diesem Modell. Eine Frau mit Berufsinteresse entscheidet sich gegen das Kind. In unserer Kultur sind wir noch nicht soweit, das Leben in Familien- und Berufsphasen zu unterteilen. Die ökonomische Komponente, dass Frauen arbeiten, weil sie finanziell unabhängig sein wollen und auch als Arbeitskräfte gebraucht werden, ist nicht entscheidend. Entscheidend ist, das Sinnstiftende im Berufsleben für sich zu reklamieren. Frauen betonen nicht eindeutig genug, auch gegenüber ihren Männern nicht, dass Berufstätigkeit für sie ein sinnstiftender Teil von Lebensqualität sein soll.
Ist Väterlichkeit an den biologischen Vater gebunden?
Der Vater ist an den Mann, die Mutter an die Frau gebunden. Väterlichkeit ist etwas anderes. Ein Lehrer kann väterlich, mütterlich oder beides sein. Eine Lehrerin kann väterlich sein. Das ist übertragbar. Wichtig ist hingegen, dass Vater und Mutter in einer besonderen Spannung als Mann und Frau zueinander stehen: nämlich als Eltern, die auch Sexualpartner sind. Es ist dies das Modell eines besonders strukturierten Erlebnisses, das ein Onkel, eine gute Freundin oder guter Freund der Mutter nicht erfüllen kann.
Gleichgeschlechtliche Partnerschaften erfüllen doch aber dieses Modell? Sie können sowohl Eltern als auch Sexualpartner sein.
Das Problem ist, dass die psychosexuelle Spannung zwischen Mann und Frau eine ganz andere ist als die zwischen gleichgeschlechtlichen Partnern. Für Kinder ist es wichtig, die sexuelle Spannung als eine polarisierte zu erleben. Jüngere Studien aus den USA berichten von gestörten Kindern aus lesbischen Beziehungen. Das ist ein ganz komplexer Bereich! Wir tun heute Vieles, dessen Folgen wir nicht absehen können. Insofern sind wir mit den menschlichen Beziehungen nicht weniger nachlässig als mit denen zur Natur.
Mich hat überrascht, dass Sie einen der zentralen Kritikpunkte der patriarchalen Gesellschaft - die mangelnde Ausbildung von Empathie - nun bei den alleinerziehenden Müttern verorten. Männer sind auf einmal notwendig zur Ausbildung von Empathie. Wie das?
Dazu sind immer beide Eltern notwendig. Ich habe beim Schreiben allerdings gemerkt, das ist ein politisch und emotional hoch brisanter Aspekt. Manche Autorinnen empfehlen nämlich, die Kinder bis zum elften Lebensjahr allein bei der Mutter zu lassen und erst dann den Vater hinzutreten zu lassen. Der könnte dann, so diese These, nichts mehr kaputtmachen. Das hat viel mit Politik, wenn nicht sogar Männerfeindlichkeit, aber nichts mit Kindswohl zu tun. Um dieses aber geht es, nur darum!
Warum ist Empathie individuell und gesellschaftlich so kostbar?
Empathie ist die großartige Fähigkeit, sich in die Lage des anderen zu versetzen, darüber nachzudenken, was der andere fühlen könnte, was ihm Freude macht oder ihn verletzt. Es ist die Grundlage der emotional verstehenden Kommunikation zwischen Menschen. Wenn ich mit der Mutter oder dem Vater allein lebe, kann das sehr schwierig werden. Das Einfühlungsvermögen ist dem elterlichen Modell nachgebildet und wird dort erstmals erlebt. Andere Personen sind zweifellos wichtig, aber sie kommen erst in zweiter Linie für die Kinder in Betracht.
Sie stellen eine besondere Mutter-Sohn-Beziehung als problematisch heraus.
Es ist die des geheimen Vertrauten, auf die wir in unserer Befragung von 1.000 Müttern und 480 Söhnen gestoßen sind. Hier wird der Sohn von der Mutter zum Partner erhoben und der Vater lässt es geschehen. Das schmeichelt dem Sohn, aber gleichzeitig wird er psychisch überfordert. So haben das die befragten Söhne größtenteils auch erlebt. Das ist eine unangemessene Beziehung, von der es nur ein kleiner Schritt zur inzestuösen Dynamik ist. Es gibt mehr zwischen Mutter und Sohn, als wir gemeinhin annehmen. Dabei ist die Hinwendung der Mutter zum Sohn mit einer Idealisierung und mit einer Entwertung verbunden. Der Sohn soll besser sein als der unbefriedigende Ehemann. Er wird jedoch schnell wieder fallengelassen, wenn die Mutter einen neuen Partner hat oder die Beziehung zum Vater sich bessert..
Sie werfen den Begriff der Vatersehnsucht nicht in die Debatte, um die bisherige Veränderung des Geschlechterverhältnisses wieder rückgängig machen zu wollen. Wie sähe eine emanzipatorisch ausgewogene Elterlichkeit aus?
Wir haben Eltern, aber noch keine Elterlichkeit. Vater und Mutter entscheiden nicht gemeinsam, sondern arbeitsteilig. Sie sind nicht gemeinsam Eltern, sie hat ihre Rolle, er seine. Die Arbeitsteilung in der Familie hat sich bewährt um den Preis, dass jeder nur auf seine Weise Bescheid weiß und Verantwortung übernimmt. Wichtig ist, dass nicht jeder nur seine eigene Beziehung zu den Kindern hat, sondern beide auch einen gemeinsamen - eben eine elterlichen.
Ist das frei aushandelbar?
Ich denke, das wird erst in dem Maße passieren, in dem Frauen sich nach außen wenden und Männer sich bei der Identitätsbildung hin zur Familie orientieren. Beide müssen sich ändern. Für beide muss hinzutreten, was dem jeweils anderen bei der bisherigen Arbeitsteilung allein vertraut ist.
Was zeichnet Elterlichkeit aus?
Sie wird zunehmend darin bestehen, mit den Kindern gegen die Zugriffe der Warenwelt eine eigene Sphäre des Familiären und Psychischen hervorzubringen; Kinder sollten in ihren Regungen nicht nur die Wiedergabe von Videospielen sein, sondern ein eigenes psychisches Leben haben.
Das läuft auf eine Kultur des Verzichts und der Entsagung hinaus?
Ja. In meiner Kindheit wurde Verzicht zur Tugend erhoben, weil man es nicht haben konnte. Jetzt braucht man sie, weil man viele Dinge haben könnte, aber im Interesse eines reichen Erlebnisraumes auf sie verzichten sollte. Fantasie ist eine Fähigkeit, die aus dem Verzicht entsteht, nie jedoch aus dem Überfluß. Für viele Eltern ist das ein harter Schritt. Sie müssen Kriterien dafür in einer Welt der Reizüberschwemmung erst wieder entwickeln.
Das Gespräch führte Tom Mustroph
Gerhard Amendt, Vater von drei Kindern, ist Psychologe und Geschlechterforscher am Institut für Geschlechter- und Generationenforschung. Sein Buch: Vatersehnsucht. Annäherung in elf Essays erschien gerade an der Universität Bremen, Institut für Geschlechter- und Generationenforschung, 310 S., 50,- DM.
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