Berliner Abende Die Moskauer Winter sind lang und kalt, die Sommer dagegen kurz und heiß. Trotzdem habe ich dort noch nie jemand getroffen, der auf die Kälte ...
Die Moskauer Winter sind lang und kalt, die Sommer dagegen kurz und heiß. Trotzdem habe ich dort noch nie jemand getroffen, der auf die Kälte geschimpft hätte. Steigen die Temperaturen dagegen auf über 25 Grad, hebt die einheimische Bevölkerung zum großen Klagelied an, das bei 30 Grad hysterische Untertöne annimmt und bei über 33 Grad in ein gestöhntes Stakkato übergeht, das anzeigt, dass man die Stadt für nicht mehr bewohnbar hält. Sämtliche Gespräche werden auf nur leicht variierte Zweiwortsätze eingeschränkt: Welche Hitze! Diese Hitze! Verdammte Hitze! Hitze, verdammte! Rausfahren zum Baden, hat darum Murad vorgeschlagen. Da er zwar einen Führerschein besitzt, aber nicht Auto fahren kann, hat er seinen
seinen Bruder Ajas als Fahrer engagiert. Ajas ist nicht wirklich der Bruder, kommt aber genauso wie Murad aus dem Kaukasus und da wird auf den Unterschied zwischen Brüdern, Vettern, Schwagern und anderen Bekannten nicht viel Wert gelegt. Hauptsache, man ergänzt sich gut. Ajas nämlich kann zwar Autofahren, besitzt aber keinen Führerschein, wie er mir freundlich mitteilt - wir sind nämlich noch keine 200 Meter gefahren, als wir von einem Verkehrspolizisten angehalten werden. Nun ist es leider so, dass bis auf wenige Beamte in Spitzenposition alle Staatsdiener, und darunter insbesondere die Verkehrspolizisten, in diesem Land so schlecht bezahlt werden, dass sie gezwungen sind, sich das nötige Zubrot durch Wegelagerei zu verdienen. Immerhin ist der Staat so freundlich, sie dabei zu unterstützen, indem er ihnen Uniformen leiht. Auch die Moskauer Straßenverkehrsführung scheint mir ganz das Ergebnis dieser letztlich ja verständlichen Interessen zu sein: An vielen Stellen kann man gar nicht anders, als falsch zu fahren. Wie in unserem Fall, wo eine unübersichtliche Kreuzung mit zahlreichen Sonderampeln ausgestattet wurde, die dazu herausfordern, Striche zu überfahren, die man natürlich auf keinen Fall überfahren darf. Sofort tritt also der Uniformierte, der an dieser Stelle seinen Familienunterhalt verdient, hinter dem kleinen Gebüsch hervor, das sehr wahrscheinlich vom städtischen Gartenbauamt eigens dafür angelegt wurde, ihn für die Autofahrer unsichtbar zu halten und ihm gleichzeitig ein wenig Schutz vor Wind und Wetter zu gewähren. Da delikate Verhandlungen anstehen - schließlich bewegen wir uns hier auf einem Wirtschaftsfeld, auf dem keine Rechtsansprüche durchgesetzt werden können, sondern nur das gesprochene Wort gilt - weist er Ajas streng an, am anderen Ende der Kreuzung rechts ranzufahren. Murad packt schon mal seinen Geldbeutel aus. "Reicht ein Zwanziger oder müssen wir ihm einen Fuffziger geben?", fragt er. Dafür, dass Ajas keinen Führerschein hat - und, wie ich in diesem Moment erfahre, auch sonst keine Fahrzeugpapiere, dazu noch als "Kaukasier" einer in Moskau wirklich unbeliebten Minderheit angehört und außerdem weder Murad noch er über eine gültige Aufenthaltsgenehmigung verfügen, weil die nämlich in dieser Stadt auch nur käuflich zu erwerben ist - kurzum, für diese Häufung an schlechten Voraussetzungen im Verhandlungsspiel scheint mir ein "Fuffziger" lächerlich wenig zu sein. Ajas erhascht im Rückspiegel meinen skeptischen Blick und lacht sein Goldzahn-bewehrtes Lachen, dessen Großzügigkeit mich bis dahin immer beeindruckt hat, mir nun aber ganz und gar unangebracht erscheint. "Ich habe etwas viel besseres als Fahrzeugpapiere!" versucht er mich zu trösten. Mit einem Griff, der große Routine verrät, zieht er aus dem vollgestopften Handschuhfach einen anderen Ausweis, den er mir triumphierend unter die Nase hält. Darauf wird bestätigt, dass Ajas Kinderarzt ist. Wovon er allerdings genauso wenig leben kann wie der Verkehrspolizist von seinem Salär, weshalb Ajas nebenher mehrere Kioske auf diversen Märkten dieser Stadt unterhält: Die befinden sich, wie man so sagt und wie der äußere Anschein bestätigt, fest in der Hand jener Minderheit, der er angehört, was manche zu den Gründen zählen, weshalb sie sich keiner so großen Beliebtheit erfreut. "Gib mir besser den Fuffziger," höre ich ihn aber doch zu Murad sagen, kurz bevor er aussteigt, um sich mit dem Milizionär auf der kleinen Verkehrinsel zu treffen, die die achtspurige Straße hier aufteilt. Ich wundere mich. "Da kann ihnen keiner zuhören", erklärt mir Murad lachend. Voll Sorge beobachte ich aus dem Auto heraus die beiden Männer, die sich anscheinend rein freundschaftlich unterhalten. Zum Abschied schütteln sie sich ganz besonders herzlich die Hände. Ajas steigt wieder ein und fährt grüßend davon. Mir erzählt er triumphierend, dass der Milizionär nächsten Freitag mit seinem asthmakranken Sohn bei ihm in der Klinik vorbeikommt. Zu Murad sagt er schnell: "Aber den Fuffziger hat er trotzdem genommen, der Schuft."
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