Wohin geht das Gesundheitssystem Vor dem Wahlkampf redet keiner von Systemwechsel, doch der von Horst Seehofer (CSU) eingeleitete Paradigmenwechsel prägt auch die sozialdemokratische Gesundheitspolitik
Vergangene Woche stellte Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) eine weitere "kleine" Reform im Gesundheitswesen vor: Die Erhöhung der Versicherungspflichtgrenze soll den Kassenwechsel erschweren und die "Risikoselektion" eindämmen. Kapital- und andere Nebeneinkünfte bleiben auch künftig versicherungsfrei. Ein "Zentrum für Qualität in der Medizin" soll Leitlinien zur Behandlung von Volkskrankheiten entwickeln und den Standesvertretungen Konkurrenz machen. Das Festhalten am Solidarprinzip brachte der Gesundheitsministerin sogar die Zustimmung von Seiten der Bündnisgrünen und der PDS ein.
In der Gesundheitspolitik wird entschieden, welchen gesellschaftlichen Stellenwert Gesundheitsförderung und Krankheitsbekämpfung haben, welche Ressourcen a
lche Ressourcen aufgewendet und wie Belastungen sowie Nutzen verteilt werden. Insofern wird in der Gesundheitspolitik um die Verteilung von Macht und Ressourcen gerungen. Das Gesundheitssystem ist so komplex und intransparent, dass sich Ursachen für Defizite nur selten isolieren, Schuldige kaum identifizieren und Schuldzuweisungen leicht verschieben lassen. Eine sensibilisierte Öffentlichkeit ist von gut organisierten Interessenverbänden und über die Medien verbreitete Einzelfall-Schicksale leichter zu beeinflussen als durch komplexe Informationen. Insofern ist es für Gesundheitspolitiker schwer, in der hochgradig vermachteten Verbandslandschaft strukturelle Reformen durchzusetzen, ohne Schaden zu nehmen.Solidarprinzip als Ideal und der gesundheitspolitische ParadigmenwechselEin auf Solidarität verpflichtetes Gesundheitssystem müsste im Idealfall darauf verpflichtet werden, Gesundheit zu fördern und Krankheit frühzeitig zu erkennen und zu behandeln. Dies setzte voraus, dass Bedarf und Kapazitäten in Balance sind und alle gleichermaßen Zugang zu den erforderlichen Leistungen haben. Die Versicherten wären auf ihrem Weg durch das Gesundheitssystem zu unterstützen von Fachkräften, die ihrerseits unter akzeptablen Bedingungen arbeiten und zu einer effizienten Versorgung beitragen. Das Herzstück des Solidarprinzips liegt in einer medizinischen Versorgung, die bedarfsbezogen und unabhängig von der Leistungskraft der einzelnen versicherten Mitglieder erfolgt.Dieses Idealbild, aber insbesondere das Solidaritätsprinzip wurde unter Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer (CSU) in Frage gestellt. In der Schlussphase seiner Amtszeit vertrat er die Auffassung, die Rationalisierungsreserven in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) seien ausgeschöpft und es müssten mehr finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt werden - nicht zuletzt, um das Gesundheitswesen als Wirtschafts- und Beschäftigungsfaktor nutzen zu können. Statt der paritätischen Aufteilung der Gesundheitsbeiträge auf Arbeitnehmer und Arbeitgeber sollten die Patienten stärker belastet werden. Durch die Einführung von Wahlleistungen und Selbstbehalte, die sich nach dem Umfang des Versicherungsschutzes richteten und finanzielle Anreize boten, sollte der Wettbewerb zwischen Krankenversicherungen und Leistungserbringern gefördert werden.Die damit einhergehende Aufspaltung des gesetzlichen Leistungskataloges und die Umverteilung finanzieller Belastungen sahen sich frühzeitig Kritik ausgesetzt. Es zeichnete sich ab, dass sich die Versorgung zunehmend an den Präferenzen der zahlungskräftigen und -willigen "Kundschaft" ausrichten und den allgemeinen Zugang zu medizinischer Versorgung erschweren würde. Eine am Versorgungsbedarf ausgerichtete Ressourcenverteilung und effiziente Mittelverwendung, so die Einwände, seien auf diesem Wege nicht zu fördern.Prävention und RessourcenoptimierungSeit dem Regierungswechsel 1998 fallen die Defizite eines nur auf Wettbewerb gründenden Gesundheitssystems wieder stärker in den Blick und motivieren gesundheitspolitische Reformen. Insbesondere wurde reklamiert, dass die Gesundheitsförderung und Prävention gegenüber der kurativen Medizin einen zu geringen Stellenwert einnehme. Als qualitätsmindernd wird die nebeneinander existierende Unter-, Über- und Fehlversorgung erkannt, die einen optimalen Ressourceneinsatz erschwerten. Darüber hinaus ist die fragmentierte Versorgung wenig geeignet, Patienten durch den Gesundheitsdschungel zu begleiten.Seit ihrem Antritt hat die rot-grüne Regierungskoalition unter den Bundesgesundheitsministerinnen Fischer und Schmidt mit mehreren Reformen versucht, diese Defizite ansatzweise zu überwinden. Mit ihrem Ziel, die Beitragssätze in der gesetzlichen Krankenversicherung und damit die Lohnkosten zu stabilisieren, den Wettbewerb im Gesundheitswesen zu fördern und über ökonomische Anreize zu steuern, knüpften sie zwar an die Gesundheitspolitik unter Bundesgesundheitsminister Seehofer an, doch propagierten sie die Reformen unter einem neuen Leitbild.Wer steuert und wer kontrolliert?Statt zusätzlicher finanzieller Belastungen und ökonomischen Anreizen bekräftigten die Ministerinnen ihr Bekenntnis zu einem einheitlichen Leistungskatalog und zum Solidaritätsprinzip. Vielmehr sollten Krankenkassen und Leistungserbringer motiviert werden, die Versorgung insbesondere auch chronisch kranker Patienten zu optimieren und Rationalisierungsreserven auszuschöpfen mit dem Ziel, die Position der Krankenkassen gegenüber Leistungserbringern zu stärken und den Wettbewerb auf der Anbieterseite zu fördern. Ein wichtiges Instrument sind dabei die Ausgleichzahlungen zwischen den Krankenkassen. Weitere Maßnahmen zielen darauf ab, die medizinische Versorgung zu integrieren und die Bereiche Prävention, Gesundheitsförderung und Selbsthilfe zu stärken.Nun birgt aber gerade die Einführung des Wettbewerbs im Gesundheitswesen, das unter anderem die politisch-administrative Steuerung vereinfachen sollte, auch Risiken. Gesundheitspolitische Steuerung setzt - insbesondere unter Wettbewerbsbedingungen - ein Ausmaß an detaillierter Kontrolle und Regulierung voraus, das über den bestehenden ordnungspolitischen Rahmen hinaus geht. Bislang hat der Gesetzgeber auf die Selbstverwaltung gebaut. Doch Konkurrenten, die aufgefordert sind, sich ihre Wettbewerbsregeln selbst geben, sind schlicht überfordert. Zur Zeit sind alle wettbewerbsrelevanten Felder von Konflikten geprägt, die den Umbau von Versorgungsstrukturen eher behindern als fördern.Während Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt an der Selbstverwaltung festhalten will, empfehlen SPD-nahe Wissenschaftler, den Wettbewerbsrahmen alleine durch den Gesetzgeber und neutrale Einrichtungen zu definieren. Der Staat solle sich aus der bürokratischen Steuerung zurückziehen und sich auf Verbraucherschutz und die Qualitätssicherung konzentrieren. Offen bleibt allerdings, wie dies von außen gewährleistet und unerwünschte Entwicklungen verhindert werden sollen. Vorgeschlagen wird, Steuerungsaufgaben an die Krankenkassen zu delegieren, den Kassenärztlichen Vereinigungen den Sicherstellungsauftrag zu entziehen und Krankenkassen die Möglichkeit einzuräumen, mit einzelnen Leistungserbringern Verträge abzuschließen. Doch wer die miteinander konkurrierenden Krankenkassen kontrolliert und wie diese wiederum die Leistungserbringer, bleibt ebenso unklar wie die flächendeckende Sicherstellung der stationären Versorgung.Zugangsprobleme könnten sich auch aus dem Zusammenspiel von Disease-Management-Programmen (DMP, strukturierte Behandlungsprogramme) und dem beabsichtigten Ausbau integrierter Versorgungsstrukturen ergeben. Wenn Krankenkassen über besondere Versorgungsangebote um Versicherte konkurrieren wollen, setzt dies eine gewisse Exklusivität der Versorgungsangebote voraus, die dazu führen kann, dass die Versorgungseinrichtungen selbst exklusiv werden. Für Patienten kann das bedeuten, dass ihre Versicherung eine bestimmte Behandlung in einer nahegelegenen Einrichtung nicht übernimmt und einen Krankenkassenwechsel notwendig macht. Für Krankenkassen und ihre vertraglich eingebundene Leistungserbringer gibt es aber keinen Anreiz, Versicherte oder Patienten über Behandlungsalternativen außerhalb ihres Angebots zu informieren. Der Krankenkassenwettbewerb steht also einer wünschenswerten regionalen Verzahnung von Versorgungsstrukturen und einer umfassenden regionalen Kooperation entgegen.Regel- und Zusatzversorgung: Gefahr für den gesetzlichen LeistungskatalogZu bedenken sind auch mögliche Folgen eines Nebeneinanders von Regelversorgung und DMP. Die Entgelte im Rahmen von DMP sollen den durchschnittlichen Behandlungsaufwand der eingeschriebenen Patienten decken. Die aufgewendeten Mittel werden aus den budgetierten Mitteln für die Regelversorgung herausgerechnet, wobei sich das Budget nicht primär nach dem Behandlungsbedarf errechnet, sondern an der Beitragssatzstabilität orientiert. Zu befürchten ist, dass Ressourcen von der Versorgung akut (und auch chronisch) kranker Patienten in der Regelversorgung zugunsten von Patienten in DMP umgeschichtet werden. "Weich" umgesetzt würde damit die Forderung, "Bagatellerkrankungen" aus dem gesetzlichen Leistungskatalog zu streichen. Dies wiederum erhöhte den Zwang zur privaten Zusatzversicherung und gefährdete das Solidaritätsprinzip.An diesem und der paritätischen Finanzierung soll auf sozialdemokratischer Seite jedoch gerade festgehalten werden. Das schließt allerdings nicht aus, das Solidaritätsprinzip neu zu definieren und zu relativieren. Deutlich wird dies an den Vorschlägen, neben Löhnen und Gehältern auch andere Einkommensarten zu berücksichtigen oder "versicherungsfremde Leistungen" aus dem Bereich der Familienpolitik der Steuerfinanzierung zu überantworten. Auch diesmal handelt es sich um die "weiche" Variante einer ansonsten politisch verworfenen Forderung: den Arbeitgeberanteil an der Finanzierung der Beitragssätze zu reduzieren bzw. festzuschreiben.Hervorgehoben wird schließlich als Anliegen, die Position von Versicherten und Patienten zu stärken und eine am Leitbild des mündigen Bürgers ausgerichtete solidarische Wettbewerbsordnung zu realisieren. Doch die Stellung der Versicherten und Patienten hängt - neben dem individuellen Risiko, das sie für Krankenkassen und Leistungserbringer darstellen - in erheblichem Umfang von Konkurrenzbedingungen, finanziellen Spielräumen sowie Anreizen ab. Budgetierungen und auf Mengenbegrenzung gerichtete Entgeltsysteme mit Fall- und Kopfpauschalen sind keine günstigen Voraussetzungen. Abzuwarten bleiben auch die Auswirkungen evidenzbasierter Richtlinien bzw. von DMP, die entweder zustimmend als "Rückkehr zur Schulmedizin" beurteilt oder als "Industrialisierung der Medizin" beklagt werden. Schon jetzt werden Sanktionsmöglichkeiten gegenüber Patienten, die sich ärztlichen Anordnungen nicht fügen, gefordert.Gesundheitsreform 1993Obgleich vor den Wahlen keine grundsätzlichen Veränderungen mehr zu erwarten sind, bleibt der gesundheitspolitische Handlungsdruck hoch, denn die finanzielle Situation der Kassen ist angespannt. Versuche, Versorgungsstrukturen zu verändern, treffen auf den Widerstand der Verbände, die in den zu reorganisierenden Versorgungsstrukturen verankert sind, auf konkurrente Interessenkonstellationen und einen unter den Bedingungen knapper Mittel scharfen Kampf um den Budgetkuchen. Der gesundheitspolitische Wahlkampf wird über die Leitbilder ausgetragen werden, die unter Seehofer und Fischer/Schmidt dominierten. Aber auch bei einer Fortsetzung der gegenwärtigen Regierungskoalition kann nicht davon ausgegangen werden, das die gegenwärtige Ausrichtung die bereits angekündigte Gesundheitsreform 1993 überlebt. Während Bundesgesundheitsministerin Schmidt betont, sich dem Solidaritätsprinzip verpflichtet zu fühlen, werden in den Reihen von SPD und Bündnis90/Die Grünen auch andere Positionen laut. Die Gesamtausrichtung der rot-grünen (Sozial-)Politik mit ihrem Umbau des "welfare state" zum "workfare state" lässt befürchten, dass nach den Wahlen ähnlich wie in der Gesetzlichen Rentenversicherung auch in der GKV Tabus gebrochen werden. Mit "Sachzwängen" ist dies kaum zu begründen, sondern es verweist auf die veränderten Vorstellungen, wie Menschen künftig miteinander leben und den gesellschaftlichen Reichtum verteilen werden.Kai Michelsen ist Politologe und war bis vor kurzem am Institut für Medizinische Soziologie der Universität Marburg im Bereich Gesundheitsforschung tätig.
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