Der Autor und Verleger Jörg Sundermeier hat sich der Sonnenallee gewidmet, nicht nur jenem filmweltbekannten Schniepel im seinerzeitigen Staatsosten, sondern ihr in ihrer ganzen Pracht und Gesamtheit. Als Sundermeier im neuen Jahrtausend nach Neukölln zog, hatte er die Wahl zwischen streng verbarteten Shishalabs, verranzten Kaschemmen voll selbstbefüllender Autochthonen und pseudomondänen Halbweltglitzerbumsen, den religiös indifferenten Späti mal beiseitegelassen. Von damals geht’s – unter dezenten historischen Exkursionen – u. a. in die Zeit, als das noch die Straße 84 war und später der dortige Kommuneprolet dem Naziproleten Paroli bot, bis in den heutigen westöstlichen Orient-meets-Edelprekariatsstudent. „Linie M41, w
„Linie M41, wer dich nicht lieb hat, der irrt sich.“ An der seinerzeitigen Neuen Deutschen Welle entlang geht’s durch eine veritable Kneipenkunde, wo Gentrifizierer der ersten Welle Opfer der zweiten werden. Zwischen dem monströsen Estrel-Hotel, wo vorweihnachtens ein fischnamiger Knödler Hähnchen an Obdachlose verteilt, und einem arbeitslosen Arbeitsamt bleibt nichts außen vor, was Berlin so – ja, was? – halt so berlinisch macht.Die Boheme der DDR hat nicht die gleiche zeitgenössische Aufmerksamkeit gefunden wie die der Weimarer Republik, jedenfalls nicht medial, nicht im Westen. Im Osten naturgemäß auch nicht. Da ist es höchst dankenswert, dass die wunderbare Jutta Voigt sich dieses Kessels Bunten zwischen Kellerbars und Schaucafés, titelgebendem Stierblut (der vermutlich einzig trinkbare Rotwein damals) und wahllosem Qualmen angenommen hat: Manfred Krug und Katja Lange-Müller, den Maler Achim Bayer und den Grafiker Grischa Meyer, die Modelmädels der Sibylle, den Philosophen Wolfgang Heise und viele mehr gibt es aus eigener Erinnerung oder Nachrecherche; ein zum Niederknien betörendes Jutta-Voigt-Foto von damals findet sich auf Seite 134 von Stierblutjahre. Die Bohème des Ostens und war neulich samt Auszügen aus dem Buch im Freitag nachgedruckt (49/2016). Freundlich, unterhaltsam, wehmütig, doch nicht nostalgiebenebelt, sympathisch: ein aufgefrischter Traum aus der Vergangenheit.1922, da war er 30, ließ Fred Hildenbrandt sich Visitenkarten drucken, unter seinem Namen „in feinster Fraktur“: „Chef des Feuilletons am Berliner Tageblatt“. Zehn Jahre, die zehn großen Jahre Berlins, blieb er das. Hildenbrandt war eine eher schillernde Figur, einerseits ein Dauerenthusiast wie, sagen wir, Volker Weidermann vom Spiegel, andererseits ein Spieler der Macht wie Frank Schirrmacher, obendrein, was seine Glaubwürdigkeit anging, zumindest mit einer Prise Tom Kummer versehen. Und auch wenn er in seinen Erinnerungen so tut, als ob er ein Glückskind gewesen wäre, folglich eher unterdrückt, wie sehr er selbst am eigenen Schicksalsrad drehte, wenn diese also entsprechend mit Vorsicht zu lesen sind: Sicher ist, dass er sich gern und erfolgreich inmitten der zeitgenössischen Ikonen bewegte und blühend davon zu berichten weiß. Else Lasker-Schüler und Marlene Dietrich, Alfred Kerr und die Garbo, Renate Müller und die Palucca, Richard Tauber und die Fürstin Lichnowsky, Hans Albers, Ernst Rowohlt und Thomas Mann (zu ihm ziemlich Ignorantes); alles, was damals zum Glamour der Stadt oder zu ihrer Verteuflung beitrug, zieht plastisch vorüber. Warum er 1932, auf dem Zenit seiner Macht, ging, bleibt nebulös. Nicht unwahrscheinlich, wie Gabriele Tergit in ihrem Schlüsselroman über Hildenbrandt nahelegte, dass er da schon zu den Nazis neigte. Jedenfalls hat er sich nach 1933 mehr oder weniger erfolgreich angedient. Nach 1945 fasste er so recht nicht mehr Fuß. 1963 starb er, 1966 erschienen diese seine fantasievoll selbstzentrierten Erinnerungen erstmals. Die Neuauflage ist von Interesse – als Erinnerung und Symptom zugleich.Berlin, immer wieder Berlin. Berlin, sagt der Berliner Stadtethnologe, Rolf Linder, ist eben „eine Stadt, deren Einzigartigkeit in der alle Lebensbereiche erfassenden Modernität besteht“. Elektrisch, elektrisierend. Damit meint er weniger die Gegenwart als die ersten 30 Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Das näher zu erklären, gelingt ihm mit Rückgriff auf Erfahrungen und Deutungen Londons im 19. und Chicagos im 20. Jahrhundert, vor allem aber durch einen souveränen Überblick über Zeitgenössisches und seine Erforschung. Das Bildmaterial nicht zu vergessen! Berlin ist ihm, mit Karl Scheffler, Stadt amerikanisierter Industriekultur, bewegt durch Verkehr, Presse, Sport, Film, Revuen, Telefon und Reklame. Tempo, Zirkulation, Flüchtigkeit, Zerstreuung. Berlin ist die Stadt der „Voraussetzungslosigkeit“. Das setzt – paradoxal – Anpassung voraus. Wie werden möbliert wohnende Provinz-Entkömmlinge in der „Menschenwerkstatt“ (Heinrich Mann) zu passenden Großstädtern? Georg Simmel und Willy Hellpach haben die Pole ihres Habitus benannt: „sensuelle Vigilanz“ und „emotionale Indifferenz“. Wachheit wird zu Schlauheit und Schlagfertigkeit, „fehlgeleitete Kreativität“, schreibt Lindner. Beweggrund wie Ausdruck der Indifferenz, eine Form der Abwehr. Zur Wahl der Abwehrformen gehört blitzschnelle Orientierung über das Gegenüber. Das setzt Kennerschaft voraus, Physiognomik und Typenkunde, Formen des Profiling. So klug hat uns schon lange niemand mehr (v)erklärt.Placeholder infobox-1
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