A–Z Viele Romane aus diesen Jahren zwischen 1918 und 1933 behandeln die Hoffnungen, aber auch das Scheitern der ersten deutschen Demokratie. Unser Literaturlexikon der Woche
Alexanderplatz „Franz Biberkopfs Lebensschiffchen hat schwer geladen und braucht doch nirgends auf Grund zu stoßen“, urteilte Walter Benjamin über den Protagonisten in Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz (1929). Klar, das ist ewige Schullektüre geworden. Und doch leidet man auch heute mit, wenn Biberkopf, hin- und hergerissen von den Gezeiten seiner Gegenwart, endlich ankommen will. Nach einem Gefängnisaufenthalt versucht er sich eine neue, legale Existenz aufzubauen. Doch die sozialen Umstände lassen dies nicht zu. Döblin verfolgt Biberkopfs Schicksal dabei nicht chronologisch, auch zeichnet er kein Psychogramm (➝ Rot). Mit der Montage von Alltagstexten erschafft er vielmehr eine komplexe Milieustudie, die weit über die „l
komplexe Milieustudie, die weit über die „lumpenproletarische“ Ganovenwelt hinausreicht und Biberkopfs Durchmanövrieren zum Zerrspiegel des bürgerlichen Bewusstseins macht. Tobias PrüwerEErfolg Am Anfang steht ein Justizskandal. Ein linksliberaler Museumsdirektor wird in einem politisch motivierten Verfahren zu Unrecht verurteilt. Von diesem Ereignis aus zeichnet Lion Feuchtwanger in seinem 1930 erschienenen Roman Erfolg ein Gesellschaftsbild des Münchens der frühen 20er Jahre. Es sind „drei Jahre Geschichte einer Provinz“, so lautet der Untertitel, die in Feuchtwangers trockener, oft komischer Beschreibung die Gründe für das spätere Scheitern der Weimarer Republik nennen: Machtklüngelei, Obrigkeitsdenken und leicht manipulierbare Menschen. Feuchtwanger erschuf eine Welt mit klaren Parallelen zu realen Ereignissen und Personen. Konservative, Rückgratlose, Stammtischbürger und Intellektuelle (➝ Untergang) bevölkern den Roman. Und da ist natürlich Rupert Kutzner, zweifellos Hitler, der mit antisemitischen Parolen den Rattenfänger gibt, bis zum versuchten Staatsstreich. Feuchtwangers klarsichtiger Text wurde im NS-Regime verboten, er selbst ging 1933 ins Exil. Benjamin KnödlerFFabian Das heutige Berlin ist voll mit Typen wie diesem: Anfang 30, freier Texter, smart, leider prekär, aber auf jeder Party dabei. Noch immer ist er auf das Taschengeld seiner Mutter angewiesen. Aber: Er hat seinen Spaß. Als „zarten Ironiker“ und „Fachmann für Planlosigkeit“ bezeichnet er sich selbst. Hätte er einen Facebook-Account, stünde das dort in seinem Profil. Aber als Jakob Fabian, so heißt der Typ, seine wilde Phase hatte, gab es das Internet noch nicht.Fabian ist der Protagonist in Erich Kästners gleichnamigem Roman von 1931. Die Nazis deklarierten diesen bald als „entartete Literatur“. Fabian hätte das ahnen können. Während er sich im Text durch die Stadt feiert, steigt die Zahl der braunen Schlägertrupps, hängen sich seine Kollegen an das neue, völkische Vokabular. „Wir leben provisorisch, die Krise nimmt kein Ende“ (➝ Zusammenfassung), sagt er. Und: „Ich kann vieles und will nichts. Wofür und wogegen?“ So verharrt er in der Position des Alles-Checkers, statt die Nazis zu bekämpfen. Die Story geht nicht gut für ihn aus. Katja KullmannHHotel Menschen im Hotel, diesen Titel kennen die meisten Leute heute, wenn überhaupt, als Kinoklassiker. In der Oscar-gekrönten Hollywoodfassung von 1932, mit der großen Greta Garbo in der Rolle der alternden Tänzerin Grusinskaya. Das Drehbuch basiert jedoch auf dem gleichnamigen, 1929 erschienenen Roman von Vicki Baum, einer der erfolgreichsten Schriftstellerinnen der Weimarer Zeit. Es ist ein expressionistisches Meisterwerk, das die Vereinzelung und Vereinsamung von Menschen in der Anonymität der modernen Großstadt durch das Brennglas einer Berliner (➝ Alexanderplatz) Luxusherberge thematisiert.Die Protagonisten des Stücks leiden allesamt allein, unter ihrer Unlauterkeit, Bedeutungslosigkeit oder beidem, und nur zwei von ihnen sind am Ende der Geschichte ein Paar: der Kringelein und das Flämmchen. Der Rest ist tot oder bleibt im ewigen Weitermachen gefangen. Vicki Baum arbeitete Anfang der 20er Jahre selbst als Zimmermädchen im Hotel Bristol, konnte aber am Ende der Dekade längst vom Schreiben leben. Noch vor der Verbrennung ihrer Bücher 1933 siedelte sie in die USA über. Sophie ElmenthalerMMädchen Irmgard Keuns Das kunstseidene Mädchen ist als Tagebuch der 18-jährigen Doris konzipiert, „die nichts kann und doch etwas werden möchte“ (➝ Erfolg). Die junge Frau aus einfachen Verhältnissen kommt schließlich nach Berlin und hält sich vor allem durch Affären über Wasser. Irmgard Keun macht daraus aber keinen moralinsauren Entwicklungsroman. Nein: Doris ist ausgesprochen lebensklug, warmherzig, selbstbewusst und menschlich – auch als sie keine Bleibe und kaum noch Essen hat. Sie macht eine Menge Fehler, aber ebenso viel richtig und ist dabei vor allem auch noch komisch. Kurt Tucholsky nannte Irmgard Keun nicht zuletzt deshalb in der Weltbühne eine „deutsche Humoristin“. Etwas, wovon er nie geglaubt habe, das könnte es geben. Sophie ElmenthalerRReligion Er ist der ewige Geheimtipp der Weimarer Literatur: der Journalist Carl Christian Bry und sein Buch Verkappte Religionen von 1924. Während eine Religion den Sinn des Daseins im Jenseits verortet, verspricht eine verkappte Religion Sinn hinter dem alltäglichen Leben. Letztere sah Bry in vielen Moden seiner Zeit: Okkultismus, Jugendbewegung oder auch Antisemitismus. Die meisten sind „Antibünde“: Der Kommunist hasst den Kapitalisten stärker, als er den Arbeiter liebt, sagt Bry, der überdies auch die Psychoanalyse zu den „verkappten Religionen“ zählte. Vielleicht hat er überzogen. Dass er, der körperbehindert war, eine Sensibilität für dubiose Heilsversprechen (➝ Westen) hatte, macht ihn aber bis heute aktuell – und sei es nur durch die Bemerkung, dass der Humor umso schwächer wird, je stärker der innerweltliche Erlösungsglaube ausfällt. Michael Angele Rot Man kennt den Namen eigentlich nur von dem von ihm gestifteten, bestdotierten deutschen Literaturpreis. Joseph Breitbach, der aus Koblenz stammende deutsch-französische Schriftsteller und Mäzen, war in der Weimarer Republik jedoch eine bekannte Figur, die etwa enge Beziehungen zu André Gide unterhielt. 1929 veröffentlichte er seine Erzählungen Rot gegen Rot und fügte sich mit dem Debüt in den Reigen zeitgenössischer Angestelltenliteratur (➝ Schreibmaschinen) ein. In der fast satirischen Titelerzählung fühlt sich Karl, Liftjunge und KPD-Mitglied, zerrissen zwischen Partei und Liebe. Dennoch orientierte sich Breitbach weniger am Zeitgeist des Dokumentarischen und Sachlichen, den er für überschätzt hielt, sondern fühlte sich der französischen Tradition des Psychologischen verpflichtet. Ulrike BaureithelSSchreibmaschinen Auch die weibliche Seite des Angestelltendaseins wurde in der Weimarer Republik vielfach beschrieben, Irmgard Keun ist das bekannteste Beispiel. Unvermittelt hatte es die bürgerlichen ➝ Mädchen vom Klavier zur Schreibmaschine verschlagen und sie waren nun „Mädchen im Fron“, wie es Christa Anita Brück ausdrückt, eine der vergessenen Autorinnen, die sich den Schicksalen hinter Schreibmaschinen (1930) widmete.Durchaus konservativ in der Grundhaltung und literarisch kaum auf der Höhe ihrer Zeit, nimmt Brück immerhin die Ausweglosigkeit der von den sexuellen Übergriffen ihrer Vorgesetzten bedrohten Mädchen in den Blick, die im Lauf der Zeit zu „älteren Mädchen“ werden: „Siebenundzwanzig Jahre Büro, Krummsitzen, Stubenluft, ungezählte Überstunden.“ Dennoch versucht die Ich-Erzählerin aus ihrer Erwerbsarbeit Befriedigung zu ziehen, statt sie wie die meisten „Bürofräuleins“ lediglich als Zwischenstation bis zur Ehe zu betrachten. Siegfried Kracauer vermutete, der Roman sei offenbar aus dem Bedürfnis entstanden, „die eigenen bitteren Erfahrungen auf eine anständige Art loszuwerden“. Ulrike BaureithelUUntergang Neben Ernst Blochs Das Prinzip Hoffnung gibt es wohl kein philosophisches Buch, dessen Titel derart in die Alltagssprache einging wie Der Untergang des Abendlands. Derzeit hat die Phrase etwa bei Pegida-Anhängern wieder Hochkonjunktur. Im Kern hat das aber wenig mit Oswald Spenglers Werk zu tun, dessen zwei Teile 1918 und 1922 erschienen. Pessimismus oder Warnung sind dort kein Thema, wie er im Vorwort seines geschichtsphilosophischen Entwurfs schreibt: „Es handelt sich darum, das Schicksal einer Kultur, und zwar der einzigen, die heute auf diesem Planeten in Vollendung begriffen ist, der westeuropäisch-amerikanischen, in den noch nicht abgelaufenen Stadien zu verfolgen.“Spengler vertritt die schon in der Antike vorherrschende Auffassung, dass jede Ära eben ihre Zeit habe und analog zu Lebewesen von der Geburt über die Reife bis zum Tod bestimmte Zyklen durchlaufe. Er setzt diese Idee gegen den modernen Fortschrittsoptimismus. Nach dem Abendland kommt eben eine andere Ära. Natürlich war Spengler ein antiliberaler Reaktionär, der Geldherrschaft mit Demokratie gleichsetzte und im neuen Preußentum Vollendung wie Neuanfang der Epoche erblickte. Dass der Autor, der übrigens recht zeituntypisch von Antisemitismus (➝ Religion) und Rassenideologie absah, aber ein weinerlicher Schwarzseher war, ist reiner Mythos. Tobias PrüwerWWesten Mit der Weimarer Republik verbindet man nicht zuletzt die Goldenen 20er Jahre, Großstadtleben (➝ Hotel), rauschende Feste. Doch es gab auch die Traumatisierten des Ersten Weltkriegs. Im Westen nichts Neues von Erich Maria Remarque gibt ihnen eine Stimme. In der Vorbemerkung schreibt der Autor: Dieses Buch „soll nur den Versuch machen, über eine Generation zu berichten, die vom Kriege zerstört wurde – auch wenn sie seinen Granaten entkam“.Es sind die Erzählungen des 19-jährigen Paul Bäumer, der als Schüler, angetrieben von einem patriotischen Lehrer, an die Westfront geht. Dort erlebt er das Kriegsgrauen, lernt Granaten am Geräusch zu erkennen, verliert seine Freunde, tötet selbst, spürt, dass ihn die Erfahrungen sprachlos machen, und fällt am Ende. Das Buch, in dem Remarque auch seine eigenen Kriegserfahrungen verarbeitete, avancierte nicht nur zum Bestseller, sondern ist auch einer der kraftvollsten Antikriegsromane der deutschen Literatur – geschrieben und erschienen in einer Zeit, in der paramilitärische Trupps schon wieder für das nächste Schlachten mobilmachten. Benjamin KnödlerZZusammenfassung Was sollte man zur Kultur der Weimarer Republik lesen? Helmut Lethens Verhaltenslehren der Kälte, Peter Sloterdijks Kritik der zynischen Vernunft und auch Romane der Weimarer Republik von Erhard Schütz. Auch wenn der Autor dieser Zeilen, der 2004 bei Schütz seine Magisterarbeit schrieb, befangen wirken könnte, ist der Band von 1986 ganz objektiv eine unterhaltsame Diskursgeschichte. Bei der Relektüre fallen besonders die Spiegelungen des Worts „Krise“ von Weimar über die 80er-Jahre-BRD bis heute auf. Das erste Kapitel ist mit einem Zitat Kästners (➝ Fabian) überschrieben: „Wir leben provisorisch, die Krise nimmt kein Ende.“ Wer wollte da dieser Tage widersprechen? Jan Pfaff Placeholder link-1
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