Welches Stück meinen Sie genau?

Theaterfestival Elfriede Jelinek und René Pollesch sind die Preisträger des Stücke-Festivals in Mühlheim. In der Jury ging es hoch her

Müde Anerkennung prägte die Reaktionen, als Elfriede Jelinek bereits zum dritten Mal den mit 15.000 Euro dotierten Preis des Stücke-Festivals in Mülheim zugesprochen bekam. Wieder einmal hatte sie souverän den Wettbewerb dominiert. In ihrem Stück Rechnitz (Der Würgeengel) nimmt sie das Massaker einer Schlossgesellschaft an 180 jüdischen Zwangsarbeiten in den Spättagen des Zweiten Weltkrieges zum Anlass, um über die entstellte Wiederkehr des Verschwiegenen und Verdrängten zu reflektieren. Der Text ist als Botenbericht einer eingesperrten Partygesellschaft gestaltet (als Anspielung auf Luís Buñuels Film Der Würgeengel), die sich unter genüsslicher Verkostung durch das Grauen plappert.

Die Wirkung von Rechnitz ist allerdings von der fulminanten Interpretation durch Jossi Wieler und dem Ensemble der Münchner Kammerspielen nicht zu trennen. Sie haben das Stück auf etwa die Hälfte der Textmasse eindampft. Wer sich also vor zwei Jahren über die Verleihung des Preises an Rimini Protokoll und ihres aus Interviews generierten Karl Marx-Abends beklagt hatte, sollte bedenken, dass auch Jelineks Stücke ohne regieliche Zurichtung nicht funktionieren. Was also ist das Stück: Die Frage ließe sich auch an den zweiten Preisträger René Pollesch stellen, der für sein Fantasma über die Diskrepanz von vorgestellter und erlebter Wirklichkeit das Votum des Publikums auf sich vereinigen konnte – nur dass der Autor seine Werke für die Interpretation durch andere Regisseure komplett gesperrt hat. Eine Zumutung, die allerdings die Unverwechselbarkeit der Marke Pollesch garantiert.

In der Auswahljury ging es hoch her, davon berichtete deren Sprecher Franz Wille. Mit seiner Mittelstandsspießer-Komödie Geisterfahrer war, nach langer Abwesenheit, Lutz Hübner in Mülheim dabei; ein Autor, der von den Theatern wegen seiner gut spielbaren Stücke geschätzt wird, in der Preisdiskussion aber rasch erledigt wurde – unter lautstarker Versicherung, dass man nichts gegen das gut gebaute, psychologisch stringente Stück habe. Heftig diskutiert wurde über Oliver Bukowskis Szenenfolge Kritische Masse, die mit Empathie ein Panorama von Hartz-IV-Empfängern auf die Bühne stellt und sie am Ende in ihrem Protest kläglich scheitern lässt. Der Streit entzündete sich weniger am Stück als an Sebastian Nüblings Inszenierung, die sogar die Personalkonstellationen verändert. Und Roland Schimmelpfennigs Hier und jetzt über eine Hochzeitsgesellschaft, die in einer Zeitschleife aus Vergangenheits- und Gegenwartsfetzen gefangen ist, spielt dem Regisseur Jürgen Gosch derart kongenial in die Inszenierungshand, dass sich auch hier die Frage stellt: Was ist eigentlich das Stück?

Thematisch fragen die meisten der sieben eingeladenen Stücke – da ist dem Preisjuror Dirk Pilz zuzustimmen – nach dem Schicksal als den allzu festgezurrten gesellschaftlichen Umständen. Dass die Thematik fast durchweg von Autoren der Altergruppe 40 plus stammt, kommt wohl nicht von ungefähr. Zu Recht war deshalb schon im Vorfeld die Generationenfrage gestellt worden. Jungdramatiker vom Schlage einer Anja Hilling, Anne Habermehl oder eines Philipp Löhle fehlten diesmal. Vielleicht beim nächsten Mal. Ein Platz wird dann allerdings schon besetzt sei, mit Elfriede Jelinek mäßigem Finanzkrisenstück Die Kontrakte des Kaufmanns in der umso genialeren Inszenierung von Nicolas Stemann nämlich. Die Prognose sei jetzt schon mal gewagt.

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