Die auf 25 Bände konzipierte, so genannte Kölner Ausgabe der Werke Heinrich Bölls nähert sich der Vollendung. Soeben sind drei weitere Bände erschienen, und somit fehlen nur noch wenige Lieferungen dieser so schönen wie sorgfältigen Edition. Allerdings haftet solchen monumentalen Werkausgaben durchaus etwas Doppeldeutiges an. Einerseits bedeuten sie eine Kanonisierung des Autors, andererseits liegt gerade darin etwas Grabsteinartiges. Fortan liest man die Werke eines Heinrich Böll durch den Filter philologischer Kommentierung und historischer Einordnung: Zeile für Zeile ein Kulturmonument. Doch bei der Lektüre des 23. Bandes der Kölner Ausgabe kann man ziemlich überraschende Erfahrungen machen.
Im Juli 1985 starb Heinrich Böll im Alter von 67 Jahren. Wenige Wochen später erschien sein letzter Roman Frauen vor Flusslandschaft. Ich muss gestehen, damals dem fast einstimmigen Chor der Kritik geglaubt zu haben. Es sei ein unfertiges Alterswerk, der deprimierende Nachlass eines zuletzt schwer kranken Autors. Kurz, das Buch sei ganz und gar ungenießbar. Entsprechend verzagt habe ich 22 Jahre danach mit der Lektüre begonnen. Spätestens nach zehn Seiten hatte ich das Geraune der Kritik vergessen, und am Ende war ich mir relativ sicher, einen der bedeutendsten Romane der letzten Jahrzehnte gelesen zu haben.
Ein Roman in Dialogen und Selbstgesprächen nennt Böll sein Buch. Zugegebenermaßen verwirrt einen diese Form zunächst ein wenig. In einem kurzen Einführungskapitel werden einige der Hauptfiguren gewissermaßen physisch und als Verkörperungen beschrieben, das sind die einzigen Zeilen herkömmlicher Prosa. Alles andere wirkt auf den ersten Blick wie ein Theatertext mit gewissen szenischen Angaben. Doch während die Lektüre von Theatertexten selten ein Vergnügen bedeutet, ist das bei Frauen vor Flusslandschaft ganz anders - aus dem einfachen Grund: Es handelt sich nicht um einen Theatertext, sondern um eine romaneske Form. Unseren ungläubigen Kritikern möchte man ein so epochemachendes Buch wie Jacques der Fatalist von Diderot in Erinnerung rufen, es fällt einem auch Arno Schmidt ein und man denkt an die großartigen Romane von William Gaddis, die aus nichts als Gesprächsmitschnitten bestehen, Lauschangriffen auf das Geschwätz. In dieser Liga schreibt Böll, aber nicht unsere Literaturkritik.
In jedem Kapitel präsentiert Böll ein neues Tableau mit Bonner Herrschaften: Ministrable und Minister gar, Veranstalter des Wirtschaftswunders, Täter und Opfer in wechselnder Konstellation - sämtlich vereint in einem Geschäftsgang, den man Politik nennen könnte, genauso gut könnte man von einer Dauerintrige mit mobilen Seilschaften sprechen. Man wird übrigens bis zum Ende nicht genau erfahren, worum sich die Intrigen spinnen. Man hat sogar den Eindruck, die Spinner selbst hätten den Überblick verloren. Und es ist großartig, wie Heinrich Böll es schafft, niemals zum Kern von irgendetwas vorzustoßen. Aus dem einfachen Grund: Es gibt keinen. Böll erzählt nicht die Geschichte einer Verschwörung, um sie am Ende aufzudecken. Er erzählt von der Verschwörung als Lebensform der Macht.
In einem Brief an seinen Freund, den Literaturkritiker Heinrich Vormweg, schrieb Böll Ende 1984: "Wie oft ich diese Arbeit durchgelesen, neu bearbeitet habe, kann ich kaum noch aufzählen. Sie ist immer wieder in Details verändert, aber in der Struktur so geblieben. An Aufführung dachte ich nicht, es sollte ein Roman in Dialogen sein, wobei das Ambiente so knapp wie möglich beschrieben wird. Der Versuch, das alles in herkömmlicher Prosa zu schreiben, wollte nicht gelingen - das Problem: Bonn als Ort der Zerstörung des Christlichen - wollte in Prosa sich nicht fassen lassen."
Mit anderen Worten, Böll befürchtete, dass herkömmlich erzählende Prosa insgeheim eine Ordnung herstellte, eine vielleicht auch nur bescheidene Rationalität der Machtspiele andeutete, eine Linearität von Anfang und Ende. Doch was Böll sah und wovon er erzählerisch Zeugnis abzulegen suchte, war eine Mutationsform der Macht, deshalb nicht unmächtiger, aber wesentlich undurchsichtiger, eine Macht, die kein Projekt der Bemächtigung mehr formulieren könnte. Man könnte sagen, er formuliert im allerfrühesten Stadium und beinahe schon prophetisch den Übergang vom so genannten "Rheinischen Kapitalismus" zum neoliberalen Freibeutertum. Vor allem aber zeigt Böll eine Welt, in der Demokratie längst keinen Wert mehr darstellt, sondern bestenfalls eine Art Steuerungsproblem, eine Legitimationsmaschine.
Schon 1985 - als der Roman erschien - hätte man gewisse Ähnlichkeiten mit der real existierenden Realität und ihren Realisatoren nachweisen können. Doch Böll vermeidet sorgfältig allzu deutliche Entsprechungen. Er wollte nicht ein paar Figuren skandalisieren, sondern ein System zeigen. Schon damals hätte man einen Bankier beim Namen nennen können, der unter den Nationalsozialisten viel Geld verdient hatte, dann Adenauer finanzierte und noch in den siebziger Jahren an den Schaltstellen ökonomischer und politischer Macht wirkte. Man könnte auch an einen berüchtigten bayerischen Ministerpräsidenten denken, der es auf wundersame Weise zum Multimillionär gebracht hatte. Doch vor allem möchte man Bölls Buch als eine Art Betriebsanleitung für jene Jahre verstehen, die dem Erscheinen des Romans erst noch folgen.
Das waren die Jahre, in denen ein norddeutscher Ministerpräsident bei Nacht und Nebel in die DDR reiste, um von dort aus geheime und illegale Geschäfte mit Südafrika einzufädeln und der schließlich tot in einer Badewanne endete; die Jahre, als einem Bundeskanzler von einem bekannten Waffenschieber eine Million Mark im Plastikbeutel überreicht wurde; die Jahre, in denen ein ehemaliger Verfassungsschutzpräsident, riesige Schmiergelder kassierte und verteilte, Jahre, in denen die DDR verkauft wurde und am Ende 250 Milliarden Mark Schulden herauskamen. Alles Verschwörungen, über die man manches weiß und die doch stets Verschwörungen geblieben sind. Als hätte Bölls Roman Regie geführt über eine Epoche, die man "Zeitalter des Verdachts" nennen möchte. Und an deren Ende uns allen die Demokratie verdächtig geworden ist. Genau davon erzählt Böll auf ungeheuer spannende und komplexe Weise. Keine dieser so genannten Affairen, ob aufgeklärt, mild abgestraft oder verdrängt, darf man in einer abgeschlossenen Geschichte erzählen. Das mögen die Illusionen investigativer Journalisten sein. An solche Begrenzbarkeiten im Rahmen einer Geschichte konnte Böll nicht mehr glauben, und das hat er überaus glaubhaft erzählt.
Eines ist sicher: 22 Jahre nach Erscheinen hat der Roman immer noch eine ungeheure Wucht: Er fordert vom Leser Konsequenz. Böll erlaubt nicht, die irren Verwerfungen der Welt zwischen Buchdeckeln als Kunst wegzuschließen.
Das Schöne bei solchen Werkausgaben besteht auch darin, dass man noch einmal die ganze Rezeptionsgeschichte des Romans erfahren kann. Und hier kann man auf eindrückliche Weise nachlesen, wie sich die Literaturkritik als literarisch ahnungslos entpuppt, dafür aber um so kräftiger als ideologischer Wachhund kläfft - allen voran selbstredend Marcel Reich-Ranicki. Sie hat einem literarischen Meisterwerk die Kunstleistung abgesprochen, um die Wahrheiten dieses Buches nicht ertragen, nicht tragen zu müssen.
Heinrich BöllWerke. Kölner Ausgabe Band 23. Herausgegeben von Hans Joachim Bernhard und Klaus Peter Bernhard. Kiepenheuer Witsch, Köln 2007, 850 S.,
34,90 EUR
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