Seit Mitte Februar wurde im Freitag eine Debatte um die Frage des Verhältnisses der Linken zur Nation geführt. Zu diesem Thema hatte die Rosa-Luxemburg-Stiftung zwei Studien in Auftrag gegeben. Der Ausschnitt einer Studie von Erhard Crome gab der Debatte eine Textgrundlage. Kategorische Zurückweisungen eines Nationenbegriffs, wie Crome ihn formuliert, gingen in verschiedene Richtungen, einzelne Beiträge stützten auch Cromes Herangehensweise. Kritisiert wurde sein Verhältnis zur Geschichte und zu Auschwitz sowie die fehlende Wahrnehmung imperialistischer Bestrebungen deutscher Außenpolitik in den vergangenen Jahren. Erhard Crome äußert sich an dieser Stelle nochmals zu der vorgebrachten Kritik. Gleichzeitig dokumentieren wir die Stellungnahme der
me der StipendiatInnen der Rosa-Luxemburg-Stiftung, die zu den Inhalten der beiden Studien mit großer Mehrheit eine Resolution verabschiedet haben. Die Debatte wird im kommenden Freitag mit einem Text von Leander Scholz abgeschlossen.Kürzlich sagte ein alter Freund, der die Debatte zur Nation im Freitag verfolgt hatte, es sei doch eigentlich erstaunlich, wie die Alt-Achtundsechziger und ihre Nachfolger Monstranzen vor sich hertragen, auf die sie nicht verzichten wollen, deren Inhalte sie aber auch nicht mehr kritisch zu reflektieren vermögen. So ist es schon merkwürdig, mit welchem Eifer etwa Alfred Schobert auf einer deutschen "Sonderrolle" beharrt, ohne sich dabei bewusst zu sein, dass - drückte derlei Proklamation einen sozialhistorischen Sachverhalt aus - noch immer Adolf Hitler die politische Tagesordnung in diesem Lande bestimmen würde. Hinzu kommt, dass solch scheinbar weltbürgerliches Gutmenschentum eben nicht Rücksicht darauf nimmt, welche Wirkungen dies außerhalb inländischer deutscher Diskurse hat. So schrieb die polnische Autorin Anna Wolff-Poweska kürzlich in einer Debatte über die Welt nach dem 11. September, "auch der supranationale Eifer, den die Deutschen seit Konrad Adenauer immer wieder an den Tag gelegt haben, weckt Misstrauen bei den Völkern, die sich durch die Sowjetunion unterdrückt gefühlt haben und - nachdem sie diese Ketten gesprengt haben - endlich ihre nationale Souveränität ausleben wollen. Möchten sich die Deutschen durch das Zurückstellen ihrer nationalen Interessen nicht in Wirklichkeit nur ihrer internationalen Verantwortung entziehen? Oder täuschen sie den Verzicht auf nationale Ambitionen nur vor, um ihr überlegenes Potential um so leichter zur Geltung bringen zu können?" (WeltTrends, Nr. 33) Wer, mit welcher argumentativen Volte auch immer, eine "Sonderrolle" der Deutschen proklamiert, weckt Befürchtungen bei den europäischen Nachbarn, und zwar nicht nur im Osten. Insofern ist eine Debatte darüber, was Deutschland beziehungsweise die deutsche Nation denn nun ist, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, welche Interessen sie hat und welchen Platz in Europa sie einnimmt, gerade Bedingung dafür, Vertrauen und Sicherheit in Europa zu befördern.Die Studie, die Ausgangspunkt für diese Debatte im Freitag war, wurde am 4. Februar in der Rosa-Luxemburg-Stiftung öffentlich vorgestellt. Zwei Tage später schrieb Die Welt über die dort geführte Diskussion, Crome "verstieg sich in sozialwissenschaftliche Definitionen von Staat, Nation und Gesellschaft". Von "links" hieß es im Internet, eben dieser Crome "hielt ein Plädoyer dafür, dass es neben der Gesellschaft auch die Gemeinschaft geben müsse" (www.indymedia.de). Der Text war mit "Mäuschen" unterschrieben. Manche verwechseln offenbar Links-Sein mit einer Art Geländespiel und spielen "illegales Gebietskomitee". Hier ist bemerkenswert, dass von links wie von rechts das Nachdenken über sozialtheoretische Kategorienbildung, etwa "Nation" und deren Verortung im Spannungsfeld von Gemeinschaft und Gesellschaft, übereinstimmend denunziert und abgelehnt wird. Begriffe und Kategorien werden als reine Frage des Willens verstanden: Crome "will" das Eine und Mäuschen etwas Anderes.So aber verschwimmen Sozial- und Geisteswissenschaft zur Belletristik. In seinem kürzlich erschienenen Text Zur Romantik zitierte der großartige Peter Hacks Goethe, der in der Zeit der anti-revolutionären Reaktion 1826 gesagt hatte: "Alle im Rückschreiten und in der Auflösung begriffenen Epochen sind subjektiv, dagegen haben aber alle vorschreitenden Epochen eine objektive Richtung. Unsere ganze jetzige Zeit ist eine rückschreitende, denn sie ist eine subjektive." Und fügte mit Hegel hinzu, dass das Übel der Zeit "die Zufälligkeit und Willkür des subjektiven Gefühls und seines Meinens" ist. Es stellt sich heraus, dass die kulturalistische Wende in den Sozial- und Geisteswissenschaften Erkenntnis als intellektuelle Vergewisserung überhaupt in Frage stellt. Marx und Hegel wird schon vorgeworfen, dass sie überhaupt etwas zu wissen beanspruchten; alles verschwindet im Grau der Kommunikation, ist schließlich nur noch Kommunikation, Vereinbarung, Konvention, Illusion. Damit wird es altmodisch, nach Macht, Herrschaft, systemischer Fehlsteuerung zu fragen. So meinte Jürgen Habermas: "In komplexen Gesellschaften scheitern auch die ernsthaftesten Anstrengungen um politische Selbstorganisation an Widerständen, die auf den systemischen Eigensinn des Marktes und der administrativen Macht zurückgehen." Und Ulrich Beck setzte hinzu: "Handeln ist eine gefährliche Illusion. Es setzt ein Ich voraus, das es bewiesenermaßen schon lange nicht mehr gibt." Das ist die ausdrückliche Kapitulation jeglicher kritischer Gesellschaftsanalyse, die Proklamation des Verzichts auf Veränderung der Gesellschaft und auf Erkenntnis über sie.Da mit dem Realsozialismus der große Gesellschaftsentwurf gescheitert scheint, zieht sich das Links-Sein in das subjektive Meinen des Gut-Sein-Wollens zurück, verliert dabei jedoch seine geistige Kraft. Der Verzicht auf sozialtheoretisches Erkennen ratifiziert die Unterordnung der Linken unter den Geist der Zeit. Hier aber gilt, nochmals mit Goethe: "Was ihr den Geist der Zeiten heißt, das ist im Grund der Herren eigner Geist, in dem die Zeiten sich bespiegeln." Insofern steckt in dem frivolen Missbrauch von Auschwitz, daraus ein Verdikt gegen sozialtheoretisches Erkennen zu machen, nicht nur eine "üble Denunziation", wie Peter Ruben in den Meinungen meiner Diskutanten ausgemacht hat, sondern auch die Kapitulation vor dem Zeitgeist. Es ist dies zugleich der wesentliche Unterschied zwischen Ruben, der auffordert, an den Kategorien und mit ihnen zu arbeiten, und Habermas beziehungsweise seinen Interpreten. Es ist die Differenz zwischen einer sozialtheoretischen Sicht, die auf das Objektive zielt, trotz oder wegen des Fiaskos des Realsozialismus, und der subjektiven Welt des Meinens.Nun, jenseits der denunziatorischen Unterstellung, müsste die Debatte um die Nation recht eigentlich erst geführt werden. Ich will nur ein aktuelles Feld nennen, die Diskussion um eine europäische Verfassung und was der "EU-Konvent" dabei zu leisten hat. Der US-amerikanische Politologe Philip C. Schmitter beispielsweise sieht in dem vielzitierten "Demokratiedefizit" der EU eines ihrer Hauptprobleme, das aber nicht darin bestehe, dem Europäischen Parlament (EP) ein größeres Gewicht zu geben. Das Problem besteht vielmehr darin, dass unter dem EP kein europäisches Parteiensystem steht, das es trägt. Nun wird die Idee einer "europäischen Verfassung" präferiert. Wenn es schon keinen europäischen "demos" gäbe, dann solle über die Verfassung dieser "demos" geschaffen werden. Für Schmitter ist dies eine typisch deutsche Professoren-Idee. Wenn man ernsthaft versuchen sollte, einen "Kompetenz-Katalog" zu verabschieden, werde die EU nicht mehr funktionieren. Es reiche völlig aus, die Grundrechte festzuschreiben und den Schutz der Menschenrechte zu verankern, und das ist bereits geschehen. Erforderlich sei vielmehr eine "Politisierung" der Union; die Menschen sind immer stärker von Entscheidungen der EU wie der Kommission betroffen; sie müssen lernen, sich dazu politisch zu verhalten, in einer sich entwickelnden "europäischen Zivilgesellschaft", die nur ein Gefüge verschiedenster Bewegungen und Nichtregierungsorganisationen sein könne.Die Frage aber, was denn nun auf diesem Feld, im Angesicht des Konvents, getan werden kann oder sollte, ist nicht zu beantworten, ohne die EU als Gefüge von Staaten, Regionen und Nationen zu begreifen. Das aber setzt einen Begriff der Nation voraus, der für alle Nationen gilt, und nicht für die einen und die anderen, hier die Deutschen, wiederum nicht. Womit wir wieder bei der Dringlichkeit der Debatte wären, die der Freitag dankenswerter Weise zu initiieren versuchte, und die leider in vielem so qualvoll ideologisch verlief - eben sehr "deutsch".
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