Festivaldirektor und Castro-Freund Alfredo Guevara, 78, stellte selbst fest, dass er in 26 Festivaljahren noch keine so explizit politische Eröffnungsrede für das Festival Internacional del Nuevo Cine Latinoamericano gehalten habe, wie an diesem 7. Dezember im Karl Marx-Theater von Havanna. Er sprach etwa von einem Land und einem Festival, die "belagert" seien, womit er auf die Reiseerschwernisse seitens der US-Regierung für die eigenen Bürger anspielte, was bedeutete, dass kaum Leute aus der US-amerikanischen Filmwelt in Havanna anwesend waren. Guevaras Rede passte ins Bild. Anfang Dezember hatte der achte Kongress des Parteijugendverbandes Union de Jovenes Comunistas (UJC) unter dem Motto "Eine bessere Welt ist möglich" stattgefunden; am 6.12. wurde der fünf
fünfte Jahrestag des Beginns der so genannten "Ideenschlacht" gefeiert. Der seltsame Begriff, von Fidel Castro persönlich kreiert, bezeichnet die spektakuläre Massenmobilisierung und Reideologisierung, die mit der Kampagne um die Rückkehr des Bootsflüchtlingsjungen Elián Gonzalez initiiert worden war.Der Eröffnungsfilm Tres veces dos der drei jungen kubanischen Regisseure Pavel Giroud, Lester Hamlet und Esteban García Insausti war geeignet, den Eindruck einer verschärften Reideologisierung einigermaßen zu relativieren. In drei Episoden erzählen die Regisseure drei Geschichten, die in ihrer Bildsprache teilweise an Videoclips erinnern und dabei Themen wie Einsamkeit, Erinnerung und Beziehungslosigkeit umkreisen. Der Schönheitsfehler des nicht uninteressanten Films liegt allerdings darin, dass er bereits im letzten Jahr im Rahmen einer Sondervorstellung seine (Video)Premiere erlebt hatte. Nicht unbedingt Zeichen einer Blüte des aktuellen kubanischen Kinos. Der andere neue kubanische Spielfilm im Wettbewerb, Perfecto amor equivocado, eine Screwball-Komödie von Regisseur Gerardo Chijona, bot dagegen Mainstream-Unterhaltung von solider Machart, an der das who is who von Kubas Kino der letzten Jahre mitgewirkt hat: Luis Albero Garcia (Hauptrolle), Raúl Pérez Ureta (Kamera) Eduardo del Llano (Drehbuch), Edesio Alejandro (Musik). Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang, dass sich die beiden Erstgenannten unter der Leitung von Eduardo del Llano vor einigen Monaten zum Projekt eines unabhängig produzierten Low-Budget-Kurzfilms mit dem Titel Mont rouge zusammengetan hatten, der zum Frechsten und Gewagtesten gehört, das man je aus Kuba gesehen hat. "Keine Danksagung an diejenigen, die nichts wagen", heißt es im Abspann des Elfminüters, der von einem Wohnungsinhaber (Luis Albero García) handelt, den zwei Angehörige der Staatssicherheit besuchen. Die erklären, sie seien gekommen, um Abhörmikrofone zu installieren, damit die regierungsfeindlichen Äußerungen des Wohnungsinhabers in Zukunft besser zu kontrollieren wären. Eduardo del Llano, der durch seine kontinuierliche Arbeit für Daniel Díaz Torres und Fernando Pérez seit Anfang der neunziger Jahre Kubas renommiertester Drehbuchautor ist, hatte Mont rouge für den Kurzfilm-Wettbewerb eingereicht, wurde jedoch kommentarlos abgewiesen. Dazu passt das sich langsam zur Gewissheit verdichtende Gerücht, ab Januar solle in Kuba ein neues Filmgesetz in Kraft treten. Mit einem "Büro zur Genehmigung audivisueller Projekte" will man durch stärkere Kontrolle die in den letzten Jahren stark angewachsene Zahl unabhängiger Produktionen eindämmen. Die "Ideenschlacht" scheint in eine neue Phase getreten zu sein.Insgesamt spielte das kubanische Kino auf dem diesjährigen Festival eine marginale Rolle. Das zeigte sich auch bei der Preisvergabe: Gerade zwei Kurzfilme aus dem Dokumentarbereich, der in Havanna ohnehin von untergeordneter Bedeutung ist, wurden mit einem dritten Platz beziehungsweise mit einer "speziellen Erwähnung" ausgezeichnet. Immerhin behandelten deMoler von Alejandro Ramirez und Niños de la frontera zwei Themen, die im heutigen Kuba kaum im Blickfeld einer medialen Öffentlichkeit stehen: die Demontierung einer der zahlreichen veralteten und unrentablen Zuckerfabriken zum einen, zum anderen das Leben von Kindern in einem Armenviertel am Rande der kubanischen Hauptstadt. Niños de la frontera war nur möglich, weil der Film ein Happy End präsentierte: Eine engagierte Sozialarbeiterin schafft es, die Kinder mit dem Aufbau einer "Rumba-Comparsa" (Großorchester mit Tanztruppe) von der Straße zu holen. Für kubanische Verhältnisse ist solch relativ ungeschönte Darstellung von Realität beachtenswert, wird doch Dokumentation hier meistens mit Propaganda verwechselt.Bei den Spielfilmen aus Lateinamerika, die im Wettbewerb liefen, blieb der große Wurf in diesem Jahr aus. Es gab weder einen Film von der universellen poetischen Ausstrahlungskraft des letztjährigen Gewinners Suite Habana, noch einen inhaltlich wie formell eruptiven Beitrag wie Amores Perros, jenem Meisterwerk aus Mexiko, das im Jahr 2000 die Filmwelt des Kontinents aufwühlte und damals in Havanna den Preis als bestes Erstlingswerk errang. Natürlich sind unter den in diesem Jahr prämierten Werken Filme zu finden, die sympathisch und solide sind. So beispielsweise Whisky, der mit dem Großen Preis des Festivals ausgezeichnete und schon frühzeitig als Favorit gehandelte Beitrag der beiden jungen Uruguayer Juan Pablo Rebella und Pablo Stoll. Die Story von zwei ungleichen jüdischen Brüdern mittleren Alters, die zusammen mit der Angestellten des einen für ein Wochenende ans Meer verreisen, wobei der eine dem andern vorschwindelt, die Angestellte sei seine Frau und diese sich dann in den andern verliebt, ist von einer stillen und trockenen Komik, die an Kaurismäki oder Jarmusch erinnert. Dabei ist Whisky mindestens genauso stark beeinflusst vom brillanten erzählerischen Minimalismus, der so manche argentinische Filme von Regisseuren der jüngeren Generation kennzeichnet. Ein Stil, der in Havanna etwa in den neuen Filmen von Pablo Trapero (Familia rodante) oder Lucrecia Martel (La nina santa) präsent war und einem eher flauen Festival doch einige Highlights bescherte.