Monika Rauch und Yanis Christoforakis haben sich in Aachen kennengelernt. Das war 1983, das Ende der griechischen Militärdiktatur lag keine zehn Jahre zurück und die Mitgliedschaft des Landes in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft währte gerade einmal zwei Jahre. Monika verliebte sich in den griechischen Maschinenbauingenieur und zog mit ihm nach Athen, einige Jahre später dann nach Heraklion, Kretas Hauptstadt. Dort kauften sie günstig Land, bauten ihr Haus, zogen zwei Kinder groß. Die schönste Zeit seines Lebens sei das gewesen, schwärmt Yanis. Jahrelang hätten sie ohne Strom und fließend Wasser gelebt – und seien glücklich gewesen. Vor ein paar Wochen wurde der erste Enkel geboren, doch Monika und Yanis denken gar nicht daran, sich zur Ruhe zu setzen. An einem Sonntag im Frühling herrscht Hochbetrieb in ihrem geräumigen Haus, einige Kilometer außerhalb von Heraklion, inmitten von Olivenhainen und blühenden Oleandern.
Korrupter Agrarsektor
Heute tagt die Genossenschaft Apo Kinou, alle 15 Mitglieder sind gekommen. Es herrscht Gewimmel zwischen dem Haus und der Gartenterrasse, Kleinkinder sitzen auf dem Boden, zwei Dobermänner lungern im Schatten der Akazien. Yanis holt aus dem selbst gebauten Lehmofen eine dampfende Pfanne mit Schweinebraten, Ziegenfleisch und Kartoffeln, alles aus eigener Produktion. „Noch sind wir auf den Supermarkt angewiesen“, meint der Mittfünfziger, „aber schon bald wollen wir autonom sein.“ Das Ziel der Apo-Kinou-Mitglieder: raus aus Erwerbsarbeit und Bankrott-System, rein ins unabhängige Landleben.
So wie Yanis und Monika haben es in den letzten Jahren viele Griechen gemacht. Seit 2011 sind sogenannte soziale Genossenschaften staatlich anerkannt. Mittlerweile gibt es laut dem Social Economy Institute in Thessaloniki rund 750 Genossenschaften mit einem sozialen Anspruch. Sie haben sich verpflichtet, neben einem genossenschaftlichen Produktionsnutzen ein Non-Profit-Ziel zu verfolgen, das nicht nur ihren Mitgliedern zugutekommt. Das soll sie von den herkömmlichen Genossenschaften, mehrheitlich im Agrarbereich, unterscheiden.
Denn deren Geschichte ist weniger rühmlich. Egal wen man aus der griechischen Genossenschaftsszene fragt: Die traditionellen Agrarkooperativen haben den Ruf weg, durch und durch korrupt zu sein und weder ihren Mitgliedern noch ihrer Gemeinde Mehrwert zu bringen. Allerdings gibt es auch unter den neuen sozialen Genossenschaften viel Lug und Betrug, sagt Ioannis Nasioulas vom Social Economy Institute. Er schätzt, dass maximal 20 Prozent von ihnen wirklich einen sozialen Ansatz haben. Der Rest würde die rechtlichen Vorteile für seine Geschäfte nutzen.
Apo Kinou ist unter den 750 Neuanmeldungen also eher eine Ausnahme. Die Genossenschaft, zu Deutsch „in Gemeinsamkeit“, ist vor zwei Jahren wie viele ihrer Art aus einem Freundeskreis heraus entstanden. Neben Monika und Yanis machen vor allem junge Leute mit, die sich neben ihrem Engagement mit kleinen Gelegenheitsjobs durchschlagen. „Ich habe eigentlich Eventmanagement studiert“, sagt Evangelia Greka, ein schlankes Mädchen mit langen schwarzen Haaren, „nun jobbe ich bei einem Bäcker in Heraklion.“ Die Genossenschaft Apo Kinou bietet ihr eine Perspektive. Sie will mit den anderen irgendwann zusammenleben, eigenes Obst und Gemüse anbauen und für die Genossenschaft arbeiten. So geht es allen Mitgliedern, jeder hat noch einen Job nebenbei. Monika arbeitet als Deutschlehrerin, Yanis als Ingenieur im Universitätskrankenhaus.
Doch schon heute verkaufen sie ihre Produkte, traditionelles kretisches Trockenbrot, Rosinen, Gemüse und Olivenöl, alles aus ökologischer Landwirtschaft, ohne Maschinen und mit ihrer Hände Arbeit. Yanis führt stolz durch Knoblauch-, Zwiebel-, Karotten- und Kartoffelbeete, umrahmt von einem Olivenhain. Alles wächst, unabhängig von der Staatsverschuldung. Das Olivenöl verpacken die Genossen selbst und verkaufen es bis nach Deutschland, an eine Food-Coop in Berlin-Wedding.
Jetzt sitzen alle am großen Steintisch im Garten und jubeln, als das Essen verteilt wird. „Das leibliche Wohl spielt hier eine große Rolle, da wird zuletzt gespart“, sagt Monika. „Wenn das der Schäuble sehen könnte“ sei in Griechenland ein geläufiger Scherz im Angesicht voller Essenstische bei Feiern. Das tröstet ein wenig über die Verzweiflung hinweg, in die die ökonomische Krise viele Griechen gestürzt hat. „In der Hoffnung auf eine humanere Gesellschaft“ hatte Yanis im Januar Syriza gewählt. „Aber für die versprochenen politischen Projekte im Land war ja bisher, wegen der Verhandlungen über die Schulden, kaum Zeit.“ Immer mehr Menschen hätten kaum noch Geld für das Notwendigste – daher würde der Tauschhandel aufleben. Statt den anderen in einer harten Währung zu bezahlen, tauschten Nachbarn und Freunde Güter und Dienstleistungen aus.
Genau daraus hat Dimitris Mouroulis eine Profession gemacht. Zehn Fährstunden von Heraklion entfernt sitzt der freischaffende Web-Entwickler allein in seinem Büro in Athens Vorort Neo Psychiko. Kaum ein Sonnenstrahl findet seinen Weg durch die Fenster des kleinen Containers. Von der Hauptstraße dröhnt der Verkehr. Der Mittdreißiger zeigt auf seinen Monitor. Dort wird die Internetseite freeeconomy.gr angezeigt. Mouroulis hat die Webseite selbst entwickelt – sie gehört zum Tauschring, den er mitgegründet hat. Das war 2012.
Alles begann mit der Krise. „Ich merkte damals, wie Griechenland sein Potenzial verschwendet“, erinnert sich Mouroulis. „Dieser Typ dort hat ein Restaurant, ich bin Web-Entwickler. Ich will essen gehen, er braucht eine Webseite – und nichts davon passiert, nur weil wir beide kein Geld haben.“ Er rief ein paar Freunde an, die Idee zu Free Economy war geboren. Dort tauschen Menschen nicht wie bei vielen Tauschringen selbst gestrickte Socken gegen Tomaten aus dem eigenen Garten – Mouroulis und seine Freunde tauschen das, was sie beruflich gelernt haben: mein Expertenwissen gegen deines.
Hier gibt es keinen politischen Anspruch, keine gemeinsame Ideologie – nur die gefühlte Notwendigkeit, seine Arbeitskraft anders zu vermarkten als auf dem erodierenden griechischen Arbeitsmarkt. „Wir als Gruppe sind politisch neutral“, sagt der Netzwerkgründer. Die fünf Mitglieder, die das Netzwerk hauptsächlich verwalten, hätten zuletzt unterschiedliche Parteien gewählt. „Wir sehen aber alle, dass etwas nicht stimmt, wenn Menschen arbeiten wollen, andere Menschen diese Arbeitskraft brauchen und das trotzdem nicht zustande kommt“, sagt er nüchtern.
Jenseits von Syriza
Auf einen politischen Wechsel hofft der Web-Entwickler nicht. „Geschichte wird langsam geschrieben, ein Schritt nach dem anderen.“ Syriza könne das Finanzsystem nicht mal eben von Grund auf ändern. Der richtige Weg, findet er, sei dehalb erst einmal: Selbermachen. Auf der Webseite des Netzwerks bucht man Dienstleistungen und bietet die eigenen an. Gezahlt wird mit der eigenen Währung Enallaktika, „Alternativen“. Ein reiner Tauschring ist das Non-Profit-Netzwerk also nicht mehr. 85 Mitglieder sind mittlerweile dabei. Mouroulis legt die Stirn in Falten. Hier liegt das bisher größte Problem der Free Economy.
Die virtuelle Struktur, jeder allein vor seinem Computer, lässt kaum Zusammengehörigkeitsgefühl entstehen. „Es war für uns Gründer leicht, unsere Freunde zu gewinnen, bei den Freunden der Freunde klappt das nicht mehr so gut“, sagt Mouroulis. „Wir funktionieren zwar mittlerweile als Gruppe, wir müssen nicht zwangsläufig viel größer werden“, erzählt er. Andererseits mache eine Vielzahl an Angeboten das Netzwerk erst richtig wirksam.
Um zu lernen, wollen Mouroulis und sein Team sich mit ähnlichen Gruppen in Europa vernetzen. Dass solche existieren, weiß der Web-Entwickler erst seit kurzem. „Wir hatten die Idee zu Free Economy, bevor wir wussten, dass es das Prinzip und Alternativwährungen in anderen Ländern schon gibt“, sagt er lachend. Offenbar hat der junge Athener damit den Nerv der Zeit getroffen. Sogar im Fernsehen sei er schon gewesen, erzählt er stolz. Und: Zahlreiche Nachahmer seien aus dem Boden geschossen, seit Free Economy etabliert ist. Es gibt viele, die ihr Schicksal selbst und solidarisch in die Hand nehmen wollen.
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