Im Studium schrieb ich für ein linkes Stadtmagazin, das klare Feindbilder pflegte. „Die FDP ist überflüssig“, überschrieb ein Kollege damals seinen Kommentar. Wir waren genervt von einer Partei, die mit Stimmenanteilen knapp über fünf Prozent ständig in der Regierung saß und viel zu viel Einfluss, unter anderem auf die Sozialpolitik, hatte. Doch in Corona-Zeiten ist alles anders.
Fast immer sind es Liberale, die auf die massive Beschneidung von Freiheitsrechten hinweisen. Oder die kritisieren, dass es das „Große Wir“ bei der Bekämpfung der Pandemie nicht gibt und die Krisenstrategien einseitig Soloselbständige und Kleinunternehmen belasten.
Sieht man von der unwählbaren AfD ab, die sich „Querdenkern“ und Corona-Leugnern anbiedert, steht ansonsten die Einheitsfront. Das liegt vor allem am Versagen der mitregierenden Sozialdemokratie. Die leistet sich mit Karl Lauterbach einen Gesundheits-Schattenminister, der seit einem Jahr als Ober-Warnologe durch die Talkshows zieht. Mit düsteren Prognosen verbreitet er Angst, trägt sie vor wie ein Automat, der an die sozialen Konsequenzen seiner Forderungen keinen Gedanken verschwendet. Ein SPD-Mitglied, das seine Rolle als Politiker ausschließlich medizinisch versteht und seiner Eitelkeit frönt, könnte man als Skurrilität betrachten. Doch leider ist Lauterbach in der Partei keineswegs isoliert.
Eine merkwürdige Stille
Auch Saskia Esken, dem weiblichen Part eines vermeintlich linken Führungsduos, können die Maßnahmen gar nicht scharf genug sein. Manuela Schwesig ließ im vergangenen Sommer Feriengäste aus dem von ihr regierten Mecklenburg-Vorpommern ausweisen, weil diese zufällig 30 Kilometer entfernt von einer verseuchten Fleischfabrik wohnten. Kanzlerkandidat Olaf Scholz überbietet sich als Finanzminister mit vollmundigen Versprechungen, an der wirtschaftlichen Realität der meisten Gastronomen oder Künstlerinnen geht die Antragspraxis seiner Unterstützungsgelder aber völlig vorbei. Freiberuflich Tätige zählen für Sozialdemokraten im Schulterschluss mit den Gewerkschaften ohnehin zum Unternehmerlager. ,Mehr Kurzarbeitergeld – das ist, womit wir helfen!‘
Und der Rest der parlamentarischen Opposition? Über den Grünen, von denen einige einst hofften, sie würden die FDP als neue Anwältin der Bürgerrechte ablösen, liegt beim Thema Corona eine merkwürdige Stille. Unter ihren Anhängern, so zeigen Umfragen, ist der Beifall für die rigide Lockdown-Politik am allerhöchsten. Für Panikmache waren sie schon immer besonders anfällig, siehe Atomkraft, Waldsterben und Klimawandel. „German Angst“ funktioniert auch in der Pandemie bestens. Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow wird angesichts steigender Infektionszahlen in seinem Bundesland gleich zum Konvertiten („Die Kanzlerin hatte recht“). Und in Teilen seiner Linkspartei kursieren totalitär anmutende „Covid-Zero“-Strategien, nach dem Motto: Wenn wir die Wirtschaft komplett stilllegen und so dem Kapitalismus die Grundlage entziehen, sinken die Zahlen binnen zwei Wochen auf Null. Diesen Blödsinn unterstützen übrigens auch führende Virologen aus dem engsten Beraterkreis um Angela Merkel.
Verkehrte Welt: Bei Hart aber fair höre ich mit Interesse die Meinung Michael Hüthers, des Chefs des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft. Im Presseclub sympathisiere ich gar mit einzelnen Statements des Focus-Kolumnisten Jan Fleischhauer, eines notorischen Linken-Fressers. Mache ich also in der kommenden Bundestagswahl das erste Mal in meinem Leben ein Kreuzchen bei der FDP?
Dieser Gedanke verursacht enorme Bauchschmerzen. Denn Christian Lindner ist und bleibt, trotz der Corona-Gegenreden im Bundestag und trotz seines integren Parteifreundes Gerhard Baum, ein Neoliberaler. Er will den Sozialstaat abbauen, privatisieren und die Steuern senken. Seine frühere Generalsekretärin Linda Teuteberg hat er mit einem Altherrenwitz sexistisch verabschiedet. Noch nie war eine Wahlentscheidung so schwierig.
Kommentare 13
tja , der befreiungs-kampf
(gegen den masken-zwang)
erfordert :
selbst-schädigende maßnahmen
(kreuzigungen auf wahl-zetteln).
oda?
Ihr Autor hat einen Knall. Es gibt keinen Grund, die FDP zu wählen, wenn man nicht superreich ist. Möglicherweise wäre er bei einem Springerblatt besser aufgehoben.
Aus Freitag.de/ueber bzw. aus Unternehmen / der Freitag
„Der Freitag überzeugt eine seit Jahren wachsende Leserschaft mit seinen Qualitäten als linksliberale Wochenzeitung – er liefert Hintergründe, fordert souverän, anspruchsvoll und klug zum gesellschaftlichen Dialog und zur Diskussion auf und trägt selbst mit kritischen und konstruktiven Meinungen dazu bei.“
Müsste es nicht heißen: »Der Freitag irritiert seit Beginn der Corona-Pandemie seine linksliberale Leserschaft mit zunehmend rechtsliberalen Sichtweisen, deren Nähe zu noch weiter rechten Standpunkten kaum zu verbergen sind und sich somit (zumindest) im Forum einer zunehmend rechts orientierten Leserschaft öffnet und dieser eine wunderbare Plattform für z. B. ihre breiten Raum einnehmende Corona-Agitation bietet.«
Sicherlich wird in diesem Zusammenhang der obige Artikel den breit gestreuten Beifall der Redaktion erhaschen, was aus meiner Sicht ein weiteres „Armuts-Zeugnis“ bezüglich des Anspruchs von Qualitätsjournalismus wäre.
…„Das liegt vor allem am Versagen der mitregierenden Sozialdemokratie. Die leistet sich mit Karl Lauterbach einen Gesundheits-Schattenminister, der seit einem Jahr als Ober-Warnologe durch die Talkshows zieht. Mit düsteren Prognosen verbreitet er Angst, trägt sie vor wie ein Automat, der an die sozialen Konsequenzen seiner Forderungen keinen Gedanken verschwendet. Ein SPD-Mitglied, das seine Rolle als Politiker ausschließlich medizinisch versteht und seiner Eitelkeit frönt, könnte man als Skurrilität betrachten. Doch leider ist Lauterbach in der Partei keineswegs isoliert.“
Und dann: „Fast immer sind es Liberale, die auf die massive Beschneidung von Freiheitsrechten hinweisen. Oder die kritisieren, dass es das „Große Wir“ bei der Bekämpfung der Pandemie nicht gibt und die Krisenstrategien einseitig Soloselbständige und Kleinunternehmen belasten.“
Man muss gar nicht unbedingt ein Lauterbach-Fan sein (die Überbringer schlechter Nachrichten, die sich meistens sogar auch noch bewahrheiten, hatten in der Geschichte des verblödeten Homo sapiens schon immer einen schweren Stand), aber ihm das Frönen von Eitelkeit vorzuwerfen, ist nicht nur skuril, sondern Ausdruck eines völligen wirklichkeitsverdrehenden Tunnelblicks. Wenn jemand frisch frisiert von einem Mikrofon zum anderen hechelt und nicht selten völlig deplatziert wirkt (wie so mancher Grinse-Experte auch, von denen übrigens auch Michael Hüther, Chefs des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft, immer wieder neu im NRW Expertengremium „geimpft“ wird) und möglichst auffällige „Anti-Standpunkte“ verkündet, um so möglichst große Aufmerksamkeit zu erheischen, selber aber in der entsprechenden Situation selten etwas Brauchbares beisteuert, dann sind diese an erster Stelle medialen Selbstdarsteller alles andere als ernstzunehmende ErkenntnisSuchende und LösungsBeisteuerer, sondern viel mehr Missionare in eigenen Angelegenheiten.
Einer Linder-FDP (ja, zur Zeiten von G. Baum beispielsweise, da konnte man sogar die FDP wählen) das Engagement für unsere Freiheitsrechte und für Solidarität auch nur im Entferntesten zuzuschreiben und diese wählen zu wollen, zeugt von massiver politischer Verirrung!
Tritt die AFD mit dem Grundgesetz in der Hand und auf dem T-Shirt, mit der Huldigung der völkisch nationalen Solidarität aus Ihrer Sicht, Herr Gesterkamp, dann nicht doch noch viel glaubhafter für (unsere) Ihre Freiheitsrechte und für das fälschlicherweise beschworene „Große Wir“ ein, zu dem die Mehrheit der Bevölkerung garantiert nicht zählt.
Wie lange braucht es noch, bis zumindest Teile der Redaktion, bis Sie, aus ihrer Gesinnung keine Mördergrube mehr machen und Ross und Reiter beim Namen nennen?
Ich würde mich freuen, wenn ich mich denn täuschte!
Nachtrag: "für (unsere)"
In meinem Word-Text war (unsere) durchgestrichen!!!
Ujeh – über den Grundgedanken »FDP« als liberale Partei könnte man ja diskutieren. Wobei ich NICHT der Meinung bin, dass sie eine solche ist. Allerdings liegt sie in Einzelpositionen wie zum Beispiel den flexibleren Zuverdienstmöglichkeiten für Hartz-4-Aufstocker oder auch bestimmten Kritikpunkten an den aktuellen Corona-Maßnahmen durchaus nicht ganz verkehrt.
Der Beitrag stellt allerdings derart viele Pfosten auf, dass ich mich schon frage, in welche Richtung diese liberale Einkehrkarawane gehen soll. Ich geh’s mal Stück für Stück durch:
Lauterbach. Okay – keine(r), der oder die noch alle beisammen hat, kann diesen Mann und seine Missionsambitionen ab. Andererseits: leider hat er sich einschätzungstechnisch weitaus näher an vernünftigen Positionen aufgestellt als die Fronde der Lockerer und Skeptiker.
#ZeroCovid. Die haben ja schon, obwohl selbst autochron linksliberal, von Links mächtig Prügel bekommen. Vom wirtschaftsnahen Teil der Kritiker erst gar nicht zu reden. Jetzt auch hier noch »totalitär« – mit geklautem Vorwurf made in Indymedia, nunmehr jedoch begründet mit den Vorzügen der guten, alten FDP. Fazit: Sie sitzen doch auf dem Trockenen. ZC wird nicht durchgehen – alles wird gut; Sie können von der Palme wieder runter.
Freiberufler, Selbständige. Die getroffenen Einschätzungen teile ich soweit – inklusive der mentalpsychologischen Vermutungen. Nur hat sich die FDP für diese Gruppen nicht gerade profiliert. Das einzige, was Lindner getan hat (außer, dass er ebenfalls eher zu den Lockerern zählt – wenn auch nicht mit politischer Verantwortung), waren wohltemperierte Hinweise auf die mangelnde parlamentarische Legitimation.
COVID-19. Die Gretchenfrage ist und bleibt: Wie kommen wir da raus? Dass geschlossene Kneipen, Masken und Kontakteinschränkungen (schwer) nerven – da bin ich mit ganzem Herzen bei Ihnen. Nur ist Lockerung (derzeit) keine ernsthafte Option – auch wenn die Liste der verbockten Fehlentscheidungen mit jedem Tag länger wird. Die allerdings legt eher die Wahl von Linkspartei oder Grünen nahe – nicht die einer Partei, für die es außer einer siebenstelligen Summe an Vermögen keinen Grund gibt, sie zu wählen.
>>Mache ich also in der kommenden Bundestagswahl das erste Mal in meinem Leben ein Kreuzchen bei der FDP?Dieser Gedanke verursacht enorme Bauchschmerzen.<<
Lieber Herr Gesterkamp, hören Sie auf Ihren Bauch, der ist in diesem Fall schlauer und hätte diesen Artikel wahrscheinlich gar nicht erst verfasst. :-)
Nichts gegen echt-liberale Positionen, die – allerdings sehr selten – hin und wieder mal in der FDP aufscheinen. Aber deswegen gleich eine „Speerspitze“ neoliberaler Politik wählen???
Was ist es denn konkret, weswegen Sie FDP wählen würden? Das wird in dem Artikel überhaupt nicht deutlich. Und ist der Coronaspuk im Herbst nicht schon weitestgehend vorbei?
Oder soll einfach mal die FDP ins Spiel gebracht werden - für eine von vielen Grünen- und SPD-Funktionären gewünschte Ampel-Koalition?
Da ist er schon: https://thomasgesterkamp.com/buecher.html
Ironie off.
Herr Gesterkamp, bitte gehen Sie gar nicht wählen.
Und bitte schreiben Sie keine Artikel mehr, wenn man das vorliegende Pamphlet als solchen bezeichnen möchte.
Bei Gesternkamp muss ich immer an meinen einstmals besten Freund P. M. denken, der früher in der DKP, kurze Zeit auch bei DIE LINKE sozialistische Politik machte oder machen wollte.
Auch er war ein Meister der Fettnäpfchensuche. Gesterkamp braucht sich da nicht zu verstecken.
Wer ernsthaft überlegt, in diesen Zeiten FDP zu wählen, sollte seinen politischen Kompass überprüfen. Weitergehende Vorschläge hab ich beim Kursivlesen der vorliegenden Kommentare bereits schmunzelnd entdecken dürfen.
Mir bleibt da nur, mich dem Autor für ein Coaching anzubieten. Nähere Informationen erhalten Sie über die hiesige Redaktion.
Eine Vorwarnung: Qualität hat ihren Preis.
Wählen Sie die Linke, Herr Gesterkamp. Die Wahrscheinlichkeit, dass Sie dann etwas Geld übrig haben oder Prozesskostenhilfe beantragen können, ist bei einer Linksbeteiligung an der politischen Macht deutlich größer als bei einer FDP-Beteiligung.Bemühen Sie für Ihre Freiheitsrechte die Justiz.
Was Sie wählen, ist wurscht. Eine Leutheusser macht noch keine liberale Partei, und Wahlwerbung ist geduldig.
Fleischhauer war wohl etwas fixer dabei, herauszukriegen, was ihm gemäß ist. Wie kann sich ein erwachsener Mann solange gegen die eigene Bestimmung wehren?
Um den Verfasser mal konkret beim Wort zu nehmen:
„Und in Teilen seiner Linkspartei kursieren totalitär anmutende „Covid-Zero“-Strategien, nach dem Motto: Wenn wir die Wirtschaft komplett stilllegen und so dem Kapitalismus die Grundlage entziehen, sinken die Zahlen binnen zwei Wochen auf Null. Diesen Blödsinn unterstützen übrigens auch führende Virologen aus dem engsten Beraterkreis um Angela Merkel.“
Mit einem kleinen Schlenker wird suggeriert, dass die „Covid-Zero-Strategen … dem Kapitalismus die Grundlage entziehen“ wollen, um dem (diesem Sumpf entspringenden?) Virus binnen zwei Wochen den Garaus zu machen.
Da kann man durchaus von Perfidie reden. Vor Jan Fleischhauer muss der Autor sich damit nicht verstecken.
Versuchen Sie es doch mal mit den "DIE GRAUEN", dann schlagen Sie das Programm der ganzen Altparteien mit einer Klappe