Schon der erste Tropfen wirkt. Eine warme Welle durchflutet Christophs Körper. „Kein Rausch, nur Ruhe“, beschreibt der 53-jährige Kölner dieses Gefühl. 130 Milligramm reines Heroin, gedrückt unter ärztlicher Aufsicht. Hinter einer großen Panzerglasscheibe beobachtet ein Mediziner, wie sich Christoph ein Pflaster auf den Handrücken klebt und die leere Spritze ordnungsgemäß „abwirft“, wie es hier heißt. Durch eine Röhre fällt sie auf der anderen Seite der Wand in einen Entsorgungsbehälter.
Heute entscheidet der Bundestag in den Abendstunden über Christophs Zukunft. Er ist einer von etwa 150.000 Heroinabhängigen in Deutschland. Und einer von 33 Kölner Süchtigen, die ihr Heroin jede
eroin jeden Tag umsonst von der Stadt bekommen. Reines, pharmazeutisch hergestelltes Heroin, sogenanntes Diamorphin. Es ist genau so bemessen, dass Entzugserscheinungen ausbleiben und sich Christoph zuhause um die hochschwangere Freundin und seine alte Mutter kümmern kann – anstatt wie früher hektisch auf Kölns Straßen herumzulaufen und zu dealen oder anders das Geld für den nächsten Druck zu beschaffen. Wer den jung gebliebenen Christoph in seiner Sportjacke und seinen Sneakers sieht, würde nicht glauben, dass er seit 23 Jahren an der Nadel hängt.Entscheidung gegen die Union?2002 wurde Christoph in die Arzneimittelstudie mit Diamorphin aufgenommen, einem Modellprojekt zur „heroingestützten Behandlung Opiatabhängiger“ in sieben deutschen Städten. Seit 2007 das Projekt ausgelaufen ist, befindet sich diese Therapieform in einem rechtlichen Schwebezustand. Die 300 verbliebenen Patienten und ihre Betreuer bangen um die Zukunft der Versorgung. Dem sollen nun zwei inhaltlich übereinstimmende Gesetzesentwürfe, einer vom Bundesrat und einer von SPD, FDP, Grünen und Linken, ein Ende setzen. Am heutigen Donnerstag entscheiden die Berliner Parlamentarier, ob die „diamorphingestütze Substitutionsbehandlung“ in die Regelversorgung der Krankenkassen aufgenommen werden soll. Ob der Staat also künftig Heroin als Medizin erlauben möchte, bezahlt von der Gemeinschaft.Die Union ist dagegen. Die Drogenbeauftragte der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Maria Eichhorn, befürchtet einen Ansturm auf den Stoff vom Staat und eine damit verbundene „Kostenflut“ für die Krankenkassen, deren Spitzenvertreter ebenfalls vehement abwinken. Deswegen beantragen Unionsabgeordnete als Gegenvorschlag, ein weiteres Modellprojekt zu starten, in dem die Kriterien für die Aufnahme in eine heroingestützte Behandlung genauer gefasst werden sollen. So wird es am Donnerstagabend zur Kampfabstimmung kommen.Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Sabine Bätzing (SPD), will, dass das jahrelange Ringen um diese Therapie bei der heutigen Bundestagentscheidung ein Ende findet: „Ich erwarte, dass die Gesetzentwürfe die notwendigen Mehrheiten erhalten und die Überführung in die Regelversorgung gelingt.“ Bätzing fände es „ethisch verwerflich“, diesen schwerkranken Menschen eine nachgewiesen wirksame Behandlungsform zu verwehren. „Bei einer Gruppe von Schwerstabhängigen ist die Behandlung mit Diamorphin eine erfolgreiche Therapieform und ein Angebot zur Überlebenshilfe.“ Das habe die Studie zum Bundesmodellprojekt gezeigt. Diese verglich zunächst über zwölf Monate die Heroin- mit der Methadonbehandlung, besonders in Bezug auf die Verbesserung des Gesundheitszustands und den Rückgang des illegalen Drogenkonsums. „Das zentrale Ergebnis des bundesdeutschen Modellprojekts zeigt eine statistisch signifikante Überlegenheit der Heroin- gegenüber der Methadonbehandlung bei beiden Kriterien“, heißt es im Abschlussbericht des Zentrums für Interdisziplinäre Suchtforschung an der Universität Hamburg (ZIS).Dem Methadon überlegenSeit Anfang der 90er Jahre wird Methadon in der Therapie verwendet. Einige Opiatabhängige erreicht man damit allerdings nicht, weil sie wie Christoph anfangs auch den Rausch brauchen und Methadon lediglich die Entzugserscheinungen lindert. Christoph sagt, beim Methadon fehlten ihm „Erlebnisse im Kopf“ und er habe „keinen psychischen Ruhezustand erreicht“. Viele kehren nach einer erfolgslosen Methadon-Therapie wieder in die Szene zurück – das bestätigen auch die Bundesärztekammer und die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft. Reines Heroin halte Schwerstabhängige besser in der Therapie, das hat die Arzneimittelstudie ebenso gezeigt wie auch Untersuchungen in der Schweiz, den Niederlanden und Großbritannien.Die Bundesregierung rechnet laut aktuellem Drogenbericht mit 3.000 bis 5.000 schwerstkranken Heroinabhängigen, die bei einer Überführung in die Regelversorgung ihren Anspruch geltend machen wollten. CDU- und CSU-Politiker haben da Zweifel. Schließlich würden deutlich mehr die Kriterien des Gesetzesentwurfs für eine diamorphingestützte Behandlung erfüllen: Etwa 80.000 Opiatabhängige sind über 23 Jahre alt und haben nach fünf oder mehr Drogenjahren mindestens zwei erfolglose Therapien hinter sich. Aber wollen all diese 80.000 Süchtigen auch eine solche Therapie beginnen, wie die Bundestagsfraktion der Union und die Krankenkassen befürchten? Der Psychologe Verthein vom ZIS meint Nein. Eine heroingestützte Therapie sei noch lange nichts für all jene, die die Kriterien erfüllen. Schließlich müssen die Patienten jeden Tag zwei- bis dreimal kommen und werden streng kontrolliert, etwa ob sie Alkohol oder andere Drogen konsumiert oder sich in der Szene aufgehalten haben.Die Kosten der Behandlung sind laut Verthein aufgrund des hohen Patienten-Personal-Schlüssels, der Sicherheitsvorkehrungen und nicht zuletzt des Stoffes selbst zwar bis zu dreimal höher als bei der Substitution mit Methadon. Die Ausgaben seien jedoch laut Verthein auch damit zu rechtfertigen, dass die Kosten im sozialen und justiziellen Bereich umso seien wären und somit sogar ein volkswirtschaftlicher Nutzen bestehe. Der verbesserte Gesundheitszustand der Abhängigen entlaste die Krankenkassen an anderer Stelle. Während der Modellstudie erreichten acht Prozent der Patienten die Abstinenz. Der CDU/CSU-Bundestagsfraktion reicht das nicht aus: „Abstinenz ist das Idealziel“, so Eichhorn. Der Vorstandschef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Andreas Köhler, befürchtet gar eine grundsätzliche Abkehr vom Ziel der langfristigen Abstinenz. „Viele Abhängige werden diese Möglichkeit der dauerhaften Heroinvergabe suchen“, schätzt er.Christoph hingegen sieht sich an dem Punkt, wo er aufhören könnte. Er will es wegen seiner ungeborenen Tochter, seiner Familie und nicht zuletzt für sich selbst. „Die Psyche spielt eine sehr große Rolle bei uns Abhängigen“, sagt Christoph. Aber noch zögert er. Er befürchtet, dass er, einmal aus dem Projekt ausgestiegen, nicht mehr zurück kann, falls er doch rückfällig werden sollte. „Mit der Regelversorgung würde ich mich sicherer fühlen.“