Präsident Tayyip Erdogan lässt sich von Warnungen nicht im Geringsten beeindrucken. Die Stellungen der PKK im Nordirak werden weiter mit voller Wucht bombardiert und damit die innenpolitischen Auseinandersetzungen im eigenen Land angeheizt. Inzwischen liegt ein Verbot der prokurdischen HDP in der Luft.
Für die US-Regierung freilich handelt es sich dabei keineswegs um eine Aggression – sie spricht von Selbstverteidigung. Was für Washington allein zählt, das ist das Bekenntnis aus Ankara zur Anti-IS-Front, so fragwürdig die Umstände auch immer sein mögen.
Schon lange stand die AKP-Regierung für ihren fragwürdigen Umgang mit dem Islamischen Staat (IS) in der Kritik. Die USA wie die EU warfen ihr vor, die 900 Kilometer lange Grenze zu Syrien nicht ausreichend zu sichern. Kritische Journalisten dokumentierten per Video den Waffennachschub und einen regen Transit von IS-Kämpfern über die türkische Grenze, die offenbar geduldet wurden. Es gab Augenzeugenberichte, die bestätigten – islamistische Kombattanten nutzen die türkische Grenzregion zu Syrien als Rekrutierungs-, vor allem aber als Rückzugsort, um verwundete Kämpfer behandeln zu lassen. Auch wenn sich eine direkte Waffenversorgung des IS durch den türkischen Staat nicht eindeutig nachweisen lässt, bleiben Zweifel und klandestine Kanäle denkbar.
Gibt es nun eine Zäsur? Unmittelbar nach dem Bombenanschlag von Suruç am 20. Juli, bei dem 31 Jugendliche starben, antworteten türkische Spezialeinheiten mit groß angelegten Razzien gegen mutmaßliche IS-Geheimzellen. Zugleich flogen Kampfjets Luftangriffe gegen IS-Stellungen in Nordsyrien. Ein längst überfälliger Schritt, ist aus dem NATO-Hauptquartier, aus Washington, London oder Berlin zu hören. Wie kam es nach langem Zögern zum Sinneswandel? Verwiesen wird allenthalben auf das Inferno von Suruç. Doch deutete sich schon vor dem 20. Juli ein moderater Schwenk an.
Als Anfang des Monats die Regierung von Premier Ahmet Davutoğlu an der Grenze zu Syrien Truppen zusammenzog, interpretierten dies viele Beobachter als Vorspiel für einen Angriff auf die kurdische PYD (Partei der Demokratischen Union), die in Syrien als Teil des Koordinationskomitees für einen demokratischen Wandel mit ihren Milizen befreite Zonen der Kurden gegen den IS und die Assad-Armee verteidigt. Der Kolumnist Oral Çalışlar von der Tageszeitung Radikal schien dagegen überzeugt zu sein, dass ein Schlag gegen den IS bevorsteht. Es kam zu verschärften Grenzkontrollen und zu einem intensiven Informationsabgleich mit etlichen NATO-Staaten. Am 18. Juli gab es in den Verhandlungen zwischen den USA und der Türkei über gemeinsame Operationen in der Syrienkrise einen Durchbruch. Nun wurde der US-Luftwaffe zugestanden, für Angriffe gegen Stellungen der Dschihadisten im Irak und in Syrien vom Stützpunkt Incirlik zu starten – aus Sicht des IS eine Provokation, die das Fass zum Überlaufen brachte und zum Anschlag von Suruç führte.
Dass Ankara seine IS-Politik korrigiert – dafür sind vor allem drei Entwicklungen maßgebend: Zunächst einmal schwächt das Atomabkommen zwischen Iran und den fünf UN-Vetomächten plus Deutschland die türkische Position im Nahen Osten. Teherans Votum für ein Agreement mit dem Westen dämpft regionale Führungsansprüche des Erdoğan-Regimes. Der Iran kommt nun für pragmatische Arrangements mit den USA und darüber hinaus in Betracht. Zweitens gab es Rückschläge bei der Annäherung an Russland und China. Die Interessenkonflikte mit Moskau können trotz florierender Wirtschaftsbeziehungen nicht überbrückt werden, wofür es besonders einen Grund gibt – die Aufnahme der Halbinsel Krim in die Russische Föderation und die aus Sicht Ankaras zu geringen Rechte der Krimtataren, einer turksprachigen ethnischen Gruppe, der sich die Türkei verpflichtet fühlt. Überdies verhindert der Syrien-Konflikt den Schritt hin zu strategischen Beziehungen mit Moskau, da Russland momentan nicht daran denkt, Präsident Baschar al-Assad fallen zu lassen. Wladimir Putins Besuch am 24. April in Armenien, als er zum 100. Jahrestag des Genozids der Opfer gedachte, sorgte gleichfalls für Unmut in der türkischen Führung. Schließlich: Trotz laufender Gespräche über den Kauf eines Raketenabwehrsystems steht es auch mit China nicht zum Besten. Ankara stört sich an der Assimilationspolitik gegenüber der muslimischen uigurischen Minderheit.
Drittens wäre die Wahlniederlage der AKP vom 7. Juni geltend zu machen, als die absolute Mehrheit verloren ging. Seither wird ein Koalitionspartner gebraucht. Von den in Frage kommenden drei Parteien – der sozialdemokratischen Volkspartei CHP, den Rechtsnationalisten der MHP und der prokurdischen HDP – ist keine bereit, den willigen Domestiken der AKP zu geben.
Strategie der Strafaktionen
Zweifellos ergibt sich aus der ungeklärten Machtfrage für Tayyip Erdoğan und Ministerpräsident Davutoğlu ein Motiv, mit dem Vorgehen gegen den IS zugleich Angriffe gegen Positionen der kurdischen Arbeiterpartei PKK im Nordirak zu befehlen. Die Absicht ist leicht erkennbar: Wer unter dem Eindruck dieser Konfrontation Neuwahlen ausruft, kann an die patriotischen Instinkte der türkischen Mehrheit appellieren, von nationalem Notstand reden und Vorsorge treffen, dass die prokurdische HDP nicht erneut die Zehnprozenthürde nimmt. Dann hätte die AKP eine realistische Chance auf die erneute absolute Mehrheit. Man könnte Erdoğans Präsidialregime vorantreiben. Der Preis für ein solches Machtspiel ist freilich hoch – der vor zwei Jahren begonnene Friedensprozess mit der PKK wird geradezu pulverisiert.
Will die türkische Regierung glaubwürdig sein, kann sie nicht den IS und mit der PKK zugleich dessen Widersacher im Nordirak angreifen. Man schwächt den IS, indem man dessen Gegner schwächt? Solcherart Logik ergibt nur dann einen Sinn, wird dahinter ein egozentrisches Machtkalkül der AKP vermutet, die den inneren Feind PKK braucht, um sich zu behaupten. Wenn unter diesen Umständen von der türkisch-kurdischen Verständigung noch etwas zu retten ist, dann nur durch einen neuen Ansatz: Statt wie bisher auf informelle Gespräche mit Abdullah Öcalan und der PKK zu setzen, sollten vielmehr legale kurdische Akteure einbezogen werden. Dabei steht die PKK ebenfalls in der Verantwortung. Sie sollte eine Strategie der Strafaktionen aufgeben, die dazu geführt hat, dass am 22. Juli zwei Polizisten in der südtürkischen Provinz Şanlıurfa als Vergeltung für den Anschlag von Suruç getötet wurden. Ungeachtet dessen braucht es eine umfassende außenpolitische Kurskorrektur der AKP-Regierung. Die wäre jedoch nur dann glaubwürdig, würde sie von einer demokratischen Wende im Inneren flankiert. Nur so lässt sich der angeschlagene Ruf im Kampf gegen den IS wiederherstellen.
Kommentare 11
Und auch hier, geht es nur um Interessen – nicht um die Menschen! Und der geschätzte NATO Partner Türkei wird noch gebraucht!
Jeder Krieg oder bewaffnete Konflikt spült Geld in die Kassen der Mordwerkzeughersteller und damit Geld in die Kassen des Arbeiters und damit Geld in die Kassen der Warenwirtschaft und damit Geld in die Kassen des Staates und damit....
"Sozial ist was Arbeit schafft"
Man könnte das prinzipiell auch abkürzen und gleich Menschenmaterial verheizen, zu Wurst verarbeiten oder schöne Waren draus basteln. Das geht aber nicht, denn die Charaktermaske des Sozialen, des Religiösen oder whatever Zwangsvorstellung man einem anderen Maskenträger gegenüber verkaufen will, muss zum eigenen Seelenheil aufrecht erhalten bleiben.
"Menschen vernichten, das konnte auch schon Dschingis Khan"
... für Frieden und Freiheit und Demokratie und Nation und Volk und Menschenrechte und Geld und Mehrwert und Gott und unser beschissenes degeneriertes Affenhirn.
Danke fuer den Beitrag.
Unter diesen Umstaenden sollte die CHP mit der AKP eine grosse Koalition bilden, damit es nicht zu Neuwahlen kommt.
Entschuldigung. Der Kommentar war nicht an Sie gerichtet, sondern an den Verfasser des Artikels.
Imao konnte und kann es keinen Frieden zwischen Kurden und der von Kurden als türkisch empfundene Zentralregierung in Ankara geben: weniger weil es unverrückbar so sein muss, eher vmtl aus ggf historisch gewachsenen Gegebenheiten:
man möchte eigentlich garnicht so genau wissen, wie Kurden miteinander umgehen werden, sollte es zu dem von ihnen favorisierten kurdischen Staat überhaupt kommen - was ja auch nicht so schlimm wäre.
Umso bedauerlicher, dass die Bundesregierung in Berlin mit weiteren Waffenlieferungen aus der Gießkanne, wie es aussieht, an unterschiedlichste kurdische Strömungen das Dilemma von Kurden weiter vertieft zu haben scheint.
Für solche Einsichten muss man nichteinmal "Durchs wilde Kurdistan" von Karl May gelesen haben.
Andererseits aber auch scheint die Erdogan-Administration es ganz genau wissen zu wollen, wie sie es mit seiner, Erdogans, Religion zu halten scheint.
So gesehen spielen Kurden das Spiel doch sauber mit...
oops
statt:
Andererseits aber auch scheint die Erdogan-Administration es ganz genau wissen zu wollen, wie sie es mit seiner, Erdogans, Religion zu halten scheint.
ggf besser
Andererseits aber auch scheint die Erdogan-Administration sich beständig rückversichern zu wollen - wo auch immer - dass es bei allen Waffenlieferungen ins eigene Land nichtzuletzt gegen die Erdogan-Administration selbst geht, die sich zusehends selbst desavouiert...
Von den Strafaktionen, die Kurden selbst durchführen, scheinen selbst Kurden nichts zu ahnen: spätestens da sollten kritische Fragen auch an die PKK erlaubt sein.
Erdogan macht ja schon lang was er will. Die Gelegenheit ist günstig die Reihen hinter ihm zu schließen und massiv gegen Gegner vorzugehen. Es ist nur sehr traurig für die Türkei. Es wird nicht lang dauern bis die erste Bombe hochgeht oder jemand in einem Touristenort umherschießt.
Krimtataren und Uiguren. "Ankara stört sich an der Assimilationspolitik gegenüber der muslimischen uigurischen Minderheit." - Sie geben ganz klar das Bild, dass die heutige Türkei ein islamisierender Staat ist. So etwa wie Saudi-Arabien. Oder wird die Assimilationspolititk gegenüber den Tibetern auch kritisch gesehen?
Hab gerade gelesen, das Erdogan das Krim-Referendum NIE anerkennen wird und das er dem Weltkongress der Krimtataren in Ankara (!) versprochen hat, er werde die Krimtataren "immer beschützen".
Warum hat er das nicht getan, solange die Krim zur Ukraine gehörte und die Siedlungen der zurückgekehrten Tataren ohne Strom, Gas und Wasser blieben?
Erdogan ist schon lange geschwächt und seine Politik erzeugt in der Türkei bürgerkriegsähnliche Zustände.
Dass die Türkei nicht an einem Tisch mit Russland, China, USA, Frankreich oder Großbritannien sitzt, scheint der AKP-Islamist zu vergeßen. Außerdem hat die türkische Außenpolitik seit ihrer Neu-Ausrichtung und ihre neo-osmanischen Zielrichtung nur Flops produziert.
Gerade in Syrien hat Davutoglu mit diesen Konzepten einen Riesenschaden angerichtet, aber Assad nicht bezwingen können. Dazu hat der Bürgerkrieg offiziell 1,6 Mio. Flüchtlinge in die Türkei gebracht. Mit dieser verarmten und notleidenden Gruppe weiß die Türkei selber nichts anzufangen, daher hat man sogar ganz offen gesagt, diese Menschen sollten in die einzurichtende Sicherheitszone ziehen, dort könnten sie dann leben.
Also auf Deutsch: Der oberste Islamist zieht seine muslimische Brüderliebe für die Syrer jetzt offiziell zurück und will diese Menschen nach Nord-Syrien deportieren, wo der Krieg herrscht und wo diese Menschen keinerlei Infrastruktur haben.
Ob die Strategie aufgeht, darf man bezweifeln, bislang ging's zu 95 Prozent gegen Kurden und angeblich gegen die PKK. Die Islamisten haben bislang wenig von Erdogan zu befürchten gehabt, alle seine Verbündeten in Syrien berufen sich sogar auf den Islam oder wollen die Sharia einführen - sind also eigentlich so was wie die Feindbeschreibung der NATO.