Die Halle, in der Lech Walesa einst Elektromotoren reparierte, steht verlassen da. Der niedrige Backsteinbau auf dem Gelände der Danziger Werft ist Niemandsland, gearbeitet wird hier schon lange nicht mehr. Einst umfasste das Werftareal 140 Hektar, inzwischen hat sich der Moloch auf die durch Kanäle vom Festland getrennte Ostrowo-Insel zurückgezogen - auf dem früheren Werksgelände hingegen existieren nur noch eine Schiffsrampe und ein paar Verwaltungsgebäude. Der Rest rostet und bröckelt seinem Untergang entgegen.
25 Jahre nach dem legendären Streikende vom 31. August 1980 und der Solidarnosc-Gründung ist diese Werft kein strategischer Betrieb mehr, der mit Arbeitsniederlegungen Minister in Warschau zum Zittern bringen könnte. Geblieben ist
ieben ist eines der unzähligen polnischen Unternehmen, denen die Systemwende schwer zugesetzt hat. 17.000 Menschen arbeiteten früher hier, heute sind es gerade noch 3.500.In ihrer Blütezeit war die Werft eine Stadt in der Stadt: mit Zulieferfirmen, Werksspital, Arbeiterheimen und Gastronomiebetrieben - von denen einige wenige überlebt haben. Die Bar U Kazia ("Bei Herrn Kazio") serviert nach wie vor das polnische Nationalgericht Pierogi, zu acht Zloty, sprich zwei Euro. Der Andrang hält sich allerdings in Grenzen.Unweit der Bar, direkt gegenüber Tor III, liegt das Büro von Zenon Grudzien. Der Chef des Werkschutzes hat fast sein ganzes Arbeitsleben in der Werft zugebracht. 1968 fing er in der Produktion an, arbeitete später in der Verwaltung bis er zum Tor III übersiedelte. "Hier an dieser Schiffsrampe wird die Passat Breeze, ein Panamafrachter, für den Stapellauf vorbereitet", erklärt er über einen Plan der Werft gebeugt, "das müssen Sie sich unbedingt anschauen."500 Jahre SchiffsbauDie Passat Breeze sieht tatsächlich beeindruckend aus. 212 Meter lang und 32 Meter breit ist der Riese, der noch auf der Rampe steht. An der gigantischen goldenen Turbine gibt es letzte Ausbesserungsarbeiten, am Schiffsdeck arbeiten unzählige Schweißer. Während der Innenausbau noch zwei Monate Zeit hat, gilt es jetzt schon, den Stapellauf vorzubereiten. Während der Taucher Mariusz den Kanal, in den die Passat Breeze gleiten soll, nach eventuellen Hindernissen absucht, hat sein Kollege Adam Maciek ein paar Minuten Zeit, um an die Streiks von damals zurückzudenken: "Ich glaube, jeder hier in der Werft - egal ob er dabei war oder nicht - wird das Gleiche sagen. Die Solidarnosc, die Streiks, das war ganz wichtig für Polen. Aber das, was danach kam, haben wir uns alle ein bisschen anders vorgestellt." Seinem Onkel, der ebenfalls in der Werft arbeitete und jetzt in Rente ist, versucht Maciek, so wenig wie möglich von der Arbeit zu erzählen: "Der bekommt doch jedes Mal feuchte Augen, wenn er meine Erzählungen hört. Früher, da lagen an jeder Anlegestelle und in jedem Dock Schiffe. Und jetzt? Nichts. Dabei machen wir wirklich gute Arbeit."Das sieht auch Jasper Eggers so, dessen sauberer blitzroter Overall sich so auffällig von den ölverschmierten blauen und grauen Monturen der Werftarbeiter abhebt. Eggers, ein Manager der Hamburger Reederei, von der die Passat Breeze in Auftrag gegeben wurde, ist voll des Lobes für die Danziger: "Warum wir in Polen bauen? Weil hier wirklich auf Qualität Wert gelegt wird. Noch immer wird sehr viel von Hand gemacht. In anderen Werften ist das längst vorbei. Und außerdem: Danzig kann auf 500 Jahre Schiffsbautradition verweisen." Trotz Tradition und Maßarbeit: Die Werft hat zwar im Moment ausreichend Aufträge - demnächst sollen 13 Schiffe vom Stapel laufen -, doch ständig drohen Produktionsverzögerungen, weil das für den Bau der Schiffe nötige Material nicht bezahlt werden kann.In der sieben Hektar großen Halle, der Sektion K3, in der aus Stahlplatten Teile der Schiffsrümpfe geschweißt werden, sind die Arbeiter acht Stunden lang pro Schicht einem Höllenlärm ausgesetzt, nicht der beste Ort für lange Gespräche. Adam Maciek brüllt dennoch ein paar Sätze gegen den Maschinenlärm: "Das Problem ist, dass es keinen Eigentümer gibt, dem die Werft wichtig ist. Wir haben hier einfach keinen Hausherren, der sich um den Betrieb wirklich kümmern würde."Seit die benachbarte Werft Gdingen den Danziger Betrieb als Dependance übernommen hat, verstärkt sich der Eindruck, dass an der Weichselmündung ein Tod auf Raten inszeniert wird. Abgesehen von der Lackiererei hat es die letzten spürbaren Investitionen in den siebziger Jahren gegeben.Der Schweißer Maciek macht allerdings nicht nur die Direktoren aus Gdingen dafür verantwortlich, auch die Nachwendezeit: "Das mit der Freiheit ist so eine Sache: Die Kette, an der wir hängen, ist jetzt zwar länger. Dafür haben sie auch den Futternapf weiter weggestellt", schreit er, bevor er sich wieder hinter seinem Ruß geschwärzten Gesichtsschutz versteckt, mit dem er im bläulichen Schein des Schweißlichts ein wenig aussieht, als wäre er ein Teufel aus einem surrealistischen Theaterstück.Darüber, ob die von der Solidarnosc bewirkte Systemwende zwangsläufig die Lebensbedingungen für die breite Masse so verändern musste, wie das inzwischen der Fall ist, gibt es in Polen - wie nicht anders zu erwarten - auch ein Vierteljahrhundert nach den legendären Streiks keinen Konsens.Lech Walesa im DachbodenbüroTatsache ist, dass die 21 Forderungen der Solidarnosc, die Polens Regierung am 31. August 1980 zu erfüllen versprach, über weite Strecken sehr sozialen, ja sozialistischen Charakter hatten: Senkung des Pensionsalters für Frauen auf 55, für Männer auf 60 Jahre, automatische Lohnanpassung an die Teuerungsrate, Ausbau des Gesundheitswesens, Verlängerung des bezahlten Karenzurlaubs auf drei Jahre, mehr Kinderbetreuung, um arbeitende Frauen zu entlasten - ausnahmslos Dinge, die heute in Polen kaum jemand öffentlich zu fordern wagt.Dass sich sein damaliges Programm der 21 Forderungen fundamental von dem unterschied, was nach der Wende passierte, ist natürlich auch dem Streikführer des Jahres 1980 bewusst. Doch Lech Walesa, der Arbeiterheld im Ruhestand, der inzwischen aus der Gewerkschaft ausgetreten ist und heute in Danzig unter der noblen Adresse Dlugi Targ ein bescheidenes Dachbodenbüro unterhält, hat dafür schnell eine Erklärung parat: "Ich war damals kein Demokrat, sondern Stratege einer Revolution. Wir wussten, dass wir nur siegen konnten, wenn wir uns nicht spalten ließen und es verstanden, alle sozialen Gruppen einzubinden. Deshalb waren die berühmten 21 Forderungen von Danzig so breit gestreut - damit jeder etwas fand, womit er sich identifiziert konnte." Dann, als das sozialistische System besiegt war, habe es Spaltungen geben müssen: "In einer Demokratie kann sich jeder für diejenigen der 21 Forderungen einsetzen, die er für wichtig hält."Tränen eines DirektorsSo oder so ähnlich erklären fast alle Veteranen den Wandel von der "Ersten Solidarnosc" des Streikjahres zur zweiten, nicht mehr so kämpferischen Solidarnosc der Nachwendezeit: egal ob Adam Michnik, der heute als Chefredakteur der meinungsbildenden Gazeta Wyborcza Polen auf Neoliberalismus und ewige Treue zu den USA einschwört, oder Wladyslaw Frasyniuk, der mit der kleinen Demokratischen Partei das liberale Credo der Solidarnosc hochzuhalten versucht. Exponenten der früheren Solidarnosc-Linken folgen ihren politischen Träumen längst anderswo. Manche von ihnen wie der Breslauer Jozef Pinior, der nach der Verhängung des Kriegsrechts Ende 1981 das Vermögen der Gewerkschaft vor der Beschlagnahme rettete, landeten dabei mangels Alternativen im Lager der ehemaligen Gegner: Als Europaparlamentarier sitzt Pinior heute für das Bündnis der Demokratischen Linken (SLD) in Straßburg.Die Riege jener, die auch ein Vierteljahrhundert danach den 21 Forderungen die Treue halten, bleibt indessen überschaubar, auch wenn die Namen der Proponenten in polnischen Ohren durchaus bekannt klingen: Anna Walentynowicz zum Beispiel, jene Kranführerin, deren Wiedereinstellung eine der Streikforderungen war. Oder das Ehepaar Joanna und Andrzej Gwiazda, im Jahr 1980 als Streikführer fast so wichtig wie Walesa. "Die Neoliberalen", urteilt Andrzej Gwiazda heute, "sagen ganz eindeutig: Wir wollen, dass ihr hungert, denn sonst hätten wir weniger. Gewinne müssten daher viel stärker besteuert werden, sonst dienen sie nur dem Luxus und den Extravaganzen der Reichen." (s. auch Freitag 33/05)Und doch waren, wie es scheint, die Ideale von 1980 nicht von Anfang an zum Scheitern verurteilt. In München kommen einem 72-Jährigen immer noch sehr leicht die Tränen, wenn er sich an die Streiktage erinnert - Klemens Gniech, 1980 Parteimitglied und Direktor der Lenin-Werft. Nach anfänglichem Zögern stellte er sich auf die Seite der Streikenden, verlor als Vergeltung dafür mit dem Kriegsrecht seinen Job und wanderte schließlich aus. "Die Monate nach der Unterzeichnung der 21 Punkte von Danzig bis zum Kriegsrecht, das war für mich als Direktor die schönste Zeit. Alle zogen an einem Strang, die Absenzen und Krankenstände gingen markant zurück, wir haben unsere Produktion um 20 Prozent steigern können. Die Werft blühte auf. Das Kriegsrecht hat diese Entwicklung erstickt." Gniech ist überzeugt: Wenn der damalige Parteichef General Jaruzelski die von der Solidarnosc erkämpften Mitbestimmungsrechte nicht beseitigt hätte, die Werft stünde ganz anders da. Vielleicht auch ganz Polen.Visionen von Synergia 99Heute ist die Politik an Perspektiven für die Schiffsbauer indessen nicht wirklich interessiert. Obwohl Danzig seinen Reichtum stets dem Meer, dem Handel und eben dem Schiffsbau verdankte, obwohl Ökonomen davon ausgehen, dass an jedem Arbeitsplatz im Schiffsbau sieben weitere in der Zulieferindustrie hängen, scheint eine weitere Schrumpfung der Werft beschlossene Sache. Die Planungsgesellschaft Synergia 99, die zu zwei Dritteln der US-Investmentfirma TDA Capital Partners gehört, entwickelt bereits im Auftrag der Stadt Danzig Konzepte für eine Umgestaltung der Werft in ein postmodernes Architekturexperiment aus pittoresk in Szene gesetzten Industrieruinen, Wohnparks und Shoppingzentren. So richtig vom Fleck gekommen ist das Projekt, das seine Büros in einem frisch renovierten Backsteinpalast am Werftgelände unterhält, bislang allerdings nicht. "Das liegt daran", versucht ein rechter Politiker aus Danzig zu erklären, "dass für viele Investoren die Stadt noch immer eine Hochburg der Gewerkschaftsbewegung ist. Das schreckt ab." In früheren Tagen war der Mann übrigens Solidarnosc-Berater.
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