Der Monat zwischen Purim, wenn an den Sieg der Juden über den bösen Haman gedacht wird, und dem Pessachfest zur Erinnerung an den Auszug aus Ägypten und das Ende der Sklaverei unter dem Pharao ist die richtige Zeit, um über das Verhältnis zwischen Juden und Antisemitismus nachzudenken. Dieses heikle Thema, von Klischees und ständiger Panik geprägt, hat überraschend wenig Erhellendes zu bieten. Die Schriftsteller Jean-Paul Sartre und A.B. Yehoshua zählen zu den wenigen, die es gewagt haben, den heißen Kern der Sache zu berühren. Sartre, der sich dem Thema in der Schrift Überlegungen zur Judenfrage (1946) widmete, betrachtete die Juden trotz seines gewissenhaften Kampfes gegen den Antisemitismus lediglich als Produkte des antisemitischen Standpunktes. Er – der kaum etwas darüber wusste, was die Juden im positiven Sinne ausmacht – vertrat die existenzialistische Auffassung, dass eigentlich der Antisemit bestimmt, wer Jude ist. Jahrzehnte später schrieb Abraham B. Yehoshua in Homeland Grasp (2008): „In einem gewissen tragischen Sinne ist der Antisemitismus zum wichtigsten und natürlichsten Bestandteil der Definition der jüdischen Identität geworden.“ Diese gehe so weit, dass „vielen Juden das Nichtvorhandensein von Antisemitismus verdächtig und unnatürlich erscheint.“
Es ist Zeit für den nächsten Schritt und die Frage, ob wir überhaupt ohne einen äußeren Feind – ohne den Antisemitismus – existieren können. Haben wir den Mut, Einspruch zu erheben gegen die peinliche und absurde Schlussfolgerung Sartres und Yehoshuas, wir bräuchten den Antisemitismus, um uns selbst zu definieren?
Man kann sich nicht auf diesen Pfad begeben, ohne davon auszugehen, dass Antisemitismus tatsächlich existiert. Es gibt einen sehr komplexen Judenhass, der teils historisch begründet ist und mit dem naiven Glauben einher geht, die Juden seien für den Mord an Jesus Christus verantwortlich. Dies gehört zur religiösen DNA, die immer wieder durch religiöse Zeremonien und Rituale reproduziert wird.
Glücklicherweise ist der heutige Antisemitismus sehr schwach im Vergleich zu seiner früheren Stärke und – möglicherweise – auch seinem künftigen Potential. Vor einigen Jahren verkündeten bei uns die Schlagzeilen einen „Anstieg antisemitischer Vorfälle um 300 Prozent“. Es stellte sich heraus, dass es sich um einen Anstieg von 19 auf 59 Vorkommnisse in einem Jahr und einem europäischen Land handelte. Eine magere Ausbeute gegenüber den Erscheinungsformen rassistischen, nationalistischen Hasses zwischen Siedlern und Arabern in Kiryat Arba oder Yitzhar, wie sie sich jeden Tag ereignen. Geringfügig gegenüber den Bekundungen von Hass und Rassismus, die wir einander selbst täglich entgegen schleudern. Ich habe – immer wenn der Antisemitismus auf dem Vormarsch war – die Freude in den zionistischen Hinterzimmern über den möglichen Anstieg der Aliyahs, der jüdischen Neueinwanderungen, gehört. Schon der geringste Antisemitismus im Westen genügte dem Katastrophen-Zionismus als Beweis für die Richtigkeit des zionistischen Weges.
Zuletzt hat sich das immer mehr zugespitzt. Israels Politiker kehren jegliche Kritik – gerechtfertigte wie ungerechtfertigte – unter ein und denselben antisemitischen Teppich. Immer wieder wird angemessene Kritik mit Antizionismus verwechselt, um unbedingt zu vermeiden, schwierige existentielle Entscheidungen treffen zu müssen. Die Besatzung, die Ungerechtigkeiten, die Verfolgung der nichtjüdischen Minderheit in unserer Mitte – stets gilt, solange „sie“ Antisemiten sind, glauben „wir“ uns rein und im Recht.
Bislang hat dies gereicht, uns weiterhin gegen die Welt in Stellung zu bringen, immer unter dem verführerischen wie fehlerhaften Paradigma, dass „die ganze Welt gegen uns“ sei. Doch dieses historische, moralische und emotionale Bankkonto ist überzogen und steht vor dem Bankrott. Bei keinem anderen Land der westlichen Welt außer Israel war die internationale Gemeinschaft bereit, über fünf Jahrzehnte hinweg staatliche Gewalthandlungen zu dulden. Es gibt kein zweites Land, dem von dieser Gemeinschaft gestattet wird, ein großes, nicht überwachtes Nukleararsenal zu unterhalten. Von der „einzigen Demokratie im Nahen Osten“ abgesehen, existieren keine anderen Kolonialisten mehr. Noch wird das toleriert, bald könnte es damit vorbei sein.
Das größte Schtetl
Bald schon werden wir nicht länger um die Frage herumkommen, ob wir fähig sind, ohne den Hass anderer zu verstehen, wer wir sind. Brauchen wir wirklich den Antisemitismus, um unsere innere Identität zu bestimmen? Denken Sie einen Moment an eine Welt, in der Juden nicht gehasst werden, an eine Friedensutopie im Nahen Osten, an Brüderlichkeit überall dort, wo unsere Brüder leben. Unvorstellbar? Keineswegs! Wer hat noch vor einem halben Jahrhundert an die Transformationen geglaubt, die wir gerade erleben?
Bis vor wenigen Monaten war Arabien eines der weltgrößten Sammelbecken für furchtbare und bizarre Diktatoren – inzwischen befinden wir uns an der Schwelle eines offenbar historischen Wandels zum Besseren. Wenn sich die Welt derart verändert, wird dann das jüdische Volk in der Lage sein, ohne externen Feind zu überleben? Gewiss ist dies nicht.
Wir verfügen über bewährte Methoden, mit Verfolgung, Hass und Pogromen umzugehen. Aber wir haben weder Ahnung noch Erfahrung, wenn es um Offenheit und Akzeptanz geht, um vollkommene Gleichheit für Juden wie für jeden anderen. Dies bedroht uns in den tiefsten Winkeln unseres Seins und konfrontiert uns mit Fragen über unsere nationale Existenz.
Wir haben die Neigung, zu den kranken, pathologischen Formen zurückzukehren, die uns so vertraut sind: Als Junkies des Hasses isolieren wir uns von den wirklich oder vermeintlich Hassenden. Als ob das Böse, das wir kennen, dem potentiellen – und bedrohlichen Guten vorzuziehen sei. Insofern ist mit dem Staat Israel nicht nur die Lösung der Probleme misslungen, um derentwillen er geschaffen wurde – sie sind verschärft worden. Israel ist das größte Schtetl der Weltgeschichte. Eine große Stadt, umgeben von Mauern der Absonderung und Missgunst, die mit jedem Tag höher werden. Nur wenige von uns kennen eine andere existenzielle Realität als unseren unablässigen Krieg mit jedem und zu jeder Zeit. In diesem Sinne führen wir die pathologischen historischen Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden fort. Der Goi ist noch immer eine bedrohliche Figur, aber absolut notwendig. Was wären wir ohne den Goi, der uns definiert?
Wir Israelis haben leider sehr wenig für ein internes Modell nationaler Identität getan, die von Definitionen des äußeren Verfolgers unabhängig bleibt. Es ist bequem, aber nicht angenehm, die Verantwortung für unsere Identität in die Hände des Feindes zu legen. Soll doch Hitler entscheiden, wer Jude ist. Und wenn Hitler weg ist, irgendein anderer Möchtegern-Hitler wie Ahmadinedschad.
Kein Getto im Getto
Gibt es einen anderen Weg, die Realität zu begreifen und zu leben? Aber ja. Es gibt Hass in dieser Welt, doch wir haben nicht das Monopol darauf. In der Vergangenheit manifestierte sich der westliche Hass in erster Linie als Antisemitismus. Im Herzen der christlichen Welt von gestern waren wir die ultimativen Fremden.
Die christliche Welt von heute ist übersättigt mit neuen „Anderen“. Mit Muslimen, mit Arbeitsmigranten und politischen Asylanten, Heiden und Hindus. Die europäischen Antworten hierauf sind faszinierend – einige offenbaren die Lehren aus dem furchtbaren Versagen beim Umgang mit den „Anderen“ vor gerade einmal 70 Jahren, andere Antworten bezeugen ein isolationistisches Inseldenken, das von Islamophobie, Fremdenfeindlichkeit und einem panischen Rassismus getränkt ist, der auch uns nicht ausnimmt.
Ja, die westliche Welt steht wieder einmal vor Konflikten, bei denen auf das „Andere“ mit Hass und Abgrenzung reagiert wird. Doch diesmal führen wir die Liste der Ausgegrenzten nicht an. Wir sind nur ein Punkt unter anderen.
Viele von uns, besonders Premier Netanjahu, neigen zu der These, wir hätten ein Monopol und würden mehr gehasst als irgendjemand sonst. Sicher ist der Judenhass von anderer Qualität, doch sollte man die jüdische Besonderheit nicht mit anderen Formen des Hasses durcheinander bringen und nach dem Getto im Getto zu suchen, was ein verhängnisvoller Fehler wäre. Es besteht eine wundervolle Gelegenheit, diese Sicht zu korrigieren, gibt es doch eine innere jüdische Essenz – vergraben unter vielen Schichten der historischen Traumatisierung –, die nicht von äußeren Umständen abhängig ist. Ihr Herz schlägt noch, sie lebt als Humanismus, als Verantwortung für den Frieden und Universalismus ohne Grenzen. Das israelische Establishment sollte auf dieses Potenzial vertrauen – der Staat der einst Geächteten alles in seiner Macht Stehende tun, um den Geächteten von heute beizustehen. Jenes Potenzial kann ein Partner bei der Erschaffung einer weltweiten Koalition gegen den Hass sein. Eben wegen unserer Erinnerungen.
Avraham Burg war Sprecher der Knesset und Vorsitzender der Jewish Agency. Die Langfassung des Textes erschien bei Haaretz
Kommentare 13
Vor kurzem jährte sich der Prozess gegen Adolf Eichmann. Was mich wirklich verblüfft hat, war zu lesen, dass Eichmann, der den Massenmord an den Juden als sein Lebenswerk betrachtete, sehr viel Wert darauf gelegt hatte, kein geifernder Antisemit zu sein.
Manche Dinge ändern sich halt nie: Auch heute legen die Antisemiten viel Wert darauf, nicht als Antisemiten bezeichnet zu werden (außer sie heißen Mikis Theodorakis) und nicht ist ihnen kostbarer als ein jüdischer Kronzeuge, der ihnen das bestätigt.
Danke, lieber Avraham Burg, Sie haben mit ihrem Artikel wieder einmal ein paar Menschen in Deutschland glücklich gemacht: Nicht Antisemiten seid ihr, sondern Israelkritiker! Halleluja!
es wäre nett, wenn ihr auf die langfassung in ha'aretz verlinken könntet
einstweilen und zum zeichen dafür, dass verständigung auch ohne zuschreibung geht, verlinke ich auf diesen artikel
www.haaretz.com/jewish-world/news/a-palestinian-remembers-the-holocaust-1.275512
Ich habe selten so einen guten Beitrag gelesen und hoffe daß es in Zukunft noch mehr dieser Art Journalismus zu erleben gibt. Ich wünsche Ihnen, allen israelischen und allen anderen Mitbürgern alles Wahre Schöne und Gute, und möge Gott alle verblendeten erleuchten damit der frieden über uns komme.
www.jetzt-tv.net/index.php?id=huebl
Die Argumentation, der arabische Raum um Israel werde nun demokratisch und damit müsse die bisherige Haltung Israels gegenüber seinen Nachbarn geändert werden (einschließlich der Herausgabe der Kernwaffen) ist sehr sehr schlicht. Dem Autor möchte man raten, erstmal abzuwarten, wer in den nächsten Jahren in Ägypten und in Syrien das Sagen haben wird, vom Libanon und von Iran mal ganz abgesehen.
www.haaretz.com/weekend/magazine/when-the-walls-come-tumbling-down-1.353501
dankeschön!
mir scheint, die auslassungen in der übersetzung - also die nicht übersetzten teile - sind das interessanteste an dem artikel, natürlich in verbindung mit den übersetzten teilen...
die langfassung sei daher allen zur lektüre empfohlen!
"Es ist Zeit für den nächsten Schritt und die Frage, ob wir überhaupt ohne einen äußeren Feind – ohne den Antisemitismus – existieren können. Haben wir den Mut, Einspruch zu erheben gegen die peinliche und absurde Schlussfolgerung Sartres und Yehoshuas, wir bräuchten den Antisemitismus, um uns selbst zu definieren?"
Das ist natürlich eine Provokation, eine Nestbeschmutzung gar. Aber über den Tag, das Subjekt hinaus ist der äußere Feind immer gut und nützlich, kann Menschen und Ethnien instrumentalisieren, die Einheit hinter einer unter Umständen lediglich zähneknirschend akzeptierten Führung erzwingen. Da ist jeglicher Manipulation und Propaganda Tür und Tor geöffnet, historische Bezüge beinahe endlos in Breite und Tiefe.
Insofern steht es mir zwar (mangels tieferem Einblick, aber ebenfalls wegen der Weigerung, sich vereinnahmen zu lassen) nicht zu, im konkreten Fall Stellung bzw. Partei zu beziehen. Dies als Desinteresse auszulegen wäre jedoch mehr als falsch; schon beinahe eine Provokation.
Sehr interessiert gelesen!
Was ich nicht so wußte ist, dass 'Antisemtismus' auch von der Politik in Israel für ihr solitäres Gebahren ins Feld geführt wird; also dass dieser die stete Folie für eine anachronistische Auffassung von Selbstbehauptung, ja offenbar sogar für einen Zwang dazu, bildet. Dachte ich doch, das Problem des Antisemitismus würde v.a. in Europa, vor dem Hintergrund seiner antisemitischen Geschichte und auch aktueller Virulenz, nahezu jeder deutlicheren Kritik an Israel übergezogen.
Nicht wegzureden ist aber freilich die Problematik mit einigen unmittelbaren Nachbarn und insbesondere der Palästinenser.
Da sich Israel aber ja als einzige Demokratie im Nahen Osten sieht und wohl auch eher der westlichen Welt verbunden fühlt, hilft es eben am allerwenigsten, historische und religiöse Szenarios zu bemühen, um ein einziges Recht an Boden, Ressourcen und Unverletzbarkeit zu begründen. Darin äußert sich ein Betonkopf-Denken, dass eben auch nicht weiter reicht, als das der Hamas.
@Oma Kruse
Herr Burg hat den Artikel an seine Mitbürger, die Israelis, gerichtet. Nicht nur, dass dieser in der 'Haaretz' erschienen ist, ist Ihnen entgangen, sondern offenbar auch der gesamte Inhalt.
Empfehle, nochmal zu lesen!
wenn ich Avraham Burg richtig verstanden habe, dann sind ihm die aktuellen ereignisse in der region anlaß, überlegungen zu einem grundsätzlichen problem der zionistischen idee anzustellen
Ahad Ha'am hat dies (in allerfeinstem hebräisch übrigens, wenn mich mein gedächtnis nicht trügt) so formuliert:
"Antisemitismus [anti-Semitism] begat Herzl, Herzl begat the Jewish state and Zionismus, and Zionismus begat the [Zionist] Congress. Antisemitismus is therefore the cause of causes in this whole movement." (aus der ha'aretz langfassung)
dieser satz Ahad Ha'ams wurde nicht in den letzten wochen geschrieben, sondern um die zeit des 1.zionistischen kongresses im jahr 1897!
von herausgabe der kernwaffen habe ich nichts gelesen, sondern nur diese feststellung des autors:
"Es gibt kein zweites Land, dem von dieser Gemeinschaft gestattet wird, ein großes, nicht überwachtes Nukleararsenal zu unterhalten."
ich wüßte nicht, was an dieser feststellung falsch sein sollte
Danke miauxx, aber einmal lesen reicht wirklich.
Übrigens bestätigen Sie meine These :-)
Oma Kruse (jetzt mal stellvertretend für etliche andere angesprochen) wird es wohl aushalten müssen, dass ein israelischer politiker – mit sog. Deutschen wurzeln auch noch, oi-wa-woi – die deutschen oder von deutschen ausgemachten antisemiten nicht in den mittelpunkt seiner überlegungen stellt, sondern die inner-israelische legitimationsfrage stellt. Womit Avraham Burg Israel gewißlich nicht abschaffen möchte.
Er fragt einfach danach, was israelische identität ausmacht wie auch danach, welches das standing und welches die rolle Israels in einem sich verändernden Nahen Osten sein kann/sein könnte/sein wird. Alles legitime fragen, möchte mann meinen.
Avraham Burg fragt und sucht (jedenfalls in diesem artikel) nach antworten in der zionistischen ideengeschichte – was bei einem jahrelangen vorsitzenden der Jewish Agency und der World Zionist Organisation nicht besonders verwundern dürfte.
Dass Avraham Burg dabei auch mal deutliche worte gebraucht, dürfte ebenfalls nicht verwundern.
Dies ist ja nicht sein erster artikel – auch hier
www.sueddeutsche.de/politik/israelkritiker-avraham-burg-das-trauma-als-strategie-1.138599
und hier
www.zionismus.info/grundlagentexte/postzionismus/burg.htm
und nicht zu vergessen in seinem buch „Hitler besiegen: Warum Israel sich endlich vom Holocaust lösen muss“, Frankfurt am Main/New York: Campus, 2009, hat er deutliche worte gefunden.
Wie sie nötig sind, wenn statt der unabhängigkeitserklärung (siehe dazu hier: www.hagalil.com/israel/independence/azmauth.htm)
einzig und allein „Sicherheit“ zur leitlinie der politik Israels geworden ist. Was es mit dieser auf sich hat und welcher kritik sich diese leitlinie zu stellen hat, kann hier
theglobalrealm.com/2011/04/18/three-myths-of-israels-insecurity/
nachgelesen werden.
und weil nun mal die zionistische ideengeschichte nicht alles ist, nimmt er die zeit zwischen Purim und Pessah zum anlaß, die frage nach einer jüdischen ethik zu stellen. um 'das übrige' wieder un den blick zu bekommen. und weil er die haoffnung hat, dass dieses (wieder?) zum proprium werden könne.