Wenn Fußball der Politik voraus ist

Brexit Im Gegensatz zum Referendum sind die Folgen des Ausscheidens bei der Europameisterschaft klar und deutlich erkennbar
Ausgabe 26/2016
Boris Johnsons (Maske, rechts) Rhetorik hatte starke Ähnlichkeit mit der von Donald Trump
Boris Johnsons (Maske, rechts) Rhetorik hatte starke Ähnlichkeit mit der von Donald Trump

Foto: Matt Cardy/Getty Images

Für die Engländer kommt es jetzt knüppeldick. Das Ausscheiden bei der Fußball-Europameisterschaft gegen Island führt ihnen vor Augen, wo das Königreich demnächst ankommt: zwischen Atlantik und Nordsee südlich der Färöer-Inseln.

Das Ergebnis der Volksabstimmung über den Ausstieg Großbritanniens aus der Europäischen Union erweist sich überhaupt als Augenöffner. Zwar wird noch an entlegener Stelle gemahnt, die Engländer, ein Volk, bei dem traditionell rationales Handeln hoch im Kurs stehe, seien vorgeprescht bei dem Bemühen, den Europäern über Europa etwas zu denken zu geben. Dazu ist jetzt unablässig zu hören, England sei das Mutterland der Demokratie. Freilich, es hat wohl in den zurückliegenden Jahrzehnten keine Wahl, keine Volksabstimmung gegeben, die ein solches Chaos hervorgerufen hätte wie die Abstimmung über den britischen Ausstieg aus der EU. Und das nicht so sehr in Europa, wo man eigene Empfindungen ungern diplomatisch verschweigt. Es ist das Vereinigte Königreich selbst, in dem kaum einer mehr weiß, was mit diesem und jenem und erst recht mit allem zukünftig sein wird und ob das Königreich demnächst ein Vereinigtes sein kann. Die gute Queen ist auch Staatsoberhaupt von Neuseeland, aber die Kiwis gehören nicht zum Königreich.

Die Rationalität war in den vier Ländern Britanniens auf den Hund gekommen, bevor noch die Abstimmungszettel ausgedruckt waren. Schon dass Premier David Cameron ein Referendum ansetzte, war eine Schnapsidee gewesen. Jetzt übernehmen sie andere, in Deutschland zuerst Björn Höcke von der AfD, dann, mit dem Abstand weniger Tage, eine Art Schamfrist, Sahra Wagenknecht von der Linkspartei. Was der Hauptkämpfer für den EU-Ausstieg, Boris Johnson von den Tories, in seiner Kampagne an Sprüchen heraushaute und an Lügen in die Welt setzte, war Donald Trump pur. Mit einem Unterschied: Während die meisten Medien auf Trump mit Empörung reagieren, fanden sie für Johnson, der Trump sogar die Frisur abgeguckt hatte, neben aller auch heftigen Kritik das versöhnlich stimmende Wort, er sei doch immer lustig. Allein seine Nachbarn mit teuren Londoner Stadtteil Islington fanden ihn nicht mehr lustig, sondern sie beschimpften ihn am Morgen nach der Abstimmung auf der Straße mit gebotener Heftigkeit. Johnson will Camerons Nachfolger als Premierminister werden. Aber was bei den Konservativen derzeit möglich ist, kann niemand sagen. Ebenso verhält es sich mit der arg gebeutelten Labour-Party, die davor steht, ihren neuen Parteichef Jeremy Corbyn zu verlieren. Das halbe Schattenkabinett Corbyns hat hingeworfen, weil der Parteichef nur halbherzig für den Verbleib in der EU geworben hatte.

Die beiden großen Parteien werden jetzt ein Problem damit bekommen, wie ihre Abgeordneten im Unterhaus den Austritt aus der EU beschließen sollen. Denn das muss sein, wenn Brüssel reagieren soll. Die Mehrheit im Unterhaus ist für die EU. Das könnten Neuwahlen ändern. Die Konservativen könnten sich wohl entsprechend aufstellen. Aber die Labour-Abgeordneten oder ihre neu zu wählenden Abgeordneten müssten mit einer Tradition ihrer Partei brechen.

Ein Mann der stolzen Labour-Party war auch jener Fischer aus Südengland, der jetzt in das Lehrbuch über den Protestwähler (populistisch) aufgenommen werden muss. Der Fischer hatte in seiner Umgebung klar für den Brexit geworben und auch so abgestimmt. Am Tag danach war ihm erklärt worden, dass er seinen Beruf ohne die EU-Subventionen an den Nagel hängen müsse. Ob er das nicht gewusst habe? Warum er dennoch für das Ausscheiden Groß-Britanniens aus der EU gestimmt habe? „Aber ich habe doch gar nicht erwartet“, antwortete er, „dass wir gewinnen.“ Pech gehabt.

Der Autor und Journalist Jürgen Busche schreibt in seiner Kolumne Unter der Woche regelmäßig über Politik und Gesellschaft

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