Noch vor wenigen Jahren galt die Türkei als eines der wirtschaftlich erfolgreichsten Transformationsländer. In der Amtszeit des Premiers Recep Tayyip Erdoğan erzielte die türkische Wirtschaft zwischen 2002 und 2011 eine durchschnittliche Wachstumsrate von 5,5 Prozent, das Bruttoinlandsprodukt (BIP) kletterte von 232,5 Milliarden US-Dollar 2002 auf 821,9 Milliarden 2013. Und das BIP pro Kopf verdreifachte sich von etwas über 3.000 US-Dollar auf über 10.000 US-Dollar. Durch die Dynamik sank auch der Anteil der Staatsschulden von 90 Prozent des BIP 2001 auf unter 40 Prozent 2010.
Den Grundstein dafür hatte der Ökonom und einstige Weltbank-Vizepräsident Kemal Derviş gelegt. Er war 2001 als Superwirtschaftsminister der linksnationalen Regierung u
egierung unter Bülent Ecevit mit weitreichenden Kompetenzen zur Bewältigung der bis dato heftigsten Wirtschaftskrise der modernen Türkei ausgestattet worden. Die nutzte er für Umschuldungen, Strukturreformen und das konsequente Aufräumen des kriselnden Bankensektors. Doch wegen der noch massiv spürbaren Folgen der Krise konnte Erdoğans AKP 2002 die Macht erringen. Sie hielt sich fortan diszipliniert an das von Derviş initiierte Reformprogramm. Zum einsetzenden Aufschwung trug auch der Zuwachs ausländischer Direktinvestitionen bei, die sich ab 2005 vervierfachten. Export und Import stiegen ebenso, die türkische Wirtschaft integrierte sich immer stärker in den Weltmarkt.Dies ging mit einem schichtübergreifenden Wohlstandsgewinn einher: Arbeitslosigkeit, Armut und soziale Ungleichheit gingen zurück, Sozialleistungen und die Gesundheitsversorgung verbesserten sich deutlich, die urbanen Infrastrukturen und das Straßen- und Schienenverkehrsnetz wurden massiv ausgebaut. Mit ihrer Politik des günstigen Geldes befeuerte die türkische Zentralbank zusätzlich einen Immobilienboom, der den Wohlstand der Bevölkerung weiter wachsen ließ.Nur noch 3,3 ProzentSeit 2012 hat sich das Wirtschaftswachstum verlangsamt, das BIP wuchs zwischen 2012 und 2015 nur noch um durchschnittlich 3,3 Prozent. Für 2016 werden 3,5 Prozent vorausgesagt. Allerdings ist das tatsächliche Wachstum in den vergangenen Jahren stets hinter offiziellen Prognosen geblieben.Seit der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/09 steckt die Türkei zudem in einer middle-income trap: Der wirtschaftliche Aufholprozess kommt nicht mehr richtig voran, die Türkei verbleibt in der Gruppe der Länder mit mittlerem Einkommensniveau. Das BIP pro Kopf stagniert seit 2008 bei etwa 10.000 US-Dollar, nachdem es sich von 2001 bis 2008 verdreifacht hatte.Zu wenige hochproduktive Jobs, niedrige Zinsen und starke Konsumneigung führen zu einer im internationalen Vergleich deutlich niedrigen Sparrate von 12,6 Prozent des BIP, in China zum Beispiel beträgt sie 40 Prozent. Dies wiederum erschwert eine eigenständige Finanzierung des hohen Leistungsbilanzdefizits, zu dessen Ausgleich die Türkei stark von ausländischen Kapitalzuflüssen abhängig ist. Verantwortlich hierfür ist auch die Abwertung der Türkischen Lira seit Anfang 2015 um 30 Prozent, was die Inflation geschürt, den Export jedoch gefördert hat. Die Ausfuhren stiegen um vier Prozent auf 158 Milliarden Dollar, die Einfuhren gingen um 3,7 Prozent auf 242 Milliarden zurück.Seinen Glanz hat das türkische Wirtschaftswunder aus mehreren Gründen verloren, allen voran die geopolitischen Turbulenzen. Das Land kompensierte Exporteinbußen im Zuge der europäischen Finanz- und Wirtschaftskrise durch die Erschließung neuer Absatzmärkte in Nahost und Afrika. Deren Potenziale aber konnte es wegen des Krieges in Syrien, des Erstarkens des „Islamischen Staates“ in Nordirak und Nordsyrien und der diplomatischen Abkühlung mit Ägypten und Irak nicht ausschöpfen. Zusätzlich belasten Wirtschaftssanktionen Russlands den Export, zusammen mit der Furcht vor neuen Anschlägen werden sie auch den türkischen Tourismus arg in die Bredouille bringen. Sieben Prozent der Erwerbsbevölkerung arbeiten im Tourismus, der vier Prozent des BIP erwirtschaftet. Experten prognostizieren Einnahmeverluste in Höhe von zwölf Milliarden US-Dollar, der Buchungsstand für die Hochsaison im Sommer liegt bereits jetzt 40 Prozent unter dem Vorjahreswert.Zudem ist die Türkei mit den Gezi-Park-Protesten und dem Korruptionsskandal 2013 in eine Phase politischer Instabilität geraten. Zusammen mit der fortwährenden Wahlkampfatmosphäre und der Eskalation des Kurdenkonflikts sorgt das für alles andere als ein günstiges Geschäftsklima. In- wie ausländische Investoren schrecken wegen der abgekühlten Konjunktur, des Mangels an Vertrauen in Schlüsselinstitutionen und der als politisch gelenkt wahrgenommenen Justiz zurück. Weit verbreitet ist der Eindruck, dass politisch linientreue Unternehmen etwa bei Vergabe von Staatsaufträgen eine Vorzugsbehandlung erhalten. Genährt wird das durch Klagen der Staatsanwaltschaft gegen manche Manager regierungskritischer Konzerne und Medien wie der Doğan-Gruppe.Mit knapp 80 Millionen Einwohnern und einem BIP von etwa 800 Milliarden Dollar steht die Türkei auf Rang 17 der 20 wichtigsten Industrie- und Schwellenländer. Erdoğans Zielvorgabe, bis 2023 mit einem BIP von 2.000 Milliarden zu den Top Ten zu gehören, erscheint immer unrealistischer.Um die Wirtschaftsdynamik wieder zu beleben, hat die Regierung zuletzt eine Reformagenda angekündigt, die unter anderem flexiblere Arbeitsmärkte, ein effizienteres Steuersystem sowie weitere Anreize für Investitionen vorsieht. Erdoğan und seine engsten Berater sind weiter erpicht auf eine monetäre Lockerung, um die Binnennachfrage zusätzlich zu stimulieren. Aufgrund der 30-prozentigen Erhöhung des Mindestlohns wird sie 2016 ohnehin der Hauptwachstumsmotor bleiben.Doch aufgrund des von Erdoğan fast obsessiv verfolgten Ziels der Einführung eines Präsidialsystems scheint zweifelhaft, dass die Regierung die nötigen Kapazitäten für neue Wachstumsansätze und strukturelle Reformen aufbringen kann. Vonnöten sind eigentlich auch Maßnahmen, die das Vertrauen in die Institutionen stärken. Die Türkei braucht ein neues Modell, das neben Tourismus- und Bausektor verstärkt auf die Förderung privater Investitionen im Industriesektor, die Stimulierung organisatorisch-technologischer Innovationen, die Steigerung der Arbeitsproduktivität sowie der Frauenerwerbsquote und die Schaffung hochproduktiver Erwerbsmöglichkeiten setzt. Erforderlich dafür wäre aber neuer Reformgeist statt Wirtschaftspopulismus.