Vor zwei Jahren, am 30. Juli 2004, verstarb Wolfgang Ullmann - Theologe und Kirchenhistoriker, Minister während der Wendezeit in der DDR, Abgeordneter der Volkskammer und des Bundestages, später Europa-Parlamentarier, seit 1992 einer der vier Herausgeber der Wochenzeitung Freitag - "ein gerechter Lehrer", wie ihn Christoph Hein 2004 in seinem Nachruf nannte.
Am 14. Oktober 2003 war Ullmann einer Einladung von Friedrich Schorlemmer zu einem Podiumsgespräch an der Evangelischen Akademie Sachsen-Anhalt in Wittenberg gefolgt. Zur Erinnerung an Wolfgang Ullmann dokumentieren wir Auszüge des seinerzeit geführten Interviews.
FRIEDRICH SCHORLEMMER: 1945, als der Zweite Weltkrieg zu Ende ging, waren Sie 16 Jahre alt. War das damals für Sie ein Zusammenbruch oder auch eine Befreiung?
WOLFGANG ULLMANN: Beides. Zunächst Befreiung, weil durch das, was passiert war, mein Hass auf Hitler und seine Leute so groß geworden war, dass mir eigentlich fast alles recht erschien, was diese Herrschaft beendete. Ich weiß noch, dass meine Mutter mich warnen musste, als ich mich gar zu erfreut über diesen Zusammenbruch äußerte. Sie sagte: "Junge, pass auf, ich werde jetzt Bettlaken nehmen und sie zum Zeichen der Kapitulation aus dem Fenster hinaus hängen. Mach dir klar, wir sind ab jetzt rechtlos."
Und das habe ich dann sehr bald erfahren müssen. Wir haben viele sehr freundliche Sowjetsoldaten in Dresden erlebt, aber ich habe eben auch erlebt, wie Frauen aus unserem Häuserblock antreten mussten - dazwischen so ein paar verschüchterte, feige Männer - und sich die russischen Soldaten die Jüngste herausfischten, um sie zu vergewaltigen. Ich habe dabei gemerkt, das war keine Triebhandlung, sondern eine gezielte Demütigung. Das vergisst man natürlich nie. Insofern war es beides, Befreiung und Erniedrigung, weil die Befreiung eben in solchen Formen stattfand, was natürlich Folge des Zweiten Weltkriegs gewesen ist.
Sie haben dann in Göttingen studiert, dort promoviert und sind danach aus dem so genannten freien Westen in die kommunistische Diktatur zurückgekehrt. Warum?
Aus zwei Gründen. Ich wollte nicht an der Universität bleiben, denn mir schwebte keine akademische Karriere vor. Dafür hatten mich die Göttinger mit ihrer Universität doch zu wenig beeindruckt. Der zweite Grund war: Ich fühlte mich in der Adenauer-Bundesrepublik überhaupt nicht wohl. Wenn man mich fragt: "Reicht das aus, um eine kommunistische Diktatur zu bevorzugen?", würde ich natürlich Nein sagen. Aber 1953 hatte die Ulbricht-Regierung auf sowjetisches Drängen den neuen Kurs verkündet und sozusagen ihr Programm der drastischen Einführung des Sozialismus zurücknehmen müssen. Daher hatte ich den Eindruck - ich kannte ja auch die DDR in ihrer "Jugendsündenblüte" -, so schlimm wird es nicht mehr sein, dass du dich jedes Mal mit den Volkspolizei-Leuten im Zug krachen musst, wenn du mal nach Berlin fährst. Diese Zeiten sind wohl vorbei.
In gewissem Sinne war das auch der Fall, aber ich habe sehr schnell als junger Pfarrer lernen müssen, dass die SED-Diktatur nach wie vor bestand und dies natürlich Konsequenzen für das persönliche Leben hatte.
Haben Sie Ihren Schritt später bereut?
Meine Frau und ich haben´s getan und brauchten es auch nicht zu bereuen. Wir haben zusammen im Pfarramt wunderbare Sachen erlebt und auch gemeinsam unsere Kinder großziehen können. Freilich unter - vor allem für meine Kinder - schwierigen Bedingungen, nachdem ich das Zeugnis von der Staatssicherheit bekam, ein "Feind der gesellschaftlichen Entwicklung" zu sein.
Als ich dann akademischer Lehrer für Kirchengeschichte geworden war, habe ich das nicht mehr so stark zu spüren bekommen, weil ich allmählich zu den privilegierten Schichten gehörte - aber meine Kinder eben nicht. Und ich kann ihnen dafür nur meine Dankbarkeit aussprechen. Als ich Anfang der achtziger Jahre die Anfrage aus Heidelberg bekam, ob ich mich dort für eine Professur bewerben wolle, habe ich gesagt: "Jetzt sollen mal die Kinder entscheiden, sie haben meinetwegen schon genug ertragen müssen. Und da haben alle drei ohne Zögern gesagt: "Vater, du bleibt hier!"
Ihr Weg in die Politik begann mit der Unterzeichnung einer Erklärung von "Demokratie Jetzt"* am 12. September 1989 - die übrigens Manfred Stolpe drei Tage später persönlich auf der Bundessynode verteilt hat. Ich will das nicht vergessen, weil manche das vergessen machen wollen! Ein Wechsel von der Wissenschaft in die Politik - was ging in Ihnen da vor?
Ich hatte überhaupt nicht die Absicht, Politiker zu werden, und habe als Dozent weitergearbeitet. Als ich dann aber von Demokratie Jetzt an den Runden Tisch delegiert wurde, ging ich zu meinem Kuratoriumsvorsitzenden und sagte: "Das hat keinen Zweck. Das wird jetzt ein Fulltimejob. Ich kann den Studenten nicht irgendetwas vormachen und unvorbereitet kommen, das mache ich nicht."
Worin bestand das entscheidende Motiv, diesen Schritt zu gehen?
Dass ich in die Politik geriet, hing einfach mit meinem Pfarramt zusammen. Ich habe mein Predigen immer als Lehren verstanden. Also, nicht über die Köpfe hinwegreden, sondern den Leuten Lehren vorlegen - etwas, woran sie sich halten können und was standhält in den Auseinandersetzungen des Lebens. Und das setzte sich als Kirchengeschichtler fort - da musste ich über die Politik reden, das konnte gar nicht ausbleiben. So geschah es, dass ich am ersten Juniwochenende 1989 nach Breslau eingeladen wurde und zwar zu einem Treffen mit Amerikanern, Polen, Niederländern, Westberlinern, Westdeutschen und auch Ostdeutschen, um in einer Konferenz mit dem polnischen Club der katholischen Intelligenz darüber nachzudenken, was wir aus Kreisau machen könnten - jenem Ort, an dem die wichtigste Widerstandsgruppe gegen Hitler ihre Programme entwickelt hatte. Ich hielt in Breslau einen Vortrag und möchte Ihnen daraus einen Absatz vorlesen. Ich denke, daraus geht hervor, warum ich in jene politischen Zusammenhänge verwickelt wurde:
"Am Vormittag des 15. Februar 1945 fuhr ein knapp 16-Jähriger, mit dem Fahrrad aus Richtung Königsbrück kommend, auf das bombardierte Dresden zu, noch immer nicht willens, die wahnsinnige und zugleich kindische Hoffnung aufzugeben, die berühmte Innenstadt, eines der Symbole Europas, werde doch wohl nicht zerstört sein. Beim ersten Blick ins Elbtal wurde er eines Schlimmeren belehrt. Die Brühlsche Terrasse hatte für immer aufgehört, der Balkon Europas zu sein. Aber noch ganz andere Dinge hatten aufgehört. Die Hitze zitterte über den rauchenden Resten der Häuserblöcke. Trotzdem fröstelte ihm, als er über die nur wenig beschädigte Carola-Brücke fuhr. Es stand fest, die strategisch wichtigen Elbbrücken gehörten nicht zu den Bombenzielen. Was getroffen werden sollte, war genau jenes einmalige Ensemble von Landschaft und Architektur, eines von jenen, die gute Europäer wie Winckelmann oder Schlegel zu erinnern pflegten, wenn sie sich vergegenwärtigen wollten, wie weit die Menschheit heimisch geworden sei auf dem Planeten Erde. Dieses also hatte aufgehört. Daran würde man sich nie wieder erinnern können, auch nicht, wenn man Bilder aufsuchte und betrachtete, denn jetzt war auf der Straße, von deren einstiger Pracht noch so viel Breite geblieben war, dass man ungehindert zwischen Trümmern links und rechts fahren konnte, Folgendes zu sehen: Ein junges Mädchen kam dem Radfahrer auf der sonst leeren Straße entgegen, die Augen mit beiden Händen bedeckt.
Auch eine dieser unsinnig hilflosen Gebärden, musste der Rad fahrende Junge denken, sich die Augen zuzuhalten, wo man die Hitze der zerbombten Häuser von rechts und von links fühlt, Kleider und Unterkleider vom Brandgeruch durchtränkt sind. Erst einen Moment später erkannte er: Auch sein eigener Gedanke war eine solche Gebärde unsinniger Hilflosigkeit, denn darum handelte es sich.
Was er für Steine an beiden Seiten der Straße gehalten hatte, waren alles Leichen. Also, auch das hatte aufgehört: Die Möglichkeit, Menschen von Steinen zu unterscheiden. Das kann man demnach mit Waffen zustande bringen, die bis auf den heutigen Tag konventionell genannt werden, dass Menschen wie verbrannte Steine aussehen, dass verbrannte Steine von Leichen nicht mehr zu unterscheiden sind auf dem Scheiterhaufen des ermordeten Dresden. Und das wird der damals 15-Jährige nie wieder vergessen. Völlig gleichgültig ist ihm seit jenem Vormittag auf der zerstörten Ringstraße in Dresden die Frage, welcher Nationalität die Flugzeuge waren, aus denen die Bomben fielen, die Grenzen zwischen Menschen und Steinen annullierten. Um das auch noch äußerlich zu bekräftigen, ließen die in den Apriltagen um Dresden operierenden deutschen Truppen keinerlei Zweifel aufkommen, dass sie willens waren, auch noch die letzten Reste bewohnbarer Häuser dem Erdboden gleich zu machen, und sie hätten es auch zweifellos getan, wären sie von der einmarschierenden Sowjetarmee nicht daran gehindert worden."
Dieses Bild des zerstörten Dresdens ist eine so lebensbestimmende Erfahrung gewesen, dass ich es mir nicht erlaubte, meine Wissenschaft als ein Sondergebiet neben den Tagesereignissen der Politik zu betreiben. Wenn man so etwas erlebt hat, dann bleibt einem ein geradezu lebensbestimmender Wille: So etwas darf nicht noch mal passieren!
Ich bin ganz sprachlos nach einem Text, der mehr ist als ein Text.
Es ist nun wieder sonderbar, dass 1945 jenes begann, dessen Ende wir nunmehr im Sommer 1989 herannahen fühlten - die einen verängstigt, die anderen hoffnungsvoll. Aber ich habe nicht wirklich daran gedacht, dass dieses Ende im Herbst 1989 beginnen würde.
Als es geschah, sind Sie Anfang 1990 in das Modrow-Kabinett berufen worden und waren plötzlich Minister ohne Geschäftsbereich.
Wissen Sie, wie mein Ministerium aussah? Es bestand aus einem Zimmer, in dem meine Assistentin saß, und meinem eigenen Arbeitszimmer. Nun muss ich aber zur Ehre der damaligen DDR sagen, dass - wenn ich irgendeinen Wunsch hatte - mir der ganze Ministerrat zur Verfügung stand. Ich habe auch andere überredet, als Vertreter des Runden Tisches in die Regierung Modrow einzutreten. Es gab heftige Widerstände dagegen, vor allem aus der SPD, die befürchtete, ihren guten Ruf zu beflecken, wenn sie Mitglied einer kommunistischen Regierung würde. Ich muss sagen, ich hatte keine Berührungsängste und sage heute zuweilen: "Ja, ich bin mal Mitglied einer kommunistischen Regierung gewesen."
Sie gehörten 1990 nicht zu denen, die einen schnellen Weg zur Einheit wollten und einen Parteienstaat in bloßer Anlehnung an das andere Deutschland ablehnten. Sie waren deshalb in der Debatte um eine neue, gemeinsame Verfassung sehr aktiv. Was drängte Sie, sich so intensiv Verfassungsfragen zu widmen?
Ich war gar nicht - wie man mir immer wieder nachgesagt hat - für einen möglichst langen oder langsamen Prozess der Vereinigung. Ich wollte nur die richtige Reihenfolge und nicht mit der Währungsunion anfangen - dafür zahlen wir heute noch. Dass wir inzwischen in Deutschland einen Verschuldungsrekord aufgestellt haben, nahm damals seinen Anfang. Man kann nicht ungestraft 400 Milliarden drucken. Vergleichen Sie das mit der Einführung des Euro. Zehn Jahre hat das gedauert! Und die Vereinigung der beiden deutschen Währungen war sehr viel schwieriger, als eine Gesamtwährung für die EU herzustellen, bei der man von einem homogenen Währungsgefüge ausgehen konnte. Aber bei der Währungsunion mit der DDR geschah alles Hals über Kopf: Es hieß, am 1. Juli gibt es das neue Geld und fertig. Und dann gab es die Arbeitslosigkeit, die inzwischen auf das ganze Land übergegriffen hat.
Mein Interesse an einer neuen Verfassung war auch ganz praktischer Natur. Ich habe zum großen Schrecken meiner Fraktion damals in der Volkskammer im Mai 1990 - also vor der Währungsunion - gesagt: Liebe Leute, seid euch im Klaren, wir treten der Bundesrepublik bei. Selbstverständlich, es gibt gar keine Alternativen, war die Antwort. Worauf ich meinte: Dann können wir das jetzt beschließen, dann sind wir Herr des Verfahrens. Meine Vorstellung war, dass man beispielsweise die Grundbücher der DDR völlig neu anlegt und damit in die Verhandlungen zur Wiedervereinigung geht. Unter diesen Umständen wäre das Verfahren "Rückgabe vor Entschädigung" unterblieben. Hätte man das in der DDR so getan, wäre keine Bundesregierung in der Lage gewesen, das zu übergehen. Aber die lieben Leute haben das leider nicht kapiert und sich das Verfahren aus der Hand nehmen lassen.
Aus einer neuer Verfassung ist letzten Endes nichts geworden ...
... was Folgen bis auf den heutigen Tag hat. In unserem Verfassungsentwurf, den wir seinerzeit in der Frankfurter Paulskirche präsentierten, stand all das drin, was jetzt ansteht: eine Neuordnung des Föderalismus, eine bessere Rechtsausstattung der Länder und Kommunen, um nur ein Beispiel zu nennen. Uns wurde vorgeworfen, wir wollten die Achse des Grundgesetzes nach links verschieben. Wissen Sie, da packt einen doch der Ingrimm: Dieselben Leute, die das damals gesagt und uns im Spiegel lächerlich gemacht haben, betiteln jetzt ganze Spiegel-Ausgaben mit dem Wunsch, das Grundgesetz verbrennen zu wollen.
Sie waren gegen die drei Kriege, die seit 1999 geführt wurden - gegen die Luftangriffe auf Jugoslawien, gegen die Intervention in Afghanistan, gegen den Irak-Krieg. Warum?
Dazu ganz klar: Die Probleme, die in Ex-Jugoslawien aufgetreten waren, erheischten eine ganz andere Antwort als Krieg. Die westliche Politik - besonders die Kohl-Regierung - hat dabei große Schuld auf sich geladen, weil sie das Selbstbestimmungsrecht der Völker, auf das wir uns in der DDR auch berufen haben, als ein Recht aufgefasst hat, das sich auch gegen andere Völker richten kann - also ein Selbstbestimmungsrecht über andere Völker und so quasi ein Faustrecht zur Zerstörung vorhandener Staaten ist.
Um solche Probleme zu lösen, gab es eine Organisation wie die OSZE, die just aus diesem Grunde geschaffen wurde, damit so etwas wie in Jugoslawien nicht passiert. Sie ist dann gar nicht mehr einbezogen worden. Im Grunde genommen war der Kosovo-Krieg genauso inszeniert wie der Erste Weltkrieg, indem man Milosevic ein Ultimatum gestellt hat, das auf eine Kapitulation hinauslief: Entweder Serbien gibt den NATO-Truppen volle Bewegungsfreiheit innerhalb seine Grenzen oder es kommt zu militärischen Maßnahmen.
Der Afghanistan-Krieg war eine Reaktion auf den 11. September: Es sollte ein Krieg gegen den Terror sein - aber was ist das für ein Krieg, ein Krieg ohne klaren Gegner? Ohne klare Ziele? Ja, es ging gegen Osama bin Laden, den wollte man fangen. Haben Sie irgendwelche Anstrengungen bemerkt, das zu tun? Und dann stellte sich plötzlich heraus, das eigentliche Ziel des Anti-Terror-Feldzuges ist der Irak - das alles ist schlechthin unerträglich.
(*) Demokratie Jetzt gehörte zu den Oppositionsgruppen in der Wendezeit.
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