Wer also bin ich, wenn ich hier bin

Identitätenjetlag Europa, vom Rande her gesehen. Aus dem Skizzenbuch einer Reise nach Tel Aviv

Kontinental ist Europa, was die Zahl der Vorstellungen betrifft, die sich an diesen Begriff heften. In einer kleinen Serie haben wir die Verschiedenheit dieses Denkens aufgezeigt. Freitag-Herausgeber György Dalos thematisierte das doppelte historische Bewusstsein in Ungarn (Freitag 15/07), der kroatische Kultursoziologe Zarko Paic schilderte den Balkan als mentalen Krisenherd, auf dem der Westen das Süppchen seiner Ressentiments kocht (Freitag 17/07). Die lettische Schriftstellerin Laima Muktupavela empfahl das Mahl am gemeinsamen Tisch als wirksames Mittel gegen die dauernde Abgrenzung vom Anderen (Freitag 21/07), Leander Scholz erkannte im Demokratiedefizit Fluch und Segen Europas (Freitag 24/07). Zum Abschluss schickt Rabea Edel nun Notizen vom Versuch, sich seiner selbst zu vergewissern in den Stunden übernächtigten Reisens an den Rand.

I

Man muß eine Weile stehen bleiben und schauen, wie es sich mit den Gegebenheiten verhält, die man nicht nutzt. An der Unterführung zum Shuk Carmel sitzt Rahina und verkauft getrocknete Früchte in großen Tüten, die sie rund um sich herum verteilt hat. Drei rote, gelbe, orangefarbene süße Berge. Hinter ihr hängen T-Shirts mit dem Logo der defence force, america don´t worry israel is behind you, neongelb auf grünem Baumwolluntergrund, auch in Säuglingsgröße zu haben. Rahina schläft ein, ihr Kopf knickt zur Seite, die Füße in den engen Schuhen sind geschwollen. - Im Italienischen gibt es den Ausdruck anima spicca: das Herz einer Frucht, die sich mühelos aus dem Fleisch lösen lässt.

Seit 28 Stunden bin ich losgelöst, aber an mir klebt noch Fruchtfleisch (und Schale). An der Passkontrolle trage ich den falschen Namen. Nach einer Stunde zwischen bekopftuchten Frauen mit Kopfhörern, aus denen Popmusik klingt, und zwei jungen Männern in Baggyjeans, die mir aufmunternd zunicken, darf ich einreisen. "Are you sure, that you are German? Are sure, your parents are only German? So why did they give you this name? It´s not a german name." Nach einer Stunde weiß niemand mehr, warum ich hier warten muss. Familiengeschichten sind immer so lang und einsichtig wie die Mutter, die sie erzählt. Oder eben nicht. "Yes, I am". Ich habe einen roten Pass. Routinekontrollen. "Ein System ist immer nur angreifbar, wenn es durchschaubar ist", sagt später ein Freund. "Fatimah" sagt er und will, dass ich auch lache. "Deinen Namen schreibt man eben eigentlich anders."

Rahinas linker Fuß zuckt im Schlaf. Ein Junge greift im Vorbeilaufen in die Früchte, in seiner Faust die Aprikosenstücke, stopft sie sich in den Mund.

Monate sind träge und langmütig, aber ich bin nur wenige Tage hier.

~

Die Häuser zerfallen vor dem Meer und werden nur von innen liebkost. In grellen Farben, türkis, gelb und orange. Ein Café neben dem anderen. Dazwischen die spitzhütigen Buden der Lotterie. Die Geschichte, an der ich schreibe, wird nicht um ihrer selbst willen erzählt, sondern um einer Stadt willen. Um der Widersprüche willen. Ähnlichkeiten sind viel erfundener als alles andere. Wer also bin ich, wenn ich hier bin?

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21.00 Uhr

Ein Fabrikloft in Florentin. Die Gäste tragen Kopfhörer, simultanes Sprachenchaos im Ohr, immer wieder fällt die Technik aus. Es wird geredet und getrunken. Auf der Bühne fächeln sich die Diskutierenden Luft zu. Vieles, was man über Tel Aviv wissen könnte, weiß ich nicht. Die utopischen Schichten blättern ab und wollen berührt werden. Nach dreiundzwanzig Stunden ohne Schlaf erkenne ich mich nicht in den Worten der deutschen Autoren wieder, die only political correctness formulieren wollen. Wer will es ihnen verdenken. Avirama Golan fordert zum soul searching auf: "Wenn wir in Israel über Deutschland reden, reden wir dann vor allem über uns selbst? Und wenn die Deutschen über Israel sprechen, sprechen sie dann über sich, über die Art und Weise, in der Israel in Europa gewachsen ist, außerhalb von Europa?". - "The important question is to what extent each side takes pleasure at the absorption of the other, while he actually serves as a lever for understanding ourselves", antwortet der israelische Soziologe. Und der Idee eines europäischen Staates fehlt die Notwendigkeit. Noam schiebt mir einen Teller mit Auberginen hin. "Schon angekommen?", fragt er.

~

9.00 Uhr

Über Nacht haben sich die Dinge verschoben. Sie haben ihre Farbe und ihre Konsistenz geändert und ihre Namen vertauscht. Wenn man die Balkontüren öffnet, steht da schon die Hitze wie eine Wand. Der gewundene Platz vor dem Hotel ist wie ein Fisch, der sich vom Lärm gestört fühlt und träge mit den Flossen schlägt. Dann stieben die kleinen Fische, aus denen er besteht, auseinander.

Am Flughafen in Frankfurt ratterten die Departure-Tafeln in Sekundenschnelle hinter einander weg. Ebenso verändert sich die Identität, abhängig vom Land, in dem man ist. Ich werde für eine Russin gehalten, für eine Französin, für eine Polin, die Haare sind gefärbt, sage ich, das zählt nicht. Mein Englisch hat einen Akzent. Wer man ist, hängt von dem Gegenüber ab, den man zu verstehen sucht. "The identity is being coloured by other persons", sagt Dorit Rabinyan, eine junge israelische Schriftstellerin, "there is always a difference between the one you are, when you go and the one you are, when you return. You can call it the identity-jetlag. So what is stranger to you: feeling home or not feeling home?".

Das Tryptichon, das in ein einziges Bild übergeht: ein grünes Feld, dahinter das Meer, die Frau, die ein Familienbild in die Kamera hält (kurz vor Hamburg, Mai 1986, da bin ich gerade vier).

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14.00 Uhr

Wenn man sich nicht in den Bus traut, läuft man zu Fuß. Meine Freunde hier lachen darüber. So, wie sie darüber lachen, dass man sich im Café immer an den Rand setzt, lieber mit dem Sherut fährt, sich neben den Reservisten mit der Eule auf dem Oberarm sicherer fühlt auf der hintersten Bank des Überlandbusses, aber auf den Märkten in die Menge stürzt, feilscht und schon nach zwei Tagen lernt, so wie alle die Warteschlangen zu umgehen, indem man sich vorne anstellt, zwischen den Hutschachteln, den Platzhaltern der Bärtigen. - Ich laufe von der Mitte der Stadt in den Norden und zurück. Von der Mitte der Stadt in den Süden und zurück. Soldaten am Strand beim Gruppenfoto. Ein Frommer schreit Gebete, vielleicht um den Verkehr anzuhalten und die Radios zum Verstummen zu bringen. Und die, die Einkaufen gehen, zur Arbeit, an den Strand, die ihr Handy wie ein Funkgerät vors Gesicht halten und hineinbrüllen, und jeder kann über das Mikrophon dem Gespräch folgen.

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Wenn Sharav, der heiße Wind, geht, überzieht er die Stadt mit einem gelben Himmel. Es wäre besser, nicht zu atmen. Wir trinken Arrak. Niemand schläft hier zu keiner Tages- und Nachtzeit. Flugzeuge über der Stadt wie in Zeitlupe, keiner erwartet hier wirklich Touristen.

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11.20 Uhr

Im Autobus nach Jerusalem sitzen Charedim und Soldaten, Frauen mit gelangweilten Blicken hantieren ebenso gelangweilt mit ihren Maschinengewehren. Die zwei Männer unterhalten sich laut durch ihre Bärte und Hüte hindurch. Hier ist alles aus dem gleichen Stein gebaut. Die Widersprüche sind anderswo zu finden, als in der Architektur einer Stadt. Und jeder Vergleich hinkt. Wie das Bild von der Ziege auf dem Berg Zion, die den kranken Fuß nur vorsichtig aufsetzt.



II

Gott hat die Menschen verstreut, damit sie einander nicht hören, steht da. Graffito in einem Innenhof am Diezengoff-Square, an der Mauer liegt träge eine Katze und putzt sich die Augen. Wenn die Sonne untergeht, hört auch der gelbe Wind auf.

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18.35 Uhr

Es ist nicht möglich müde zu sein, aber es ist möglich, sich mitten auf einer Verkehrsinsel Jerusalem als einen nicht all zu weit entfernten Ort vorzustellen. Und man denkt an einen Sonntag in Berlin, die Stadt ist sommerleer und staubig, niemand auf der Straße unterwegs, Kirchengeläut. Bald auch die Rufe eines Muezzins vom Band. Wenn man nach Westen schaut, weiß man, dass dort das Meer ist, und auf der anderen Seite Italien, Griechenland, der untere Zipfel eines Kontinents, der vorgibt ein Staat zu sein (sein zu wollen), wie ein Kind, das sich ein Kostüm überwirft und mit dem Fuß aufstampft. Ein Schnorrer kommt und will mir aus der Hand lesen: Worin unterscheidet sich der Wunsch nach einer Walnuss und nach einem Apfel von einander? Und was ist besser: den Apfel zu essen und zu glauben, es sei eine Walnuss, oder keines von beidem zu bekommen?

Alles ist Teil einer Geschichte. Es gibt die Handelnden und die Zuschauer, die Kommentare abgeben. In diesem Moment bin ich Zuschauer. Wie sinnlos und träge mir das erscheint. Wenn ich "Wir" denke oder "Katze", versteht und hört die Katze, die sich unter meinem Balkon auf einer Motorhaube sonnt, es nicht. Wenn wir trotz Babel verstehen würden, was wir hören würden.

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03:08 Uhr

Mitten in der Nacht wache ich auf und stehe vor den weißen Bauhaus-Bauten am Rothschild-Boulevard. Eine Reihe von Stühlen davor. Noch immer sind es zu wenige. Einige laufen um die Stühle herum, ihre Hände streifen die Lehnen. Ich packe meinen Koffer, und nehme mit ...- Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was erleben ...- Die Reise nach J... -

~

Man kneift die Augen zusammen, denkt, dass man dann besser sehen kann und irrt sich. "Ich habe einen Sohn in Berlin. Er ist zehn Jahre alt", sagt Jaron. "Ich liebe Kreuzberg, du wohnst in Kreuzberg", sagt Dorit. "When I was a soldier", sagt Hanna.

~

13.00 Uhr

Alte Photos haben etwas Naives. Ein Photoladen in der Allenby-Street, im Schaufenster gerahmte schwarzweiße Bilder der Stadt. Eine Utopie. So gab es diesen Ort nicht, sechzig Jahre im Zeitraffer zurück, sittsame Korbstühle am Strand, man meint, das gegenüberliegende Ufer zu sehen. Ein dauerhafter Augenblick. Verstehen wir es die Betrachter zu sein, während wir uns fortbewegen, von einem Ort zum nächsten?

Wenn man ein Wort zu oft benutzt, wird es dünn und fällt durch die Aufmerksamkeitsnetze hindurch. Es gibt viele solcher Wörter, die nur noch Dinge bezeichnen und sie nicht mehr meinen, weil die Aufmerksamkeit längst auf etwas anderes gerichtet ist, auf ihr Gegenteil zum Beispiel. Gemeinsamkeit ist so ein Wort. Fremde. Kulturaustausch. Verhältnismäßigkeit. "Wir könnten unsere Kultur definieren, indem wir Europa definieren", sagt an diesem Abende ein anderer deutscher Autor. Ich sitze am Nachbartisch und höre das Interview mit einem Ohr. Ein ukrainischer Journalist zeichnet das Gespräch für die russische Ausgabe der Deutschen Welle in Israel mit. "Wir könnten unser höchstes Gut ansteckend kommunizieren, die Kultur des Dialogs, des Friedens, der Menschlichkeit", zitiert er Wim Wenders. - Unsere Kulturen sollten die Idee eines europäischen Staates formen, nicht umgekehrt. Wörter, die aus sich selbstverständlich sind, entlassen uns aus der Verantwortung, ohne sie selbst zu übernehmen. Diese schwarzweißen Photographien zeigen mit dem Finger auf etwas ganz anderes: Es gibt Orte, die zu Menschen oder ihren Vorstellungen gehören. Diese Orte sind von uns abhängig. Europa ist so ein (Un)Ort.

~

Aus der Nacht tauchen Geräusche auf. Ich hänge ihnen Zettel um auf denen ihre Namen stehen. Krähe. Hund. Auto. Gelächter. Nicht alles ist so eindeutig.



III

Richtung Delphinarium liegt Neve Zedek. "Wo alles begann". Und auch jetzt fängt hier alles immer von vorne an, ein Club macht auf, eine Bar, ein neues Hochhaus wird gebaut. Man reibt sich auf zwischen alltäglichen und katastrophalen Ereignissen, die auch fast alltäglich sind.

~

23.00 Uhr

Wir erwarten nicht, dass wir uns mit unseren Entscheidungen in völliger Übereinstimmung befinden. (Gespräch 05:) In der Fremde findet man die eigene Identität? Nehmen wir uns zwei Europäer, die in ein orientalisches Land fahren. Wo lernen sie mehr über sich, in Arabia felix oder Arabia crudelis? Der paradiesische Orient ist das Phantasieprodukt der Europäer im Mittelalter. (Gespräch 06:) Was ist ein moderner Ort des glücklichen Lebens? Was unterscheidet noch das Heim von der Fremde? Die jüdische-arabische-europäische Welt in ein Dreieck zu bringen scheint eine Konstruktion. In den nicht mehr geographisch fassbaren Räumen liegen die Spielregeln und Codes des öffentlichen und ästhetischen Diskurses. Gleiche Symbole werden unterschiedlich entschlüsselt und dieselben Begriffe funktionieren kontextabhängig anders. Israel empfinden wir, die wir hier leben, oft als einen sehr kleinen Ort. Für uns sind die Radionachrichten am Abend wie für andere ein Ferngespräch, schsch, lass mich hören, was sagt sie? Kein Staat kann das nachempfinden. Wie kann also eine Staatengemeinschaft die Verteidigung dieses Ortes kritisieren?, sagt Iri. (Gespräch 10:) Ich habe dein Buch meinen Freunden vorgelesen und meinem Vater. Warum hörst du auf, haben alle bis auf mein Vater gesagt, wie geht es weiter? Deine Sprache hat mich in deine Geschichte hineingezogen. Es gibt Geschichten und Bilder, die funktionieren unabhängig, aus sich selbst. Amalia trägt den tätowierten Umriss eines barocken Engels auf dem Oberarm. (Gespräch 12:) They called me one day before independence day. Why are you living here?, they asked. That´s the reason, I said, no other country will asked you from the military station one day before independence day why I like to live here.



IV

Ich bin nicht sicher, ob es wirklich so etwas wie die eine Seele Europas gibt. Weil sie nicht erkennbar ist in den bemühten Gemeinsamkeiten, die doch genau den (noch) nicht europäischen Ländern abgesprochen werden, die dem Konstrukt Europa kulturelle Werte schenken würden und nicht die bestehende Idee schmälern würden. Wo verläuft die Grenze zwischen dem Orient und Europa?

Das Mittelmeer ist eine Badewanne.


Rabea Edel, geboren 1982, lebt in Berlin. 2004 war sie Preisträgerin des 12. Open-Mike-Wettbewerbs der Literaturwerkstatt Berlin. 2006 erschien bei Luchterhand ihr Debütroman Das Wasser, in dem wir schlafen, für den sie zuletzt den Nicholas-Born-Förderpreis erhielt.


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