Wer früher kommt, kann früher gehen

Sex Viagra spielte mit der Angst vor Impotenz Millionen ein, jetzt soll ein Medikament den Orgasmus verzögern – der Samenerguss gerät ins Visier der Pharmaindustrie
Ausgabe 31/2013
Wer früher kommt, kann früher gehen

Illustration: Otto

Endlich eine befriedigende Lösung! Ein Berliner Pharmaunternehmen hat den vorzeitigen Samenerguss als Funktionsstörung und Pathologie entdeckt. Auf späterkommen.de, der offiziellen Website zur Kampagne, erfährt man, dass angeblich jeder fünfte Mann viel zu rasant auf den Höhepunkt zusteuert – eine Laune der Natur oder der Psyche oder der Selbstwahrnehmung, ganz sicher jedenfalls eine Einladung für Medikamentenhersteller. Mit der putzigen Pille„Priligy“ nämlich lässt sich, so liest man jetzt in einer Meldung, der Orgasmus um sagenhafte 1,1 Minuten verzögern. Darüber hinaus, heißt es, könne mithilfe dieses Medikaments persönlicher Stress abgebaut werden – ein zusätzlicher Segen sei das, frohlockt der Hersteller, für die angespannte Partnerschaft.

Die Ideologie der Leistungssteigerung ist seit Viagra massenwirksam in die intimste Sphäre, nicht nur des Mannes, sondern auch des Menschen eingedrungen. Dort macht sie es sich mit „Priligy“ bequem. Im Leistungssport überrascht uns Doping schon gar nicht mehr. Der Epo-Skandal im Peloton der Tour de France hat vor Jahren noch für eine kleine Schockwelle gesorgt. Gerade ist der Fall ja in einem französischen Bericht abschließend aufgearbeitet worden. Gleichzeitig ist die Akzeptanz von leistungssteigernden Substanzen gestiegen. Selbstvermessung und -verbesserung sind heute mainstream.

Zur Krankheit umgedeutet

Viel konnte man lesen in letzter Zeit über Studenten, die Ritalin einnehmen, um konzentrierter zu lernen und effektiver zu sein. Die Diskussion um „Human Enhancement“, um die Überwindung der natürlichen Grenzen des Menschen und um den Zwang zur Selbstverbesserung, ist gerade voll im Gange. Da passt es prima ins Bild, dass das gerade aktualisierte amerikanische Handbuch für psychische Störungen (DSM-5) ganz normale emotionale Reaktionen auf Umwelteinflüsse wie Trauer, Ängste, Schüchternheit oder Wutausbrüche bei kleinen Kindern nun im Verbund mit der Pharmaindustrie zur Krankheit umdeutet.

Allen Fances, einer der führenden amerikanischen Psychiater und Kritiker des DSM-5 hat in seiner gerade auch auf Deutsch erschienenen Streitschrift Normal. Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen, auf die Abgründe eines solchen Diagnose- und Behandlungsbooms hingewiesen. Er sei eine Kampfansage an das durchschnittliche Normalversagen.

Die gut geölte Maschine

Nun hat es also den verfrühten Samenerguss erwischt. Bereits Viagra – seit 1998 auf dem Markt – hatte massenweise sexuell unzulängliche Männer produziert. Angeblich unzulänglich – oder vielleicht doch nicht? Heute nehmen mehr als 30 Millionen Männer weltweit die verschreibungspflichtigen Pillen gegen Erektionsstörungen ein. Darunter immer mehr Gesunde, etwa junge Männer der sogenannten „Generation Porno“, die sich Umfragen zufolge zunehmend am dauerpotenten und dauererregten Mann in Pornos orientieren – und denen angesichts dieser Leistungsvorbilder der kalte Schweiß ausbricht. Der Sexualakt als Performance. Der Mann als gut geölte Maschine. Ob Frauen das wirklich wollen?

Noch nie stand die männliche Sexualität so sehr auf dem Prüfstand wie heute. Der Druck, zu früh, zu spät oder gar nicht zu kommen, steigt – und jetzt soll ein Medikament die erzeugten Ängste also bannen. Doch halt! Es gibt einen Ausweg aus dieser Misere sexueller Nöte, von denen man ohne die Pharmaindustrie gar nicht wüsste, dass man sie hat: Denn neben der allumfassenden Selbstoptimierungsideologie gibt es ja noch das ebenso autoritäre Gebot der Effizienz. Schneller kommen hieße dieser Logik zufolge: Zeit zu sparen. Und dann hätte man am Ende des Tages doch wieder alles richtig gemacht.

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Geschrieben von

Baran Korkmaz

Stipendiat am Bildungswerk Kreuzberg und derzeit Praktikant beim Freitag.

Baran Korkmaz

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