Wer hat, dem wird gegeben

Armutsbericht Die Kluft zwischen Arm und Reich wird immer tiefer. Nur die Bundesregierung will das nicht wahrhaben. Statt dessen beschönigt sie die soziale Situation

Die schwarz-gelbe Koalition hat sich mit dem Armutsbericht sehr schwer getan. Das ging den Vorgängerregierungen zwar nicht viel anders. Aber dass die eigentlich vorgesehene Veröffentlichung im Herbst 2011 immer wieder verschoben und der Text immer weiter abgeschwächt wurde, ist ein ebenso einmaliger wie skandalöser Vorgang. In der Endfassung, die Ursula von der Leyen nun endlich vorgelegt hat, wird der Rückgang der Arbeitslosigkeit als Erfolg gefeiert, die miserable soziale Situation vieler Millionen Menschen aber nur am Rande erwähnt oder sogar beschönigt. Schlimmer noch: Aus der immer tieferen Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich leitet der Bericht keine Konsequenzen ab.

Man kann sich nur wundern: Nach den sozioökonomischen und politischen Ursachen der kaum zu leugnenden Einkommens- und Vermögensspreizung wird überhaupt nicht gefragt. Höchstens die Auslöser persönlicher Notlagen wie Arbeitslosigkeit, Trennung oder Invalidität sind Gegenstand des Berichts. Herrschafts-, Eigentums- und Machtverhältnisse bleiben hingegen im Dunkeln. Auf diese Weise leistet man persönlichen Schuldzuweisungen und Ressentiments gegen-über Minderheiten und sozial Benachteiligten unnötig Vorschub.

Vernachlässigt werden auch die krassen regionalen Disparitäten, unter denen das Wohlstandsgefälle von Ost nach West und von Nord nach Süd besonders stark hervorstechen. Wenn die Regierung ihre Politik nach dem Prinzip „Wer hat, dem wird gegeben“ weiter fortgesetzt, dürften die Städte künftig noch stärker zerfallen: in Luxusquartiere, wo sich die Reichen hinter hohen Mauern verschanzen und von privaten Sicherheitsdiensten bewachen lassen, sowie in Elendsquartiere, wo sich die Armen versammeln.

Wer ohne ideologische Scheuklappen durchs Land geht, kommt zu einem anderen Ergebnis als der Regierungsbericht: Momentan verfestigt sich die Armut und breitet sich in die Mitte der Gesellschaft hinein aus. Die vielerorts drastisch steigenden Mieten und Energiepreise gefährden sogar den Lebensstandard von Normalverdienern und verstärken die Angst vielerMittelschicht-angehöriger vor dem sozialen Abstieg. Die soziale Ungleichheit wächst in erschreckendem Maße, ohne von den politischen Entscheidungsträgern als Kardinalproblem der Gesellschaftsentwicklung wahrgenommen zu werden.

Um persönlichen Schuldzuweisungen zu begegnen, Vorurteile zu widerlegen und Gegenmaßnahmen zu ergreifen, müsste man an die Wurzeln der Spaltung in Arm und Reich herangehen. Armuts- und Reichtumsberichte könnten eine gute Basis für die Wirtschafts-, Sozial- und Finanzpolitik der Bundesregierung sein, wenn sie die „Lebenslagen in Deutschland“ nüchtern analysieren, die Ursachen für wachsende Ungleichheit ergründen und entsprechende Handlungsempfehlungen geben würden. Solange aber die Bundesregierung solche Berichte missbraucht, um ihre Politik dem Wahlvolk als Erfolgsgeschichte zu verkaufen, bringen sie nur einen geringen Erkenntnisgewinn.

Christoph Butterwegge lehrt Politikwissenschaft an der Universität Köln. Zuletzt sind von ihm die Bücher "Armut in einem reichen Land" und "Armut im Alter" (beide Campus Verlag) erschienen

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