Als Anfang der sechziger Jahre Alexander Mitscherlichs Die vaterlose Gesellschaft erschien, las man ein Buch, das nicht nur die physische Leerstelle der vom Krieg getöteten Väter beschreibt, sondern auch die Schwierigkeiten der aus dem Krieg zurückgekehrten Männer, Vater zu sein. Männer, deren Identität die NS-Zeit und die Kriegserlebnisse radikal in Frage gestellt hatten. Die oft nur im Simulationsmodus Väter waren, mit gravierenden Folgen über die nächste Generation hinaus. Die mit ihrer Ich-Schwäche den Vater nur spielten und damit die Identitätsbildung ihrer Kinder erschwerten.
Von daher ist es nur folgerichtig, wenn der in München lebende Dramaturg Björn Bicker in seinem Romandebüt Was wir erben eine Schauspielerin a
n eine Schauspielerin auf die Suche nach der Geschichte eines solchen identitätsschwachen Vaters schickt. So, als hätte diese Elisabeth die Fähigkeit zum „als ob“ des Theaters unbewusst von ihm geerbt. Von einem Mann, der so tat, als ob er kein Alkoholproblem hätte; der in seiner Bundeswehruniform und später im Talar als Laienprediger wie in Kostümen die heile bürgerliche Welt vorspielte, so als gäbe es keine Schulden und keinen Gerichtsvollzieher, der den Kuckuck bereits auf die Wohnzimmermöbel geklebt hatte.Als Erbin seiner Fähigkeiten wird sie auf Anhieb als Schauspielschülerin am berühmten Max-Reinhardt-Seminar in Wien angenommen. Die Abgründe der Kindheit mit dem alkoholkranken Vater scheinen vergessen zu sein. Bis plötzlich das Telefon klingelt und ein Mann am Apparat ist, der mit einem leichten amerikanischen Akzent behauptet, er sei ihr Bruder.In NaumburgEs wird schnell klar, dass der Mann nicht lügt. Bei einem Treffen in einem Café zeigt er ihr ein Foto von 1972. Es ist das einzige, was er von seinem Vater hat. Seine Mutter hatte es ihm kurz vor ihrem Tod gegeben und gesagt, das sei sein leiblicher Vater. Elisabeth erkennt ihn sofort. Neben ihm steht eine Frau und im Hintergrund ist die Olympiaschwimmhalle in München zu sehen. Nach Hause zurückgekehrt, sagt ihr Freund Holger, wenn sie sich unsicher sei, solle sie doch einen DNA-Test machen. Aber den braucht sie nicht: „Ich glaube an das, was ich sehe, was ich fühle. Genauso wenig wie ich irgendeine künstliche Befruchtung brauche, um schwanger zu werden, genauso wenig brauche ich einen Gentest, um zu glauben, dass das mein Bruder ist.“„And you know he’ll never let you go/ ’Cause blood is clear, it never lies“ heißt es in dem Lied von Thurston Moore, dem Gitarristen und Sänger von Sonic Youth. Björn Blicker hat diese Zeilen seinem Roman als Motto vorangestellt. Jahrelang hatte Elisabeth den Vater für sich abgehakt. Aber sie wird ihn nicht los. Jetzt kommt er in Form ihres Halbbruders zurück, der wissen will, wer er war. Kurz nach dem Treffen kehrt der neue Bruder zu seiner Familie in die USA zurück. Und Elisabeth macht sich auf die Suche nach der Vergangenheit des Vaters.Alles begann in Naumburg an der Saale. Hier hatte er Kindheit und Jugend verbracht. Einen Teil dieser Geschichte kannte Elisabeth bereits von Erzählungen aus der Kindheit. Sie wusste, dass er in den fünziger Jahren aus der DDR geflohen war und Soldat bei der Bundeswehr wurde, die am Anfang noch „Neue Wehrmacht“ hieß. Aber was war damals wirklich in Naumburg passiert und wer war die Frau auf dem Foto, die kurz vor der Geburt ihres Bruders in die USA ausgewandert war?In den Theaterferien fährt Elisabeth zuerst nach Naumburg und dann nach Wien, wo ihr Leben als Schauspielerin begonnen hatte. In einer kleinen Pension beginnt sie den Text des Romans zu schreiben, der hin- und herspringt zwischen der Gegenwart in Wien und den Nachforschungen in Naumburg.Ambivalente GefühleAm Anfang hatte sie Holger, ihrem Freund, noch erklärt: „Ich bin mehr als mein Blut. Ich bin ein Mensch mit einer Geschichte. Entscheidend ist doch: Wer hat mich als Kind ins Bett gebracht, wer hat mich zum Schwimmen lernen ins Wasser geworfen, mit wem habe ich das erste Mal geschlafen, wer waren meine Lehrer, wer hat mich schlecht behandelt, wer nicht.“ Dann, irgendwo auf ihrer Reise durch die Vergangenheit, spürt sie, dass sie ihren Vater vermisst. Jenen Mann, der zwar nie gewalttätig wurde, wie so viele Alkoholiker. Aber der einen Fisch im Bauch hatte. „Ein Fisch, der am liebsten in Alkohol schwamm. Und wenn keiner da war, begann er zu beißen.“ Ein Mann, der sich durch seine Trunksucht vernichtete. „Wenn sich die Eltern zerstören“, schreibt Elisabeth, „dann zerstören sie auch die Kinder. Selbst wenn du überlebst, bist du tot. Der Vater wollte mir die Chance nehmen, selbst zu entscheiden, ob ich tot sein will oder nicht. Ich musste mich schützen. Deshalb konnte ich kein Mitleid empfinden. Ich habe ihn aus meinem Leben verbannt.“Björn Bicker gelingt es, diesen Konflikt, diese ambivalenten Gefühle zwischen Liebe und Ablehnung unprätentiös zu erzählen. In Was wir erben werden keine Klischees einer Vatersuche abgearbeitet, sondern im Rahmen einer spannenden Geschichte mit jeder Antwort, die die Erzählerin auf ihre Fragen findet, neue Fragen aufgeworfen. Was kann man über einen Vater wissen, der sich immer entzog, der kein richtiger Vater war? Wie genau ist die Erinnerung? Auch die überzeugend erzählte Stasi-Episode erzählt keine Stereotype, sondern führt dazu, dass der Leser über die Bedeutung der historisch-gesellschaftlichen Vergangenheit für den Einzelnen nachdenkt. Es ist nicht leicht einen Roman über einen Identitätskonflikt zu schreiben, der mitreißt, Was wir erben ist so ein Roman.
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