FREITAG: In dem Kapitel "1968" in "Mein Jahrhundert" heißt es: "Gewiss, es waren auch Gegenworte zu hören. Etwa von Habermas. (...) Oder jener schnauzbärtige Schriftsteller, der sich an die Es-Pe-De verkauft hatte und nun meinte, uns Âblindwütigen Aktionismus vorwerfen zu dürfen. Der Saal tobte." Beschreibt das Ihre Rolle damals?
Günter Grass: So waren die Vorwürfe. Dutschke hatte mich zum Feind Nr. 1 erklärt, weil ich eine - wenn man so will - strikt sozialdemokratische Position vertrat. Aber ich muss ein paar Jahre zurückgehen. Noch 1965 herrschte an den Universitäten Windstille. Wenn man streikte, dann ging's um das Mensa-Essen.
Es herrschte doch im ganzen Land Windstille.
Das lag sicher daran, dass eine Zeit der Restauration Wirkung zeigte, die unter Adenauer eingesetzt hatte und sich bis Mitte der sechziger Jahre hielt. Restauriert wurde eine Vorkriegsgesellschaft unter sehr konservativen Vorzeichen und Moralvorstellungen. Sehen Sie sich die Heimatfilme und die Schlager der Zeit an. Das war alles sehr brav, bieder und ziemlich spießig. Meine Generation dagegen war schon politisch tätig, bevor es zu den Studentenprotesten kam. Unsere Hoffnung war, dass endlich was losging mit den Studenten, und das geschah 1968. Ich habe es anfangs unterstützt, aber auch von Anfang an kritisch gesehen.
Was war Ihre Kritik?
Dass sich viel in revolutionärer Rhetorik verlor, dass viele meinten, es gäbe eine Basis für eine Revolution in Deutschland. Das habe ich für einen horrenden Irrsinn gehalten. Die revolutionäre Rhetorik meinte, eine einfache Erklärung gefunden zu haben: Kapitalismus führt zum Faschismus. Aber die Linke war nicht bereit, anzuerkennen, dass auch linkes Verhalten zum Faschismus führen kann. Dass z. B. sieben Gründungsmitglieder der faschistischen Partei Italiens aus der sozialistischen Partei kamen, unter anderem Mussolini selbst, der Vorsitzender der Jungsozialisten in Mailand gewesen war. Das nahm man ungern zur Kenntnis.
Im selben Kapitel spielen besonders die Vorgänge in Prag im gleichen Jahr eine große Rolle.
Als der Prager Frühling durch die sowjetischen Panzer niedergewalzt wurde, fuhren die Wortführer nach Prag, Dutschke eingeschlossen, und meinten, die revisionistischen Kommunisten unter Dubc?ek belehren zu müssen. Das Ganze sei ein kleinbürgerlicher Vorgang, war der Vorwurf. Es hat einen tschechischen Philosophieprofessor, der an der Spitze der Dubc?ek-Bewegung stand, bewegt zu sagen: "Sie wissen nichts, aber wissen alles besser!" 1968 gab es ja noch was anderes, die grässliche Geschichte in Warschau: Der Protest an der dortigen Universität ist von dem Innenminister Mozcar auf brutalste Weise niedergebügelt worden, was außerdem noch stark antisemitische Züge hatte. Zum zweiten Mal sind damals aus Polen Zehntausende Juden ausgewandert, darunter viele kommunistische Parteifunktionäre.
Haben Sie sich inzwischen wieder mit den 68ern versöhnt?
Das war eine Generation, die, soweit sie sich beteiligt hat, Entscheidungen allein mit sich ausmachen und in die eigenen Familien hineintragen musste, was die Diskussionen in den Familien bis zur Zerreißprobe belebt hat und prägend gewesen ist, bis zu Brüchen in der eigenen Biografie. Man kann viel Kritisches gegen die Bundesrepublik sagen, aber es ist sicher ein Verdienst, dass sie es verstanden hat, ein Teil der politischen Kräfte, von denen diese Diskussionen ausgingen, zu nutzen. Bei meiner Wählerinitiative für Willy Brandt wie auch in vielen weiteren Initiativen arbeiteten 1969 Studenten mit, andere gingen andere Wege: in die K-Gruppen hinein, in den Terrorismus.
Wie haben Sie das Umschlagen zur Gewalt erlebt?
Die Gewaltbereitschaft dieser Jahre beschränkte sich nicht nur auf die Studentenbewegung. Von Anfang an hat der Staat, der zu Recht das Gewaltmonopol hat, Missbrauch mit diesem Gewaltmonopol getrieben. Das fing 1967 beim Schah-Besuch an, als die Polizei nicht die Studenten beschützte, sondern die Jubel-Perser, die mit Brechstangen und Latten auf Studenten einprügelten, und hat bis in die siebziger Jahre hinein bei Polizeieinsätzen zu übertriebener Gewalt geführt. Ich habe das selbst in Brokdorf erlebt, als die Polizei Zehntausende friedlich Protestierender mit Hubschraubern über die Äcker getrieben hat. Das war ein unangemessener Einsatz von Gewalt. Der zweite Faktor war die Springer-Presse, die regelrecht zu dieser Gewalt aufgefordert hat. Unter anderem hat das dazu geführt, dass 1968 auf der letzten Tagung der Gruppe 47 sich die meisten Autoren zu einem Springer-Boykott entschlossen haben. Mit Peter Rühmkorf bin ich der letzte, der den Boykott noch durchhält. Bis heute. Und dabei bleibt's auch.
Kommen wir zur Debatte über die 68er heute. Joachim Gauck und andere haben Vergleiche angestellt zwischen den damaligen Straßenkämpfern und den marodierenden Skins von heute.
Der Vergleich ist an den Haaren herbeigezogen und führt zu einer Verharmlosung dessen, was gegenwärtig in Deutschland geschieht.
Was haben Sie gegen den Vergleich?
Natürlich gibt es - das vermisse ich bei dem, wie Gauck das vorbrachte - die Momente, wo linke Gewalt in rechte umschlagen kann. Es gibt eine Vielzahl von Personen - denken Sie an den Schriftsteller Arnolt Bronnen -, die von links nach rechts umkippen, in der gesamten deutschen Geschichte: Wenn ich mir überlege, was aus den radikalen deutschen Romantikern geworden ist. Friedrich Schlegel etwa, der am Schluss für Metternich gespitzelt hat, oder wie aus Brentano ein widerlich bigotter Katholik wurde. Die haben auch mal ganz steil links - nach unserem heutigen Verständnis - angefangen, linksromantisch. Dieses Gespräch führen wir in Deutschland schon sehr lange. Es lohnt sich nachzuschlagen, um zu verstehen, was sich jetzt mit anderen Themen bestückt und sicher auch vor anderen sozialen Hintergründen fortsetzt.
Bisher hat es also noch keine wirkliche Geschichtsdebatte über 1968 gegeben?
Diese Generation hat zwar gesellschaftlich viel bewegt, aber oft ohne es selber zu begreifen. Auch literarisch hat sie nur mit ganz wenigen Beispielen sich selbst und ihre eigene Problematik gültig dargestellt.
Was sind das für Beispiele?
Hervorragend hat es F. C. Delius mit seiner Trilogie gemacht, in der er versuchte, die widersprüchlichen Beweggründe darzustellen. Das sind Zeitzeugnisse, die über den Tag hinaus Bestand haben. Es ist ja unheimlich viel Papier beschrieben worden damals - Papers hieß es -, aber davon ist wenig geblieben.
Heißt das, dass sich heute nur noch wenige jüngere Autoren als politische Schriftsteller verstehen. Ganz im Gegensatz zu Ihnen?
Man hat vielen jungen Autoren besonders nach '89 klargemacht: Wenn sie Erfolg haben wollen, sollen sie sich aus der Politik raushalten, sie sollen erzählen wie amerikanische Autoren, wobei ihnen meistens US-Autoren zweiter Qualität empfohlen wurden. Der spaßige, ich-bezogene Rückzug in den Elfenbeinturm wurde zur Voraussetzung für Literatur. Ich sehe in der jüngeren Generation bis heute wenig Bereitschaft, auf eigene Art und Weise die Widersprüche, die in der Gesellschaft eklatant sind, zu artikulieren, deutlich zu machen. Das fing schon 89/90 an, als in den führenden Feuilletons - gar nicht mal der Springer-Blätter, sondern in Zeit und FAZ - die Herren Greiner und Schirrmacher das Ende der Nachkriegsliteratur verkündeten und die gesamten literarischen Leistungen, die es in der DDR in der Tat gegeben hat, in den Reißwolf schmissen.
Das Verhalten von selbst ernannten geschichtlichen Siegern?
Ja, sicher, aber der Kommunismus, auch in seinem maroden Zustand, war für den Westen ein Konkurrenzsystem, das dazu zwang, einen gewissen Anstand zu wahren, zumindest im sozialen Bereich gesprächsbereit zu sein und so etwas wie soziale Marktwirtschaft zuzulassen. Gerade mit diesem Ausgleich ging es dem Kapitalismus besonders gut. Seit dem Stichdatum '89 allerdings spielt er auch in Deutschland verrückt. Aber man kann dem Kapitalismus nicht vorwerfen, dass das kommunistische System versagt hat.
Spielt das Gefühl, '89 geschichtlicher Sieger gewesen zu sein, in der jetzigen Debatte um die 68er eine Rolle?
Diese Debatte um Fischer, Trittin und andere wird von Seiten der CDU so geführt, als habe es nie einen Staatssekretär Globke unter Adenauer gegeben, der die Rassengesetze im Sinne des Nationalsozialismus kommentiert hat. Ich will jetzt die Fälle nicht alle miteinander vergleichen, und ich will in diesem Zusammenhang nicht unterschlagen, dass es eine Vielzahl von Nationalsozialisten gegeben hat, für die '45 ein Schock gewesen ist, die umgelernt haben. Ich zähle mich dazu. Ich bin in der Hitlerjugend gewesen. Ich war gläubig, für mich ist erst '45 die Einsicht gekommen, und auch das nur stückchenweise und langsam. Ich bin ein anderer geworden. Und dieses Recht muss man einander zugestehen, ohne puritanisch gezwungen zu werden, auf offener Bühne "mea culpa" zu schreien. Das ist ein Vorgang, der so peinlich und widerlich ist, dass es sich von selbst verbieten sollte.
Aber in vielen Zeitungen wurde von Joschka Fischer doch dieses "mea culpa" gefordert?
Die Journalisten, die das tun, sind größtenteils Kinder der 68er. Die Debatte bietet ihnen die Möglichkeit, über ihre eigene Sozialisierung nachzudenken. Und den eigenen Opportunismus, wie man von der taz zur FAZ, zur Berliner Zeitung und dann zur Welt kommt, gutzuheißen. Da taucht für mich der Gedanke auf: Sind sie befähigt, den Mann Fischer zu verurteilen, wo sie sich doch auch verwandelt haben, und zwar in größerem Maße als Fischer. Fischer ist immerhin noch politischen Zielsetzungen treu geblieben, die er anfangs schon in wenn auch nicht gutzuheißender Form artikuliert hat. Er hat nicht ganz und gar von sich Abstand genommen.
Die Debatte bekam schließlich ganz seltsame Züge, als die CDU das Plakat präsentierte, auf dem Schröder als Verbrecher abgebildet war.
Dazu möchte ich Ihnen eine Geschichte erzählen: In den Münchner Kammerspielen sollte Anfang der Siebziger ein Stück aufgeführt werden, Der Dra-Dra von Jewgeni Schwarz, übersetzt von Wolf Biermann. Unter der Verantwortung von Heinar Kipphardt wurde ein Programmheft vorbereitet, in dem die Drachen der Gegenwartsgesellschaft mit Verbrecherpassfotos abgebildet waren. Strauß gehörte dazu, aber auch Münchens Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel, quer durch die Gesellschaft. Und dagegen habe ich in der Süddeutschen Zeitung zwei Artikel geschrieben. Es war in der Zeit, als der Terrorismus schon zuschlug, ich habe heftig dagegen polemisiert. Wenige Wochen später wollte ich mit meiner Frau in Berlin in die Schaubühne, die damals noch am Halleschen Ufer war. Wir saßen also dort im Theater, und das Stück fing und fing nicht an. Auf einmal füllte sich die Spielfläche; nicht nur die Schauspieler, sondern auch die Garderobenfrauen und Beleuchter kamen auf die Bühne, und ein Schauspieler holte ein vorbereitetes Papier hervor und sagte: Hier im Zuschauersaal befindet sich der Schriftsteller Günter Grass, der unseren Genossen Kipphardt verraten hat. Wir fordern ihn auf, das Theater zu verlassen. Riesenbeifall. Aber er hatte offenbar nicht mit mir gerechnet, denn ich stand auf und sagte: "Das letzte Mal sind in Berlin Zuschauer 1933 aufgefordert worden, das Theater zu verlassen. Ich bleibe, ich habe Karten gekauft und freue mich auf den Beginn von Peer Gynt, zweiter Teil." Wieder Riesenbeifall. Jahre danach gab Schlöndorff nach Abschluss der Dreharbeiten zur Blechtrommel ein Fest für alle Beteiligten. Und gegen Mitternacht bat mich der Schauspieler Otto Sander, doch in einen Nebenraum zu kommen, wo noch andere waren, die herumdrucksten und mit mir ein Gespräch führen wollten. Ich ahnte schon etwas, und dann sagten sie mir: Es bedrückt uns, dass wir das damals gemacht haben, wir waren so eng und verblendet. Wir haben mehrmals darüber gesprochen, es ist uns deutlich geworden, was das für eine grässliche Angelegenheit gewesen ist. Sie haben sich bei mir entschuldigt. Solange dauert es manchmal.
Hans Magnus Enzensberger hat inzwischen in der "FAZ" gefordert, die Debatte zu beenden.
Sie müssen sich mal das Kursbuch von Enzensberger aus der damaligen Zeit angucken, mit der Forderung, die Leute in Umerziehungslager zu schicken. Ich habe Enzensberger damals gesagt: Was machst du da, weißt du nicht, wohin das führt - der hatte so einen lustigen Informationsbogen nach dem Vorbild der Tupamaros in Uruguay gemacht, eine Anleitung, um Bomben zu basteln. Enzensberger auf seine Art hat das als amüsant empfunden. Mal ausprobieren. Heute will er damit nichts mehr zu tun haben, was ich verstehen kann. Aber das war so. Und das ist auch ein Stück Verantwortung, das auf ihm liegt.
Dann geht es Ihnen also am Ende doch um die Frage der Gewalt, egal ob von links oder rechts?
Vom staatlichen Gewaltmonopol aus betrachtet, verbietet sich die Gewalt der Siebziger genauso wie sich heute die Gewalt der Neonazis verbietet. Dieser einfache Schluss ist vielleicht noch richtig. Aber die Straßenkämpfer haben sich damals in Frankfurt für den Erhalt von besetzten Häusern eingesetzt. Und heute ist man ganz froh, dass es ihnen bei ein paar Häusern sogar gelungen ist. Sonst wären diese auch platt gemacht worden. Das entschuldigt nicht das Pflastersteine-Schmeißen, aber beleuchtet doch den Hintergrund.
Und in das Gewaltmonopol hatte der Staat damals nicht unbedingt Vertrauen.
In den Siebzigern wurde zu Methoden gegriffen, die Beweise dafür sind, wie schwach sich der Staat sah. Dieses grauenhafte Wechselspiel zwischen Gewalt auf beiden Seiten führt immer dazu, dass die liberale Substanz eines Staates verringert wird, weil sofort nach schärferen Gesetzen gerufen wird. Auch jetzt erleben wir das wieder: Die Forderung eines Verbots von NPD-Demonstrationen bedeutet natürlich, dass das Demonstrationsrecht als Ganzes eingeschränkt wird. Es ist immer eine zweischneidige Sache. Mit mehr Selbstbewusstsein und wirklich greifenden Gesetzen und einer wirklich zufassenden Polizei wäre der Rechtsradikalismus effektiver zu bekämpfen als mit einem NPD-Verbot. Es braucht eine Bereitschaft zu mehr Zivilcourage in der gesamten Bevölkerung. Demonstrieren reicht nicht, es muss direkt, vor Ort eingeschritten werden, Leute zur Rede gestellt werden, und zwar vom Parlament angefangen.
In einer anderen Geschichte aus "Mein Jahrhundert", die das Jahr 1972 behandelt, erzählen Sie zum Teil aus der Ich-Perspektive von dem Lehrer, der Ulrike Meinhof zuerst versteckte, dann aber die Polizei rief.
Das ist eine authentische Geschichte.
Dennoch war es für manche damals eine offene Frage, ob sie die Terroristen verstecken würden. Für Sie auch?
Nein, ich hätte auch sofort die Polizei angerufen. Wissen Sie, ich habe schon Plattfüße, so fest stehe ich auf dem Boden des Grundgesetzes.
Das Gespräch führten Barbara Schweizerhof und Jörn Kabisch
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