Wer ist hier gegen Impfpflicht?

Gesundheit Gibt es einen vernünftigen Grund, sich nicht immunisieren zu lassen? Schriftsteller Jakob Hein argumentiert
Ausgabe 47/2020
Wer ist hier gegen Impfpflicht?

Illustration: der Freitag

Ich bin gegen Impfungen. Ich bin auch gegen Psychopharmaka. Ich bin gegen Corona und gegen Psychosen und gegen Krebs. Es gibt meiner Meinung nach keinen vernünftigen Menschen, der für eine dieser Sachen wäre, aber so funktioniert es nicht.

Die Medizin ist eine vollkommen empirische Wissenschaft. Wir setzen uns doch nicht zum Spaß damit auseinander, was man denn so machen könnte, wenn sich ein Mensch den Oberarmknochen brechen würde. Aber es gibt nun einmal wissenschaftlich erprobte Vorgehensweisen bei Humerus-Frakturen, weil diese nun mal passieren. Heute sind sie Routine. Die elektronenmikroskopisch kleinen Viren kennt die medizinische Wissenschaft erst seit weniger als 100 Jahren, obwohl virale Erkrankungen wie die Tollwut natürlich viel länger bekannt sind. Aber die Kenntnis dieser Art von Krankheitserregern hat auch unser Wissen darüber vermehrt, wie schwer es ist, diesen Parasiten beizukommen, wenn sie sich im menschlichen Körper eingenistet haben. Durch Jahrzehnte milliardenschwerer HIV-Forschung ist es mittlerweile gelungen, das Virus in den Körpern erkrankter Menschen unter Kontrolle zu bringen, wenn diese ihre teuren Medikamente einnehmen – eine Heilung oder eine Impfung werden weiterhin gesucht. In Afrika stirbt weiterhin eine Million Menschen jährlich an der Erkrankung.

In einer Abschätzung verschiedener Fakten – Übertragungsweg, Art des Virus, Vorerfahrungen mit ähnlichen Viren, globale und nationale Bedeutung der Erkrankung – wird seit dem Frühjahr nach einem Impfstoff geforscht. Es gibt gute Erfahrungen mit Impfstoffen gegen Coronaviren, dem Virus ist nicht mit konventionellen Maßnahmen beizukommen, vorhandene virushemmende Medikamente helfen nicht, und – entscheidend – die durch das Virus hervorgerufene Erkrankung ist schwerwiegend, potenziell sogar tödlich. Das vereint alle Krankheiten, gegen die eine Impfung zugelassen ist: Sie müssen häufig, infektiös und lebensgefährlich sein. Geimpft wird gegen Killer, nicht gegen Wehwehchen. Auch die viel zitierte Influenza (echte Grippe) wünscht man seinem ärgsten Feind nicht an den Hals.

In der vorindustriellen Zeit war Krankheit eine Privatsache. Wer Geld hatte, konnte sich Gesundheit leisten, der Rest starb eben früher. Mit der Einführung der Fabriken und Volksheere konnte man es sich nicht mehr leisten, Mitmenschen an behandelbaren Krankheiten sterben zu lassen. Jeder wurde gebraucht. So kam es zur preußischen Auffassung von Ärzten als einer „Gesundheitspolizei“. Man sollte sich nicht nur um den vermögenden Kranken kümmern, sondern es sollten auch die Gesunden geschützt werden, durch Maßnahmen wie das Händewaschen der Geburtshelfer zwischen zwei Geburten.

Zählen kann man nur Tote

Und natürlich waren Impfungen ein großer Bestandteil solcher Bemühungen um die öffentliche Gesundheit. Schlimme tödliche Erkrankungen konnten durch Impfungen ausgerottet werden. Wörter, die heute Termine im Impfkalender sind – „Masern“, „Mumps“, „Röteln“ –, hätten die Eltern kleiner Kinder vorher zu Tode erschreckt.

Es gibt also aus medizinischer Sicht kein vernünftiges Argument gegen das Impfen und Tausende Argumente dafür. Aber natürlich bleiben die Menschen, die infolge des Impfens nicht verstorben sind, unsichtbar. Wir können nur die Toten zählen. Und so können sich Ärztinnen und Ärzte nur wünschen, dass sich möglichst jeder impfen lässt. Aber weil es einem verschwindend geringen Teil der Bevölkerung leider gelungen ist, seiner Ablehnung der wissenschaftlichen Covid-19-Bekämpfung Gehör zu verschaffen, wäre eine Impfpflicht aus politischen Gründen kontraproduktiv. Sie wäre als (sogar wiederholter) Eingriff in die körperliche Unversehrtheit rechtlich wohl noch schwerer durchzusetzen, als dies schon die Maskenpflicht auf den Demonstrationen ist. Wenn der Impfstoff kommt, werde ich es als meine Pflicht betrachten, mich so schnell wie möglich gegen diese tödliche Krankheit impfen zu lassen und damit kleinster Teil einer hoffentlich entstehenden Herdenimmunität zu werden. Die Impfgegnerinnen, deren Kinder und Eltern werde ich dabei gemeinsam mit der Bevölkerungsmehrheit auf den Schultern unserer vernünftigen Entscheidung mittragen.

Jakob Hein ist Arzt und Schriftsteller

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