Der Kerl muss doch aufgefallen sein, irgendjemand wird ihn kennen: Mittleres Alter, blondes, zerzaustes Haar. Klein, schlaksig, ausgeprägte Wangenknochen. Und dieser Blick: Auf manchen Fotos wie entrückt, auf anderen starr und stechend, fast irre. "Sieht aus wie der Bruder von Klaus Kinski", sagen viele, die in das Album sehen. Erst lachen sie, blättern weiter, erblicken verstört diese seltsame Haut-Krankheit: "Schräger Typ". Seine Klamotten müssen damals hip gewesen sein: Mal trägt er einen olivegrünen Bundeswehr-Parka, mal einen lässigen Glanzblouson, darunter ein knappes Shirt mit Aufdruck: "Ich bin Millionär". Wer ist dieser Kerl?
"Für Reiner" steht auf manchen der Fotos. Auf einem Flohmarkt in Kreuzberg haben wir es gefunden, und es muss einmal sein Ein und Alles gewesen sein: Das Fotoalbum eines Autogrammjägers. In einer Umzugskiste lag es, trostlos, zwischen Konsalik-Büchern, Early-Eighties-Teekannen mit blauen China-Mustern und Big Jim-Puppen ohne Beinen. Es nieselte, uns war kalt, wir waren praktisch schon auf dem Heimweg. Aber das Album drohte nass zu werden. Der Verkäufer, ein türkischer Entrümpler, sagte: "Ich nix wissen woher. Aber billig!". Vermutlich aus einer Wohnungsräumung. Vielleicht aus einem Nachlass? Wir kauften das Album, Reiners Vermächtnis. Für fünf Euro.
Mehr als 400 Fotos: Reiner mit Roy Black, Reiner mit Nicole, Reiner mit Rex Gildo. Mit Mike Krüger, Cindy Bert, Gottlieb Wendehals und Patrick Lindner. Mit Bruce Low, Jürgen Markus und Hänschen "Das war Spitze!"-Rosenthal. Christian Anders, noch kein Guru, Dagmar Berghoff, noch ungeliftet, Anke Engelke, noch keine 20, Hugo Egon Balder, schon damals völlig unlustig. A-Promis, B-Promis, Eintagsfliegen. Viele, die man heute nicht mehr kennt. Aber auch Richard von Weizsäcker, Hans-Jochen Vogel, Max Schmeling, Uwe Seeler oder Annegret Richter: 100-Meter-Gold bei den Olympischen Spielen 1976 in Montréal. Und an der Seite all dieser Stars: Reiner - immer wieder Reiner.
Meistens drückt er selbst ab. Die Polaroid am ausgestreckten Arm, postiert Reiner sich vor sein Objekt und knipst so schnell, dass viele der Stars nicht einmal merken, dass sie fotografiert werden. Helmut Kohl rauscht borniert durchs Foto, Jürgen von der Lippe, umringt von Fans, unterzeichnet Autogrammkarten, Robert Lembke fragt: "Welches Schweinderl hätten´s denn gern?". Karel Gott posiert mit eisigem Lächeln. Tony Marshall trägt ein Kind im Arm und grüßt Reiners Schwiegermutter. Sascha Hehn grinst sein Traumschiff-Grinsen.
Und Reiner? Meist unten rechts im Bild. Er hält ja die Kamera, fast immer mit dem gleichen, gehetzten Gesichtsausdruck. Beim Blättern sehen wir, dass er oft bei der "Hitparade" war und auch bei "Die Goldene 1". Das Album füllt sich, von Show zu Show, von Funkausstellung zu Funkausstellung. Lebt Reiner noch? Wir machen uns auf die Suche.
Wir treffen Erika Steinhorst vor dem Berliner Kaufhaus des Westens. Sie ist Politesse, Anfang 50, und hat gerade Dienst. "Wir waren die Verrückten!" sagt Steinhorst, die ein wenig traurig wird, wenn sie an das Ende der Hitparade vor ein paar Jahren denkt. An die erste Sendung kann sie sich noch genau erinnern: "Das war der 18. Januar 1969. Jahrelang war ich bei jeder Sendung in den ZDF-Studios in der Oberlandstraße. Hitparade war das Größte! Ich war 14, trug Hotpants und riss Howard Carpendale einen Büschel Haare aus." Den hat sie aufbewahrt. Damals sparte Steinhorst hart, um die 3,50 Mark für den Eintritt zahlen zu können. "Wir waren Fans - das ist doch üblich in dem Alter". Lange noch hat sie beim Sender als Gästebetreuerin gejobbt, nebenbei, und sich gefreut, wenn Michael Schanze sie wiedererkannte. Klar, sie erinnert sich an Reiner: "Wir waren ungefähr 30 Leute, die den Stars vor der Sendung auflauerten. Der war oft da." Aber sie kennt ihn nur vom Sehen. Das hätten wir uns denken können. Untereinander dürften sich Autogrammjäger spinnefeind sein. Man braucht Ellenbogen, um an die besten Unterschriften heranzukommen: "Damals interessierten mich nur die Stars", sagt Steinhorst. Die Stars der Hitparade.
Vielleicht kann uns ja einer dieser Stars weiterhelfen. Wir melden uns bei der Agentur von Schlager-Größen wie Katja Ebstein, Gitte und Lena Valaitis. Doch Fehlanzeige: Reiner ist hier unbekannt. Und über Fans will man nicht reden: "Die wollen zwar nichts Böses. Aber manche werden so hysterisch, dass man ohne Bodyguard nicht aus dem Haus gehen kann", sagt der Manager, der nicht möchte, dass die Fans seinen Namen in der Zeitung lesen. "Mal ehrlich: Viele haben ihre Kindheit noch nicht verarbeitet. Ein starker Mensch sammelt doch keine Unterschriften!"
Wir suchen weiter. Reiner kannte sie alle. Aber kennt denn keiner Reiner? Vielleicht Heino, der gern sagt, dass man den Fan "hegen und pflegen" muss, denn "ohne bist du ´ne Null." Mit Heino hat sich Reiner gleich zweimal verewigt. Es ist zehn Uhr morgens, als wir ihn in seiner von Fans abgeschiedenen Villa in Bad Münstereifel erwischen. Er und seine Frau Hannelore sind gerade mit dem Frühstück fertig. "Au weia!", seufzt Heino, als er Reiners Geschichte hört und in dessen offenbar schwer erkranktes Gesicht blickt. Plötzlich klingt er nachdenklich, fast wie ein normaler Mensch, fragt nach, will alles wissen. Doch schließlich: "Ich habe in meinem Leben bestimmt schon mehr Hände geschüttelt als der amerikanische Präsident", sagt Heino. Da könne man schon mal den einen oder anderen vergessen. "Doch Reiner hat bestimmt, wie alle anderen, eine ganz persönliche Unterschrift von mir bekommen. Und noch ein paar nette Worte", meint der Volksmusikant. "Egal, wie stürmisch die sind: Du musst die Fans über dich ergehen lassen. Sonst bist du für diesen Beruf nicht geeignet."
Und das Fan-Dasein: ein ersatzreligiöser Kult? "Ach was", sagt Thomas Münch, Präsident des "Clubs der Autogrammsammler"; mit 1.000 Mitgliedern der größte Sammler-Verein in Deutschland. "Ein stinknormales Hobby." Reiner kennt er zwar nicht, aber er kennt seine Pappenheimer: Nicht etwa seelische Krüppel, sondern "ganz normale Leute." Münch sieht das Ganze nüchtern: Den Wert von Reiners Album taxiert er auf ein bis zwei Euro pro Autogramm. Mal vierhundert? Nicht schlecht! Aber in der Branche werden auch ganz andere Preise hingeblättert: "Für eine Original-Unterschrift von Adolf Hitler zahlen Amerikaner bis zu 20.000 Dollar, die Beatles komplett kosten 5.000, Michael Schumacher in seinem Ferrari bringt immerhin 60 Euro. Aber deutsche Stars sind günstig", so Münch. "Es gibt einfach zu viele Autogramme." Und es gibt wohl auch zu viele Autogramm-Sammler. Wer soll das sein? Reiner?
Die Fotos sind Reiners Vermächtnis. Wir schlagen die letzten Seiten auf und sehen Bilder von einer riesigen Videosammlung. Eine bombastische Stereoanlage mit unzähligen CDs. Ist das Reiners Zimmer? Ein Foto für die Nachwelt? Woody Allen wurde einmal gefragt, ob er seine Filme mache, um unsterblich zu werden. "Nein", hat er geantwortet, "ich möchte unsterblich werden, indem ich nicht sterbe".
Immer deutlicher ist ein fieser Hautausschlag zu sehen, der von Polaroid zu Polaroid schlimmer wird. Freunde, die das Album durchblättern, stehen wortlos auf, um sich die Hände zu waschen - als könnten sie sich an dem Album infizieren. Wir sind beim Blättern gegen Ende der achtziger Jahre, Anfang der neunziger Jahre angelangt. Reiner verfällt. Krank und verzagt blickt er in die Kamera. Auf den letzten Bildern ist sein Gesicht mit Warzen übersäht. Die Zeit hat ihn zersetzt, die Spuren in seinem Gesicht erzählen Reiners Leidensgeschichte. Hat sie einen tödlichen Ausgang genommen? Ein befreundeter Arzt bestätigt uns, dass man an dieser Krankheit zwar nicht sterben muss, aber doch kann: "Sieht aus wie Neurofibromatose, auch Recklinghausen-Krankheit genannt. Wuchernde Nerventumore, die unter der Haut sitzen. Im fortgeschrittenen Stadium können sie aufs Gehirn drücken."
Reiner dürfte auf diesen späten Fotos Mitte 40 gewesen sein. Immer verzweifelter zückt er die Kamera - als wolle er möglichst viel von dem festhalten, was noch festzuhalten ist. Ein Wettlauf gegen die Zeit. Als habe er Angst, dass sich ohne diese Fotos, seine Existenzbeweise, niemand mehr an ihn erinnern wird. Die letzten Bilder: Eines mit Max Schautzer, eines mit Uwe Hübner, dem letzten Moderator der Hitparade. Und tatsächlich: Hübner erinnert sich an Reiner: "Ich gebe ja tagtäglich und tausendfach Autogramme, aber den Mann werde ich nicht vergessen." Es muss um 1993 bei einer Autogrammstunde in einem Media-Markt in der Nähe von Berlin gewesen sein. "Nicht nur sein Aussehen war seltsam. Ich wunderte mich noch, wie lässig er sich und mich ins Bild bringt. Keine Gefühlsregung. Der wollte mich abhaken. Mechanisch, ohne eine Miene zu verziehen. So etwas habe ich noch nie gesehen", sagt Hübner. "Der hat nicht lang gefackelt: mich kurz angesprochen, geknipst und weg war er."
Und so verschwindet Reiner aus einer Welt, in der galt: Voll im Bild. Und doch unauffindbar.
Gekürzte Fassung eines Textes aus der nächsten Ausgabe der Halbjahreszeitschrift Polar, die Mitte September erscheint. www.polar-zeitschrift.de
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