Wer rechts wählt, muss nicht ungebildet sein

Neoliberalismus Lexikon der Leistungsgesellschaft: Einmal mehr haben es viele Linke versäumt, mehr als populäre, entpolitisierte Anti-Rechts-Rhetorik vorzuweisen
Ausgabe 22/2019
Brav: immer schön gegen Rechts sein
Brav: immer schön gegen Rechts sein

Foto: John Thys/AFP/Getty Images

Europa hat gewählt: vorbei endlich das inhaltsleere Juhu-EU-Gejubel der Liberalen, vorbei endlich auch das nationalistische Geschrei der Rechten, vorbei aber leider auch die Gelegenheit, eine klar linke Position jenseits der beiden Pole zu stärken.

Hauptaussage im Wahlkampf: Stärkt Europa, wählt irgendetwas, bloß nicht rechts. Für mehr reichte der Platz auf Wahlplakaten und Instagram selten. Beim fröhlichen, mit coolen Beats unterlegten Freude-schöner-Götterfunken-Chor waren sogar einige „linksradikale“ Stimmen zu hören. In der Jungle World appellierte ein Mitglied der Berliner Gruppe Theorie Organisation Praxis (TOP), es mit der linken EU-Kritik sein zu lassen und stattdessen lieber an der Seite der „fortschrittlichen“ Kapitalfraktionen zu stehen.

Strategische Partner für eine solche Volksfront gegen rechts finden sich in der deutschen Bourgeoisie zuhauf. Anfang Mai riefen die Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft unter dem Motto „WIRtschaft für Europa“ ebenfalls dazu auf, Europa zu stärken. Das exportorientierte Kapital sorgt sich um den europäischen Binnenmarkt und seine Absatzmärkte. Wirtschaftlich soll in Europa, frei nach Volker Kauder, weiter Deutsch gesprochen werden.

Ein Lichtblick in Sachen EU-Kritik war ausgerechnet Martin Sonneborns „Die Partei“, die der Seenotrettungsorganisation Sea-Watch die Gestaltung ihres TV-Wahlspots überließ und so an den nach wie vor mörderischen Charakter des EU-Grenzregimes erinnerte – ein Thema, das vor lauter Europa-Luftballons und strategischen Überlegungen irgendwie unterging. Leider war sich dann aber auch Sonneborn nicht zu schade, die populäre entpolitisierte Anti-rechts-Rhetorik zu bedienen. Kurz vor den Wahlen sagte er in einem Interview, die Dummen würden die AfD wählen, die Intelligenteren seine Partei.

Beharrlich hält sich seit Jahrzehnten das Gerücht, Rechte seien schlicht ungebildet. Eine falsche, aber bequeme Analyse, denn so muss man sich nicht mit den tatsächlichen Ursachen des Aufstiegs der Rechten auseinandersetzen. Die Rechten werden einfach ausgelagert in eine andere Welt, wo der hässliche Deutsche noch immer in seiner vollgepissten Jogginghose herumläuft, ein anderer Deutschland-Anglerhut trägt, niemand alle Latten am Zaun hat und nur wenige noch alle Zähne im Maul haben. Der schöne, gute Deutsche trägt einen blauen EU-Pulli, weiß Standortnationalismus in wohlklingende Phrasen zu verpacken und hofft, Linke weiterhin damit zu beschäftigen, „Argumente gegen Stammtischparolen“ zu suchen. Dabei wären Argumente gegen Jahreshauptversammlungsparolen auch nicht schlecht.

Sebastian Friedrich ist Journalist und führt in dieser Kolumne sein 2016 als Buch erschienenes Lexikon der Leistungsgesellschaft fort, welches veranschaulicht, wie der Neoliberalismus unseren Alltag prägt

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