In der Realität ankommen. Mit dieser Formel wird heute gern der Weg der Protestgeneration von den Rändern in die Mitte der Gesellschaft umschrieben. Ob nun mit dem Unterton der Ironie oder der Genugtuung - immer schwingt darin mit, dass es ein soziales Gravitationszentrum gibt, zu dem man wie zu einem Magneten immer wieder zurückschwingen muss. In seinem neuesten Roman Alle oder keiner bricht der Berliner Schriftsteller Ulrich Peltzer nicht den Stab über dieses verbreitete Phänomen, noch fordert er diese Lernerfahrung so vehement ein, wie das die Grünen auf ihren Parteitagen tun oder Ex-tazler in der ZEIT oder im Tagesspiegel. Sondern er beschreibt einfach den unmerklichen Übergang dahin. Plötzlich ist man halt, wie Bernhard, Peltzers Protagonist, dr
hard, Peltzers Protagonist, drin in der Realität, hat einen "Sinn für die wirklichen Gegebenheiten". Der Neununddreissigjährige ist zwar kein Aussenminister geworden. Aber inzwischen hat er eine Stelle in einem Forschungsprojekt an der Universität, hat eine nette Freundin. Bernhards linker Werdegang begann mit der Antipsychiatrie. Da hat er noch den Zusammenhang von Kapitalismus und Schizophrenie bekämpft, jetzt buchstabiert er ihn als Mitarbeiter an einem Handbuch für forensische Psychiatrie, untersucht Delinquenten auf ihre Schuldfähigkeit: "Wer war ich denn", sagt er rückblickend, "gegen alles und jeden anzutreten, ich bin Fachmann für ein bestimmtes wissenschaftliches Instrumentarium". Die WG-Zeiten in einer Kreuzberger Fabriketage gehen zu Ende. Man will "den alten Muff beenden", schätzt Designermöbel, sitzt abends mit Freunden, die sich mit Agenturen selbstständig machen, auf dem Balkon, trinkt gute Weine, trifft sich am Winterfeldmarkt. Plötzlich ist man mitten drin in dem, was man früher fürchtete oder erwartete: "Das ist jetzt die Zukunft". Entfernte Möglichkeiten gibt es jetzt nicht mehr. Und auf die eigene Vergangenheit schaut man wie durch ein Fernglas. Trotzdem geht es einem eigentlich gut. Wenn da nicht doch dieses Gefühl wäre: "Mir schien, ich hatte etwas verloren, ohne dass mir deutlich gewesen wäre, auf welchem Gebiet und was da genau, als hätte es keinen Abdruck in mir hinterlassen, den man wenigstens wieder füllen könnte wie eine Hohlform, ein Duplikat des ursprünglichen Gegenstands, zumal ich auf der anderen Seite auch nichts vermisste, einen antreibend in eine bestimmte Richtung, dorthin will ich, aber nichts dergleichen, man beschäftigt sich mit diesem und jenem, kriegt Geld, spart Geld, günstigenfalls."So weit, so routiniert erfüllt sich die schmerzlose Verbürgerlichung der Vierzigjährigen. Nur einen guten Generationen-Roman geschrieben zu haben, wie es Kritik im letzten Herbst sah, wäre freilich etwas wenig für einen so ambitionierten Autor wie den 1956 in Krefeld geborenen Peltzer. Vor allem für seinen letzten Roman Stefan Martinez, ein voluminöses, expressionistisches Feuerwerk von Berlin-Eindrücken hatte er 1997 den Anna Seghers-Preis erhalten. Doch mit den ausufernden Räsonnements darüber, wie Biochemie und Wahrnehmung zusammenhängen, säte Peltzer schon damals die Zweifel an dieser Ästhetik. Wo heute alle in Film, Literatur und Theater einen neuen Realismus suchen, zeigt Peltzer nun mit Alle oder keiner, etwas weniger furios, dafür konzentrierter, wie man realistisch erzählen kann, ohne in eine naive Position zurückzufallen."Die Dinge gehen durch mich hindurch" hieß der letzte Satz in Stefan Martinez. Den kann man als programmatischen Auftakt für das neue Buch lesen. Das transitorische ist nämlich die andere Seite der Realität. Berlin ist in diesem Roman keine Bühne für die schrille Szene in Mitte. Der nachdenkliche Nachtschwärmer Bernhard nimmt seine Umwelt auf seinen Spaziergängen um die Berliner Oranienstrasse und den Mariannenplatz oder die Altstadt Bukarests während einer Dienstreise nach Rumänien zwar geradezu fotorealistisch wahr. Die Dinge wirken auf diesen postlinken Flaneur so intensiv nach wie der Glimmdraht einer Glühbirne. Menschen, Verkehr, Nachrichten, Musik - die Geräusche fallen in eins. In die tranceartigen Wahrnehmungen vor der Kulisse der Stadt brechen immer wieder übergangslos, nur mit einem Komma abgetrennt, die Bilder der linken Anfänge: wie er Zeitungsausschnitte von der Ermordung Allendes sammelte, später die Strassendemonstrationen in Bologna und im Baskenland. Politik reduziert sich in diesem all-over-Text aus ineinander fliessenden Erinnerungen und Übergängen auf ein rhythmisiertes Nahbild ohne Überblick: die Leute vor und hinter sich in den Demonstrationsreihen, von der Polizei durch die Strassen getrieben, die Gesichter in der Versammlung, die er mit einer Ansprache plötzlich auf seine Seite zieht. Doch die Geschichte treibt ohne richtigen Höhepunkt so dahin, wie Bernhard durch Berlin. Wenn man aus der Obhut der großen Wahrheiten und zentnerschweren Texte gelangt hat man mehr Zeit für das Ziellose, Unvorhergesehene, für das Detail. Und mit der spannenden Frage, wie und ob die Geschichte mit der jungen Autorin Christine sein Leben wirklich verändern wird, lässt Peltzer den Leser allein. Die lebendige junge Frau mit den hennarot gefärbten Haaren und den Plateausohlen hat der routinierte Verwalter seiner alternativen Zukunft eines nachts in einem Technoschuppen auf der Oranienstrasse kennengelernt. Für sie ist seine linke Vita Historienstoff. Mit ihrer Frage "Wie ging die Geschichte?" löst sie Bernhards Erinnerungsbewegungen aus.Peltzer ist mit seinem Buch kein weltbewegend neuer Wurf gelungen, sondern er hat mit einer konzentrierten Übung in Dezentrierung ein weiteres Glied in die lange Kette experimenteller Selbsterfahrung in der Moderne gefügt. Mit diesem Ich als Durchgangsstation, mehrschichtig, spielerisch, abschweifend, von Erinnerung und Wahrnehmung gleichzeitig durchschossen, äußert sich eine Ästhetik auf der Höhe der Zeit. Unlarmoyant und präzis beleuchtet Peltzer eine Generationenerfahrung. Und breitet Bewusstsein und Welt als vielfach ineinander verwobene Textur aus. In dieser Realität möchte man gern ankommen.Ulrich Peltzer: Alle oder keiner. Roman. Ammann-Verlag, Zürich 1999, 245 S., 36,- DM
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