Früher wurde es gern unterschätzt, heute wird es oft überschätzt. Vor allem in den letzten drei Jahren gab es die Neigung, das Internet als totalitär, als das Böse schlechthin zu bezeichnen. Es wurde zum Monster hochgeschrieben, und diese Zuschreibung entsprang nicht allein ernster Besorgnis, sie war auch interessengeleitet. Es kommt nämlich immer darauf an, wer das Netz unter welchem Aspekt gerade betrachtet. Bei den einen ist es nur ein effektives Werkzeug, bei den anderen ein unentdeckter Kontinent, bei den dritten ein Lebewesen, das mit zunehmender Vernetzungsdichte ein eigenes Bewusstsein entwickeln könnte. Der Biologe Christian Schwägerl hat in seiner grandiosen Netz-Utopie (Die analoge Revolution) versucht, Natur und Internet zur „T
zur „Technatur“ zu verschmelzen, da das Netz mit seinen Routern, Glasfaserkabeln und Serverzentren aus den gleichen Atomen und Kohlenstoffverbindungen hervorgehe wie die ökologischen Netze der Tier- und Pflanzenwelt. Je besser das Internet in die Umwelt eingebettet sei, desto eher erfülle es die gleiche Funktion wie die evolutionär entstandenen Ökosysteme: die Kooperation aller Beteiligten.Schwärmer des NetzesMit ähnlich schwärmerischer Begeisterung wurde das World Wide Web bei seiner Einführung vor 25 Jahren begrüßt. Und noch zur Jahrtausendwende feierte man in den Feuilletons die „Befreiungstechnologie“ Internet. Sie multipliziere die Chancen der Mitbestimmung durch Vernetzung sich selbst organisierender Gruppen, sie erweitere den Zugang zu Wissen und Bildung und verspreche allen, immer gehört, verstanden und respektiert zu werden. Das Freiheitsnetz der ersten Jahre erschien den Benutzern als ideales Instrument, die zu eng gewordene repräsentative Demokratie zivilgesellschaftlich zu erweitern: direkte Demokratie, unabhängige Tauschbörsen und ungefilterte Einmischung.Für die Staaten und ihre Sicherheitsorgane, aber auch für manche Eliten und Fachleute war das ein Graus. Die unkontrollierte Ausbreitung von Ideen, die Organisation von Widerstand über das Netz, die Gefährdungen des Staatswohls durch Whistleblower und Hacker und die immerwährende Bedrohung durch Kriminelle und Terroristen ließen es ratsam erscheinen, ein zweites, besonders engmaschiges Sicherheitsnetz über das erste zu stülpen. Mit ihm konnte man die Kommunikationsdaten aller Bürger speichern und nach auffälligen Mustern und Selektoren durchsuchen. Wikileaks und Edward Snowden nannten das Internet von nun an eine Spionageorganisation und kritisierten die digitale Totalüberwachung der Menschheit.Im Windschatten dieses Zweikampfs zwischen Freiheit und Sicherheit breitete sich ein drittes Netz mit rasender Geschwindigkeit aus: das Unterhaltungsnetz. Die Filmanbieter Netflix und Youtube verursachen heute mehr als die Hälfte des gesamten Downstream-Traffics in den USA. In Spitzenzeiten sind es sogar 70 Prozent, während der Anteil des klassischen Web-Surfens auf magere sieben Prozent zusammengeschrumpft ist. „Das Internet ist zum Fernsehen mutiert: linear, passiv und harmlos“, sagt der oppositionelle persische Blogger Hossein Derakhshan. „Die einstige Stärke des Webs ist verschwunden – und seine Ernsthaftigkeit auch.“Noch rigoroser als das Unterhaltungsnetz zerstörte das Marktnetz die Strukturen der alten Dienstleistungswelt. Ganze Branchen brachen zusammen oder entstanden neu. Der „digitale Tornado“ fand immer weitere Opfer. Laut einer Umfrage unter 941 Topmanagern werden als Nächstes Banken und Versicherungen, die Konsumgüterindustrie, Versorger sowie Bildungs- und Gesundheitsunternehmen durch die Internetmangel gedreht. Ein Schaubild von IBM listet die bisherigen „digitalen Disruptionen“ auf: Aus unscheinbaren Start-ups wurden milliardenschwere Marktführer. Alles, was diese Firmen benötigten, lieferte das Internet. So besitzt die weltgrößte Taxifirma noch immer keine eigenen Fahrzeuge (Uber), der größte Zimmervermieter hat keine Hotels (Airbnb), die größte Telefongesellschaft verfügt über null Infrastruktur (Skype), das größte Handelshaus besitzt keine Warenlager (Alibaba) und der größte Verleger produziert keine Inhalte (Facebook).Und nun kommt als Nonplusultra das Netz Nummer 5: das Allesnetz, das berühmte „Internet der Dinge“ oder – wie es im Englischen treffender heißt – the internet of everything. Das Allesnetz soll nicht nur „die intelligente Fabrik“ ermöglichen (für die im Deutschen oft der Begriff Industrie 4.0 verwendet wird), es wird Menschen, Dinge und Prozesse so verbinden, dass sich alle wechselseitig optimieren können – überall und jederzeit. Jedes Ding, jedes Lebewesen speist dazu die Daten über seinen aktuellen Zustand oder seinen momentanen Gebrauch ins Allesnetz ein. Die dafür notwendigen Sensoren und Kleinstcomputer verschwinden in den Geräten, Baustoffen und Konsumgütern, werden als sogenannte Wearables am Handgelenk oder auf der Nase getragen oder gleich in die Körper implantiert. Der tiefere Sinn des Allesnetzes ist „die Verfügbarkeit aller relevanten Informationen in Echtzeit durch die Vernetzung aller an der Wertschöpfung beteiligten Instanzen, und die Fähigkeit, aus diesen Informationen den zu jedem Zeitpunkt optimalen Wertschöpfungsfluss abzuleiten“. Es gehe darum, Zeit und Ressourcen zu sparen, um Kosten zu senken (und nebenbei vielleicht den Planeten zu retten).Silicon-Valley-OligarchieWollte man alle fünf Netze mitsamt ihren Auswirkungen auf einen einheitlichen Begriff bringen, könnte man sie – mit dem Jenaer Soziologen Hartmut Rosa – als Ausdruck einer phänomenalen Beschleunigung betrachten. Das Internet wäre sozusagen der Raketenantrieb der Moderne. Es ermöglicht einen Wachstumsschub ungeahnten Ausmaßes, weil buchstäblich alles in den kapitalistischen Verwertungsprozess hineingezogen wird: die Rohstoffressourcen des Planeten und die Vorlieben seiner Bewohner, die Geräte und die Gehirne. Nicht nur „die Produktivitätsgewinne der Digitalisierung sind riesig“ (Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel), auch die von der Beschleunigung hervorgerufene Verunsicherung wird gewaltig sein. Sie untergräbt alle Gewissheiten und Identitäten. Die Produktivkräfte sprengen – wie Marx prophezeite – die Produktionsverhältnisse. Die Moderne kommt an eine Wegscheide. Die selbe Technik, die uns hilft, Zeit zu sparen, produziert mittels Tempoverschärfung immer größeren Zeitdruck.Der Internettheoretiker Evgeny Morozov äußert eine immer schärfer werdende Kritik an der Silicon-Valley-Oligarchie. Die Netzszene hat das nicht goutiert. Diese technologie-fixierte Glaubensgemeinde denkt nach wie vor nicht in machtpolitischen Kategorien. Umgekehrt haben die Macht-Politiker das Internet endlich begriffen. „Die Digitalisierung ist zu einem Totalphänomen geworden“, bekannte Justizminister Heiko Maas, als er eine umfassende „Magna Charta der digitalen Grundrechte“ vorstellte. Er folgte damit der Aufforderung des Web-Erfinders Tim Berners-Lee, der eine „digitale Bill of Rights“ fordert. Dazu gehören: Zugang zum Netz, Meinungsfreiheit, Schutz der Privatsphäre, der plurale, offene und dezentrale Charakter der Internet-Plattformen, die Netzneutralität und die Erschwinglichkeit des Netzes für jedermann.Doch Papier und Paragrafen sind geduldig. Reicht es wirklich aus, ein Völkerrecht für die digitalen Weltmeere zu schaffen, solange die mächtigsten Nationen selbstherrlich entscheiden, ob sie sich daran halten? Braucht es nicht auf lokaler Ebene eine Vielzahl alternativer Projekte, die eine digitale Bill of Rights mit Leben erfüllen und diese – bei Gefahr im Verzug – auch netzpatriotisch verteidigen? Sind die zähen, auf erheblichen Widerstand stoßenden Befreiungsversuche nicht viel zu langsam für ein Hochgeschwindigkeitsnetz, das globale Monopole binnen weniger Jahre aus dem Boden stampft und in absehbarer Zeit vielleicht auch Gehirne zu einem neurobiologischen Internet verbinden kann?Christian Schwägerl gibt in seinem Buch eine tröstliche und zugleich erschreckend biologische Antwort: „Das Internet“, sagt er, „ist nur die neueste technologische Ausformung einer seit Milliarden Jahren wachsenden ‚Komplexifizierung‘ der Materie.“ Das ist eine im Kern unpolitische Bemerkung. Keine Technologie allerdings ist reiner naturgewollter Sachzwang. Es hängt am Ende immer davon ab, was Menschen daraus machen, welche Entscheidung sie fällen. Jetzt wäre der Zeitpunkt, diese Entscheidungen für das Netz zu treffen.Placeholder infobox-1
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