Der Freitag: Herr Piketty, Sie kritisieren in Ihrem Buch die steigende Ungleichheit in der Gesellschaft. Aber ist diese Ungleichheit nicht eine elementare Voraussetzung unseres Wirtschaftssystems?
Thomas Piketty: Es kommt auf die Verhältnismäßigkeit an. Natürlich kann ein gewisser Grad an Ungleichheit gerechtfertigt und sogar nützlich für das Wirtschaftswachstum sein. Aber extreme Ungleichheit ist schädlich für das Wachstum, sie reduziert die gesellschaftliche Mobilität und gefährdet die Akzeptanz demokratischer Institutionen. In Europa stehen wir da allerdings vor ganz anderen Problemen als die USA.
Wie meinen Sie das?
Piketty: In den USA ist die Ungleichheit viel stärker ausgeprägt. Der Anstieg der Gehälter von Topmanagern war in Deutschland und Frankreich sehr viel geringer. Allerdings sollten wir keinesfalls so lange zögern, bis sich die europäischen Verhältnisse den amerikanischen angenähert haben.
Herr Trittin, im letzten Bundestagswahlkampf haben die Grünen die Ungleichheit zum Thema gemacht und höhere Steuern für Reiche, eine Vermögensabgabe und eine höhere Erbschaftssteuer gefordert. Das war ein Flopp. Warum?
Jürgen Trittin: In erster Linie, weil wir uns in einer Debatte über das Wie und nicht über das Warum wiederfanden. Wir haben nicht ausreichend rübergebracht, wofür wir das Geld aus Steuererhöhungen einsetzen wollen. Um die Gesellschaft wieder in Balance zu bringen, müsste mehr in Infrastruktur und Bildung investiert werden. Anders ist mehr Gleichheit nicht zu erreichen. Es ist ja richtig, ein gewisses Maß an Ungleichheit kann die Wirtschaft stimulieren und so mehr Reichtum schaffen. Aber dieses System funktioniert nicht mehr. In Deutschland war lange Zeit Konsens, dass Arbeitnehmer zu einem angemessenen Teil am Wirtschaftswachstum beteiligt werden müssen. Das war der Kern von dem, was Ludwig Erhard soziale Marktwirtschaft genannt hat. Aber seit den späten 70er Jahren wächst die Ungleichheit. Daraus resultieren nicht nur moralische Fragen. Ungleichheit kann schwere wirtschaftliche Probleme verursachen.
Warum gelingt es nicht, eine breite gesellschaftliche Bewegung gegen die Ungleichheit auf die Beine zu stellen? Fehlen der Politik überzeugende Symbole?
Trittin: Beim Thema Steuern ist eine gewisse Sensibilität angebracht. In Frankreich hat Präsident Hollande den Spitzensteuersatz auf 75 Prozent hochgeschraubt. Die Akzeptanz einer Politik für mehr Gleichheit ist danach extrem eingebrochen – und viele Reiche haben ihre Vermögen ins Ausland geschafft. Wir fordern bewusst nur 49 Prozent. Das hat einen Grund: Wir wollen nicht die Botschaft aussenden, dass wir den Leuten mehr als die Hälfte ihres Einkommens besteuern. Sonst wird es schwer mit der gesellschaftlichen Akzeptanz.
Umfragen zufolge gibt es hierzulande diese Akzeptanz.
Trittin: Ja, hier ist die Mehrheit für höhere Einkommens-, Vermögens- oder Erbschaftssteuern. Aber wählen die Leute auch die Parteien, die das vorschlagen? Offenkundig nicht. Dafür gibt es einen Grund: Die Menschen haben gesehen, dass es uns im Vergleich zu unseren Nachbarn sehr gut geht. Und in einer schwierigen ökonomischen Situation wie der Finanz- und Schuldenkrise wollen die Menschen Stabilität, nicht Veränderung. Aber man kann diese Haltung aufbrechen, indem man den Leuten sagt, wofür man das Geld verwenden will. Diese Diskussion hat ja begonnen: Es geht um die maroden Straßen und Brücken, es geht um bessere Bildung, Kinderbetreuung. Wenn man das alles nicht über steigende Schulden bezahlen will, muss man Subventionen abbauen – und auch Steuern für Reiche erhöhen.
Herr Piketty, was denken Sie? Warum wählen die Leute nicht die Parteien, die Steuererhöhungen fordern
Piketty: Die Explosion der Einkommen des oberen einen Prozents ist vor allem ein amerikanisches Phänomen, die steigende Ungleichheit ist deshalb dort zum zentralen gesellschaftlichen Problem geworden. In Europa ist das noch anders, hier ist Ungleichheit auch ein Problem, aber eines von mehreren. Die Währungsunion muss funktionieren, die Verschuldungskrise muss gelöst werden, wir haben eine Inflation von fast null Prozent, das ist historisch einmalig. Ich kann also verstehen, wenn die Bürger in Europa sich bei diesem Thema weniger Sorgen machen als die in den USA.

Dann können wir hier also weitermachen wie bisher.
Piketty: Nein, keineswegs. Jürgen Trittin hat recht, die Konkurrenz der Länder untereinander spielt eine wichtige Rolle bei der Frage, wie sich die Wähler verhalten. Sehen Sie, es ist nicht leicht, heutzutage ein kleines Land in der Weltwirtschaft zu sein. Auch Frankreich oder Deutschland sind kleine Länder, wenn man die Weltwirtschaft als Maßstab nimmt. Wenn man klein ist, sucht man sich eine Nische, in der man erfolgreich sein kann. Das kann so weit führen, dass Regierungen Entscheidungen treffen, die den eigentlichen politischen Grundüberzeugungen zuwiderlaufen. Schauen Sie, wie Luxemburg Unternehmen geholfen hat, bei den Steuern zu tricksen. Oder nehmen Sie Frankreich, das Waffen an Russland verkauft, um seine Handelsbilanz aufzubessern. Und das gilt auch für Deutschland.
Stellt sich die deutsche Regierung gegen die eigenen Grundwerte?
Piketty: In gewissem Sinne ja. In Deutschland ist der Anteil des Arbeitseinkommens am Gesamteinkommen stark zurückgegangen. Vor zehn, fünfzehn Jahren hatte man die Sorge, die Konkurrenzfähigkeit zu verlieren. Die Politik hat dieses Problem dann zwar gelöst, aber sie ist dabei zu weit gegangen. Die Deutschen sind nun so konkurrenzfähig, dass sie seit Jahren einen Handelsbilanz-Rekord nach dem anderen aufstellen. Das hat es in der Geschichte bei einer Volkswirtschaft dieser Größe noch nie gegeben. Es ist aber ökonomischer Irrsinn, einen Handelsüberschuss in alle Ewigkeit zu behalten – außer man hat die Absicht, die Arbeit für den Rest der Welt zu erledigen.
Trittin: Ja. In der Summe sind dauerhafte Exportüberschüsse ein Problem. Denn den Überschüssen stehen Defizite anderer Länder gegenüber. Heute ist der deutsche Überschuss gut für Europa. Andernfalls hätte die gesamte EU ein Handelsdefizit. Und wir haben ja beschlossen, dass in der Eurozone nicht nur Defizite, sondern auch Überschüsse künftig begrenzt werden sollen. Das muss aber auch umgesetzt werden. Das eigentliche Problem liegt woanders. Deutschland macht eine Austeritätspolitik vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit der großen Inflation in den 20er Jahren. In den USA gab es hingegen die Große Depression in den 30er Jahren. Das sind zwei ganz unterschiedliche Narrative, aus denen sich ganz unterschiedliche ökonomische Grundhaltungen ableiten. Die einen sparen, die anderen drehen den Geldhahn auf. In Europa brauchen wir mehr Investitionen.
Viele sehen in der Sparpolitik das Kernproblem der EU.
Trittin: Zuletzt sind die deutschen Exporte um sechs Prozent eingebrochen und die Industrieproduktion um vier Prozent. Das zeigt: Wenn Europa seine Krise nicht bald überwindet, wird auch Deutschland langsam reingezogen. Ich habe ein Problem mit einer ideologischen Haltung zum Thema Schulden. Natürlich kann es sinnvoll sein, in begrenztem Umfang Schulden zu machen. Aber die Wahrheit ist doch: Nicht die Staaten, sondern die europäischen Gesellschaften sind überschuldet. Also die Unternehmen, die Privathaushalte, die Banken. Wenn dann eine Wirtschaftskrise ausbricht, dann rutschen auch die Staaten tief in die roten Zahlen. Spanien ist da ein gutes Beispiel. Um das zu ändern, brauchen wir dringend mehr Investitionen in der Eurozone. Aber bisher tut sich da leider viel zu wenig.
Brauchen wir vor allem den Staat als Investor?
Trittin: Sicher, die Investitionsfähigkeit des Staates sollte erhöht werden. Und zwar einnahme- nicht kreditfinanziert. Dafür müssen wir Subventionen kürzen. Es gibt viele ökonomisch unsinnige Hilfen, die die Ungleichheit nur vertiefen. Es gibt ökologisch schädliche Subventionen in Höhe von 50 Milliarden Euro. Das Geld könnte man stattdessen für ökologisch sinnvolle Investitionen nutzen, ganz ohne neue Schulden.
Herr Piketty, Kritiker aus dem globalen Süden werfen Ihnen vor, Sie nähmen die dortige Ausbeutung von Rohstoffen durch den Norden viel zu wenig in den Fokus. Denn ebendiese Ausbeutung treibe Millionen Menschen in elendige Armut.
Piketty: Aber das spielt doch eine sehr wichtige Rolle in meinem Buch! Die ungerechte Verteilung des Kapitals, das mit Öl generiert wird, kommt doch in fast jedem Kapitel vor. Öl allgemein und die Ungleichheit der Verteilung des Ölkapitals ist ein riesiges Problem, das in der multidimensionalen Geschichte des Kapitals eine sehr wichtige Rolle spielt.
Die Kritiker meinen, wir müssten eher die globale Zerstörung von Natur und Lebensgrundlagen besteuern als die Vermögenskonzentration in der nördlichen Hemisphäre.
Piketty: Im Nahen Osten ist die Frage der Umverteilung eine Frage des Öls, klar. Aber im Falle Europas sticht ins Auge, dass sowohl private und öffentliche Verschuldung als auch privater Reichtum zugenommen haben. Letzterer ist aber seit den 1970er Jahren viel stärker gewachsen und nun sogar höher als vor dem Ersten Weltkrieg. Also sind es die Regierungen, die arm sind, und das verursacht eine Reihe von Problemen. Unser makroökonomisches und finanzielles Fundament in Europa ist sehr viel besser, als man denken könnte, wenn man nur auf die Schulden blickt und ganz das Vermögen vergisst.
Von David Graebers Forderung nach radikalen Schuldenschnitten halten Sie aber nichts. Warum nicht?
Piketty: Weil eine progressive Vermögenssteuer viel radikaler als ein Schuldenerlass ist. Superreiche haben keinen Anteil an der öffentlichen Verschuldung. Sie können also so viele Staatsschulden streichen wie sie wollen, die würden keinen einzigen Euro verlieren. Wenn man hingegen Spitzenvermögen jährlich um fünf bis zehn Prozent im Jahr besteuerte, dann würde das unseren Begriff von Privatbesitz radikal verändern. Das wäre keine kleine sozialdemokratische Maßnahme, sondern eher eine permanente Revolution. Und das ist nichts Utopisches. Es entzieht sich sogar dem Links-rechts-Schema: In Spanien hat die konservative Rajoy-Regierung jene Vermögenssteuer wieder eingeführt, die zuvor von der sozialdemokratischen Zapatero-Regierung abgeschafft wurde. Von den Griechen wird vernünftigerweise verlangt, die Reichen dort hoch zu besteuern. Zur gleichen Zeit aber versagen deutsche und französische Banken ihnen die notwendige Unterstützung dafür.
Trittin: Besteuerung ist erst der zweite notwendige Schritt, wenn es um Ungleichheit geht. Der erste ist aber, die primäre Verteilung von Einkommen gerechter zu organisieren. In Deutschland hat nicht die Besteuerung, sondern die totale Liberalisierung des Arbeitsmarktes die Ungleichheit verschärft. Darum muss es gehen: Wie reformieren wir Arbeits-markt und Rechtssystem so, dass die Leute gerechtere Löhne bekommen? Und dann müssen wir diese religiöse Formel brechen, die unsere Wirtschaftslobbyisten stets beschwören.

Was meinen Sie damit?
Trittin: Die Lobbyisten sagen immer: Wir brauchen höhere Profite, um mehr investieren zu können. Aber in Deutschland ist parallel mit dem massiven Anstieg der Gewinne von Unternehmen, den wir seit den 1970er Jahren sehen, die Investitionsquote dramatisch gesunken. In den 1990er Jahren wurden 40 Prozent der Überschüsse reinvestiert. Seit einem Jahrzehnt liegen wir nun unter zehn Prozent. Statt zu investieren, wird mit den Profiten an den Finanzmärkten spekuliert. Wir müssen Anreize entwickeln, mit denen sich nicht nur das öffentliche, sondern gerade das private Investitionsdefizit überwinden lässt.
Wohin sollten diese Investitionen dann fließen, Herr Piketty?
Piketty: Zunächst in unsere Bildungssysteme. Die Unterfinanzierung der Hochschulen ist einer der größten Fehler Europas. Wir haben denselben Anteil an der Weltwirtschaft wie die USA, aber dort befinden sich 90 Prozent der Top-Universitäten der Welt. Dafür gibt es keinen vernünftigen Grund. Viele unserer besten Wissenschaftler wandern nach wie vor in die USA ab und kommen nie zurück. Wenn es dabei nur um Ökonomen ginge, dann wäre das nicht so schlimm, denn ich weiß nicht, ob die am Ende so nützlich sind. Aber es geht auch um Naturwissenschaftler, um IT-Spezialisten. Die meisten europäischen Staaten geben sehr viel Geld für die Zinsen auf ihre Schulden aus. Italien zum Beispiel zahlt sechs Prozent seines Bruttoinlandsprodukts. In die Universitäten fließt dagegen weniger als ein Prozent. Jetzt liberalisiert die italienische Regierung das Arbeitsrecht, und die Leute scheinen zufrieden damit zu sein – zumindest außerhalb Italiens. Aber bereitet man sich auf die Zukunft vor, indem man sechs Mal so viel für Zinsleistungen aufwendet wie für Hochschulbildung? Ich denke nicht.
Muss der Staat nicht auch in anderen Sektoren eine sehr viel stärkere Rolle einnehmen?
Piketty: Nun, er sollte zumindest ein Steuersystem bereitstellen, das berechenbar ist und gute Anreize setzt. Europas größtes Problem ist der Wettbewerb der Staaten um das attraktivste Steuermodell für Unternehmen. Die Steuersätze für Unternehmen sind in den USA höher als in Europa, doch das europäische Sozialstaatsmodell erfordert eigentlich mehr Steuereinnahmen als in den USA. Im Moment besteuern wir also über Gebühr diejenigen, die nicht mobil sind, vor allem niedrig und mittel qualifizierte Arbeiter. Das Sinnvollste, was wir in Europa für Investitionen und Konjunktur tun könnten, wäre die Einführung einer einheitlichen Unternehmensbesteuerung ohne all die Schlupflöcher.
Trittin: Ich stimme Ihnen da zwar zu. Aber ich muss etwas ergänzen: Manchmal erzeugen Rahmenbedingungen, die für ganz andere politische Felder entwickelt werden, auch Investitionen. Mit der Energiewende haben wir einen Rahmen geschaffen, in dem jedes Jahr nahezu 20 Milliarden Euro private Investitionen in neue Ökostrom-Anlagen fließen. Mit derlei Rahmensetzung kann man in vielen Bereichen Investitionen und Wirtschaftswachstum ankurbeln, etwa bei der Dämmung von Gebäuden.
Herr Piketty, Sie betonen in Ihrem Buch, wie wichtig es für die Akzeptanz einer Steuerpolitik ist, dass die Ausgaben effektiv und effizient für die Daseinsvorsorge eingesetzt werden. Wir sollten das partizipativer organisieren, schreiben Sie. Was halten Sie von einer direktdemokratischen Kontrolle für Bereiche wie Energie, Transport und Gesundheit?
Piketty: Die Idee, das Privateigentum abzuschaffen, war ein Desaster. Aber das heißt nicht, dass die Diskussion über alternative Eigentumsformen vorbei ist. Erst einmal sollten sich viele Länder ein Beispiel an der Einbindung von Arbeitnehmern in die Aufsichtsräte nehmen. Aber die Diskussion ist insgesamt offen, die Entwicklung neuer Alternativen, Eigentum zu organisieren, ist komplementär zum Ansatz der progressiven Kapitalsteuer, den ich mit meinem Buch verfolge.
Dieses Buch sei einerseits nicht radikal genug und andererseits ein „utopisches Buch im reinsten Sinne“, hat Slavoj Žižek kürzlich bemerkt. Denn, so Žižek, für die Erhebung internationaler Vermögenssteuern bräuchte es ja eine globale Agentur zur Kapitalkontrolle. Wenn es die jemals gäbe, dann hätte die radikale Linke bereits gewonnen. Sind sie ein sozialdemokratisch kostümierter Utopist?
Piketty: Ich soll zu sozialdemokratisch und zu utopisch zur gleichen Zeit sein? Tut mir leid, dass ich auf beiden Seiten so schlecht abschneide (lacht). Aber ernsthaft, ich glaube nicht, dass wir auf eine globale Regierung oder inter-nationale Einheitssteuern warten müssen. Es gibt eine Menge Dinge, die man auch auf nationaler Ebene machen kann. Deutschland könnte beispielsweise eine progressive Vermögenssteuer einführen, auf europäischer Ebene ließe sich vieles vorantreiben. Nächstes Jahr werden wir wohl mit TTIP einen transatlantischen Freihandelsvertrag bekommen, da liegt gerade die Hälfte des Bruttoweltprodukts auf dem Verhandlungstisch. Es wäre ein großer Fehler, wenn es dabei nur um Freihandel ginge. Wir sollten diesen Vertrag mit mehr Steuergerechtigkeit verbinden, uns auf eine Mindestbesteuerung internationaler Konzerne einigen. Die Menschen sind es leid, dass multinationale Unternehmen so wenig Steuern bezahlen. Wir könnten also eine Menge praktischer Fortschritte erzielen, wenn wir aufhören, nur über die Dinge zu reden, und sie einfach mal anpacken. Steueroasen kann man schließlich auch nicht einfach freundlich darum bitten, sich abzuschaffen. Das erfordert politischen Kampf.

Trittin: Ich will ein anderes Beispiel hinzufügen, wie wir in den Gesellschaften und in Europa handeln könnten: Nach der Aufhebung des Bankgeheimnisses in 50 Ländern muss die Abgeltungssteuer endlich abgeschafft werden. Mit der Beendigung der legalen Steuervermeidung in Europa könnte die steuerliche Bevorzugung von Großkonzernen eingeschränkt werden.
Herr Piketty, auf dem Weg zu Ihrer Forderung nach der progressiven Kapitalsteuer beziehen Sie sich auf Romane von Jane Austen und Honoré de Balzac. Welches ökonomische Wissen birgt die Literatur?
Piketty: Geld hat stets große Konsequenzen für das Leben von Menschen, es beeinflusst unser Verhalten, mitunter auch, wen wir treffen oder heiraten. Und Literatur ist ein wirkmächtiger Weg, davon zu erzählen. Wenn Austen oder Balzac über die Folgen sozialer Ungleichheit schreiben, so tun sie dies mit einer sprachlichen Kraft, die der Sozialwissenschaft fehlt. Aber am Ende ergänzen sich diese beiden verschiedenen Ausdrucksformen. Die Literatur hat in meinem Denken stets eine große Rolle gespielt. Balzacs Geschichten von Vautrin oder Rastignac aus dem Paris der 1820er Jahre – sie könnten auch im Berlin des Jahres 2014 spielen. Viele Fragen, die ich mir über die Bedeutung von Wohlstand, Arbeit, Lohn und Erbschaft gestellt habe, kamen aus der Beschäftigung mit Literatur.
Ökonomen sind in bestimmter Hinsicht immer auch politische Anthropologen. In der Literatur findet man meistens zwei klassische Modelle. Auf der einen Seite der wohltemperierte Handelsvertreter, der rationale Entscheidungen trifft – so wie etwas in George Lillos „Der Kaufmann von London“. Auf der anderen Seite der Spekulant, der vom animal spirit getrieben ist – so wie beispielsweise in Balzacs „Der Macher“. Welchem stehen sie analytisch näher?
Piketty: Ich fühle mich Balzac näher. Denn die Vorstellung rein rational kalkulierender Wesen geht natürlich fehl. Leidenschaften spielen im menschlichen Leben in vielerlei Hinsicht eine große Rolle, auch im Umgang mit Geld. Und das betrifft nicht nur Individuen, sondern manchmal sogar ganze Länder.
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