Was haben der Corona- und der Sputnik-Schock gemeinsam? Beide haben beziehungsweise hatten immense globale Auswirkungen. Die Pandemie forderte bereits über 400.000 Tote. Allein in den USA starben daran 117.000 Menschen, mehr als US-Soldaten im Ersten Weltkrieg. Den Sputnik-Schock löste die Sowjetunion 1957 aus, als sie die Fähigkeit unter Beweis stellte, die USA mit atomaren Interkontinentalraketen zu erreichen. Die USA wurden verwundbar, der nukleare Rüstungswettlauf begann. Zeitweise stieg das Arsenal beider Supermächte auf 64.000 Sprengköpfe, genug, um die Welt mehrfach auszulöschen.
Eine zweite Gemeinsamkeit besteht darin, dass beide Schocks eindringlich zeigen, die davon ausgehende Bedrohung nur gemeinsam bewältigen zu können. Nur wie? Auf einem konfrontativen oder kooperativen Weg? Wer zuerst einen Impfstoff entwickelt, kann diesen für den eigenen Vorteil nutzen oder allen zur Verfügung stellen. Wer sich bei der nuklearen Rivalität absetzt, kann der Illusion erliegen, diese zu „gewinnen“, oder sich darauf besinnen, atomare Sicherheit am besten gemeinsam zu gewährleisten. Denn wer zuerst schießt, stirbt als Zweiter.
Die Aussicht auf gegenseitige Vernichtung und stets höhere Rüstungskosten führten zum Gleichgewicht des Schreckens, doch ebenso zu Rüstungskontrolle, teilweise sogar Abrüstung. Washington und Moskau, die über 90 Prozent der Nuklearwaffen verfügen, schlossen während des Ost-West-Konflikts und danach wichtige Verträge, um ihre Arsenale zu begrenzen und zu reduzieren. Angefangen mit SALT 1 (1972) und SALT 2 (1979) über START 1 (1991) und START 2 (1993) bis hin zu SORT (2002) und New START (2010). Äußerst relevant waren ebenso der ABM-Vertrag (1972), der die Raketenabwehrsysteme regulierte, der INF-Vertrag (1987), der nukleare Mittelstreckenraketen verbot, und das umfassende Verbot von Atomtests (1996).
Mittlerweile haben sich die USA von etlichen Übereinkünften verabschiedet. Schon 2002 stieg Präsident Bush aus dem ABM-Vertrag aus und unterlief so die strategische Stabilität. Donald Trump kippte im Vorjahr das INF-Abkommen und kürzlich das Agreement über den offenen Himmel, das Inspektionsflüge über das Gebiet der Vertragspartner erlaubt, um so Vertrauen zu begründen. Hinzu kommt Trumps vor zwei Jahren erfolgter Rückzug aus dem Atomabkommen mit dem Iran.
Kooperation ist möglich
Übrig geblieben ist der New-START-Vertrag, der die einsatzbereiten Atomsprengköpfe und Trägersysteme der USA und Russlands auf je 1.550 bzw. 800 begrenzt, was vorerst bis zum 5. Februar 2021 gilt. In dieser Woche haben die beiden Protagonisten in Wien nach langer Zeit über eine möglich Verlängerung gesprochen. China, dazu eingeladen, sagte unter Verweis auf die Tatsache ab, nur über 320 Atomsprengköpfe zu verfügen. Während Moskau bereit ist, den Vertrag ohne Vorbedingungen zu erhalten, will die US-Regierung einen komplett neuen Deal.
Für Marshall Billingslea, seit Anfang April US-Emissär für Rüstungskontrolle, ist New START inzwischen das falsche Format, dessen Überlebenschancen insofern nicht gerade rosig sind. Zudem will Trump Streitkräfte für den Weltraum haben und niedrigschwellige Atomtests wieder aufnehmen lassen. Ein solches Verhalten sät Misstrauen zwischen den Atommächten und bedient die zentrale Ursache des Wettrüstens. Sie besteht darin, die Rüstung des anderen als Rechtfertigung für eigene Aufrüstung geltend zu machen. Während diese „nur“ der Abschreckung dient, also defensiv ist, streben die anderen nach offensiven Einsatzoptionen, um sie als politisches Erpressungspotenzial nutzen zu können, so die wechselseitige Wahrnehmung. Damit erhöht sich die Gefahr eines Atomkriegs aus Versehen, wird zugleich eine Konfrontation geschürt, die zur nuklearen Eskalation führen kann. Wenn Murphys Gesetz, dass schiefgeht, was schiefgehen kann, stimmt, dann ist es höchste Zeit, dem nuklearen Wettrüsten Einhalt zu gebieten und abzurüsten.
Verhandlungen über die Zukunft von New START sind vielleicht die letzte Chance, den Corona-Sputnik-Schock in eine kooperative Bahn zu lenken. Zunächst sollten sich die USA und Russland auf eine befristete Verlängerung verständigen. Das wäre eine wichtige Voraussetzung für die ins nächste Jahr verschobene Überprüfungskonferenz des Atomwaffensperrvertrags. Danach sollten multilaterale Sondierungen unter Einschluss aller Atommächte beginnen. Dass Kooperation auch in Krisenzeiten möglich ist, zeigt die Internationale Weltraumstation, auch ein Ergebnis des Sputnik-Schocks. Er löste zunächst einen Wettlauf zum Mond und um atomare Rüstung aus, führte dann aber zu Kooperation im Weltraum und Rüstungskontrolle.
So wie die Corona-Pandemie nur gemeinsam zu bewältigen ist, so ist auch Sicherheit im Nuklearzeitalter nur kooperativ möglich. Weder Viren noch nuklearer Fallout kennen Grenzen. Während die Menschheit Covid-19 auf jeden Fall überleben wird, ist das bei einem Atomkrieg nahezu ausgeschlossen. Ein Grund mehr, die vielen Milliarden US-Dollar, die jährlich in die Nuklearrüstung fließen, sinnvoller zu verwenden, etwa um die verheerenden wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Pandemie zu bewältigen.
Kommentare 5
Mir fehlt der Hinweis darauf, daß die USA ein Angebot vollkommener Abrüstung von A-Waffen ausschlugen, und außerdem gegen Abkommen an die Grenzen Rußlands vorstießen. (Ohne mit solch Hinweis für Putin trommeln zu müssen, der damals noch ein Niemand und kleiner Agent war.)
Wäre es wohl müßig / moralistisch darauf zu verweisen, oder eher bezeichnend für die weiteren Aussichten eines Prinzips davon, den Rest der Welt per nuklearer Übermacht in die Knie zwingen zu wollen?
Intelligente Presse könnte sich intellektueller Retardierung der Jahrtausendwende annehmen. Aktueller Ära der Stupidität, in der sich Intelligenz in technologische Nischen und Fachbereiche zurückgezogen hat, während repräsentativer Geist über ein Jonglieren von Symptomen nicht hinauskommend, als Ochs vorm Kern des Waldes steht.
Die Idiotie in Sachen A-Waffen als Zweiter sterben zu wollen, ist nur ein Indiz intellektueller Rückwärtsgewandtheit und strategischer Fatalität. Ökologischen Ast auf dem man atmet abzusägen, um daraus Dollarscheine zu machen, ein weiteres, usw.
Wo bleibt Sezierung und Beschämung globaler Macht und von ihr verhangenen Zeitgeistes?
Wäre es nicht Aufgabe eines Mediums wie des FREITAGs?
"... die vielen Milliarden US-Dollar, die jährlich in die Nuklearrüstung fließen, sinnvoller zu verwenden, etwa um die verheerenden wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Pandemie zu bewältigen."
Das gilt naturgemäß nicht nur für die "Nuklearrüstung", sondern auch für die ganz "normale", also die "konventionelle" Rüstung oder wie immer man die bezeichnen will.
Aber die Wähler von Donald Trump, Merkel, Putin, Macron, Netanjahu, Erdogan, Boris Johnson usw. wollen das nicht, denn Schuld am Krieg - ob nuklar oder konventionell - sind bekanntermaßen immer die "anderen" Nationen. Die eigene Nation steht über allem und hat immer recht.
Warum fällt mit jetzt dieses wundserschöne Lied "My country - right or wrong" von Midnight Oil ein?
Guckst du hier: https://www.youtube.com/watch?v=VfUQZ_dusr0
Über den "class warfare", den Krieg der Klassen innerhalb der eigenen Nation sprechen allerdings nur wenige wie z. B. der US-Demokrat Bernie Sanders:
"They talk about class warfare - the fact of the matter is there has been class warfare for the last thirty years. It's a handful of billionaires taking on the entire middle-class and working-class of this country.
And the result is you now have in America the most unequal distribution of wealth and income of any major country on Earth and the worst inequality in America since 1928.
How could anybody defend the top 400 richest people in this country owning more wealth than the bottom half of America, 150 million people?"
Tja, wer in den USA kritisiert, dass in seinem eigenen Land 400 reiche Leute über mehr Vermögen/Einkommen verfügen als 150 Millionen andere Amerikaner zusammen, der ist ein Extremist und böser Mann, der in seiner Jugend die Nächte mit Hexen und Teufelsanbeterinnen verbracht hat. Deshalb wurde Bernie Sanders in den USA von den christlichen Freiheitskämpfern vorsorglich bereits bei Vorwahlen zum Präsidentenamt abgesägt.
Im "christlichen" und "demokratischen" Deutschland ist das selbstverständlich ganz anders. Hier gibt es zwar auch "fleißige" Leute, die in einem einzigen Jahr aus einer einzigen Firmenbeteiligung 550 Millionen Euro Dividende kassieren, also mehr als eine halbe Milliarde, aber dafür bekommen Obdachlose im "christlichen" Bayernland auch eine Schutzmaske gegen Corona geschenkt und müssen sich die Schutzmaske nicht selbst kaufen, wenn das Geld auf ihrem Aktiendepot nicht dafür ausreicht. Daran sieht man, dass die sogenannte Soziale Marktwirtschaft im "christlichen" Deutschland immer noch hervorragend funktioniert.
Wer Zynismus im Kommentar findet, darf ihn eigenhändig mit der Axt erschlagen oder einem Strick erhängen.
Was mir fehlt ist, welche Strategie sich hinter all dem versteckt.
Meines Erachtens, und gestützt von Studien der CSIS (Denkfabrik in Washington, D.C. mit dem Fokus auf die Außenpolitik der Vereinigten Staaten), welche Strategien zur Erschaffung eines funktionierenden nuklearen Schutzschirm für die USA ab ca. dem Jahr 2025 vorschlagen, werden begrenzte nukleare Kriege mit maximalem Schutz des eigenen Territoriums wieder für möglich gehalten.
Wenn sich beispielsweise eine nukleare Eskalation auf Europa für ein paar Stunden begrenzen ließe und dann deeskaliert würde, wäre Europa als Konkurrent für sehr lange Zeit ausgeschaltet.
Das Aufkündigen der hierfür hinderlichen Verträge ist dann nur logisch. Eine Verringerung der Vorwarnzeiten auf nahe Null würde auch Russland zwingen, sich vorrangig um naheliegende potentielle Gefahrenherde zu kümmern – und die liegen rund um Russland sowie meist in Westeuropa.
Krisenherde in Europa und Asien müssen hierfür gepflegt und ausgebaut werden. Mit Indianerkriegen, um andere für sich kämpfen zu lassen, hat man seine Erfahrung.
Neue Mittelstreckenraketen, Aufkündigung des ABM-Vertrages und ein „Schutz“ des eigenen Territoriums vor Überwachung durch Aufkündigung des Vertrags zum offenen Himmel sind dann nur logisch.
Erschreckend ist für mich nur die Ignoranz der westlichen Bündnispartner der USA, die wissentlich ihren eigenen Untergang mit planen – oder denkt irgendeiner dieser Militärpolitiker, dass sich ein nuklearer Krieg nur auf dem russischen Territorium abspielen wird?
Die olle Reagan-SDI-Phantasie eines Abwehrschirms bleibt ja Quatsch. Unfug, der Jedem klar sein dürfte / nur aus Gründen nicht verworfen wird, wie sämtliche technische Absurdität à la KKW, Katalysatoren, Sprit aus Raps- / Palmöl, etc. pp. zuvor. Des Geschäfts wegen.
Abgesehen davon, daß Treffsicherheit und Durchgänger eines SDI immer in den Sternen stehen werden, wären auch die USA nicht verschont, wenn Treffer über dem Meer Tsunamis und tote See zur Folge haben.
Wenn die mondsüchtigen Profitgeier und Falken, die unsere Regierungen an der Leine führen, nicht sehr bald in Zaum genommen sind, werden wir alle dran glauben.
„Die Politik, indem sie sich des Krieges bedient, weicht allen strengen Folgerungen aus, welche aus seiner Natur hervorgehen, bekümmert sich wenig um die endlichen Möglichkeiten und hält sich nur an die nächsten Wahrscheinlichkeiten. Kommt dadurch viel Ungewissheit in den ganzen Handel, wird er also zu einer Art Spiel, so hegt die Politik eines jeden Kabinetts zu sich das Vertrauen, es dem Gegner in Gewandtheit und Scharfsicht bei diesem Spiel zuvorzutun.“ (Vom Kriege, Carl von Clausewitz)