Das Land der Dichter und Denker drohe zum Staat der Stifter und Schenker zu werden – so beschrieb Tim Engartner schon vor drei Jahren in seinem Buch Staat im Ausverkauf den Einfluss privater Wirtschaftsakteure auf das deutsche Bildungssystem. Fast-Food-Giganten, die in kostenlosen Unterrichtsbroschüren BigMacs in eine Reihe mit Obst stellen; Finanzdienstleister, die „Entrepreneurship Education“ etablieren wollen – derartige „Bildungspartnerschaften“ kritisierte der Frankfurter Professor für Didaktik der Sozialwissenschaften scharf.
Nun hat Engartner nachgelegt: In seiner Studie Wie DAX-Unternehmen Schule machen, die er für die Otto Brenner Stiftung verfasst hat, widmet er sich erneut dem Thema Lobbyismus an Schulen, inbesondere am Beispiel von DAX-Firmen. Denn die sind besonders umtriebig: Zwanzig der dreißig größten deutschen börsennotierten Konzerne versuchen mithilfe eigener Unterrichtsmaterialien auf die im Klassenzimmer vermittelten Lehrinhalte und Werte Einfluss zu nehmen.
Einige Unternehmen versuchten, Schülern ihre Produkte und Dienstleistungen spielerisch näherzubringen. Zum Beispiel die Deutsche Post, die für Heranwachsende ein Lehrheft zum Thema Liebesbriefe erstellt hat. Dort heißt es, Liebesbriefe seien „ein wichtiges Denkmal, das ein Mensch hinterlassen kann“. Dass ein solches Herzensdenkmal auch zu einer kleinen Portozahlung verpflichtet, dürfte dabei ein hübscher Nebeneffekt sein.
Da explizite Produktwerbung in deutschen Klassenzimmern im Regelfall verboten ist, sind derartig blumige Umwege nötig. Für Sponsoring gilt das jedoch nicht. Viele Schulen benötigen Unterstützung durch private Sponsoren, die die Finanzierung von Computern, Regalen und Unterrichtsmaterialien ermöglichen. Das liegt daran, dass Deutschland unterdurchschnittlich viel Geld für Bildung ausgibt: 4,2 Prozent des deutschen Bruttoinlandsproduktes gehen an Bildungseinrichtungen, während der OECD-Durchschnitt bei fünf Prozent liegt. Hier tut sich ein politisches Vakuum auf, das von privaten Unternehmen gefüllt wird: Während der Staat immer weniger Geld für Lehrmittel ausgibt, produzieren deutsche Firmen immer mehr Broschüren für den Unterricht.
Bemerkenswert raffiniert
Dabei sind nicht alle Engagements der DAX-Unternehmen in ihrer Zielsetzung so transparent wie die Lehrhefte der Deutschen Post. Bemerkenswert raffiniert ist etwa der Einsatz des größten deutschen Versicherungskonzerns für mehr „finanzielle Bildung“: Die Allianz hat dafür sogar eine eigene Stiftung mit dem Namen „My Finance Coach“ gegründet, unter Beteiligung der Unternehmensberatung McKinsey. Die Stoßrichtung der Materialien ist klar: Die „immer größere Eigenverantwortung, die Menschen in finanziellen Angelegenheiten übernehmen müssen“, soll eine individualisierte finanzielle Bildung unabdingbar erscheinen lassen.
Dass die „immer größere Eigenverantwortung“ jedoch nicht gott- oder naturgegeben ist, sondern Folge politischer Entscheidungen und ökonomischer Prozesse, wird ausgeklammert. Die politische Schlagseite macht derartiges Unterrichtsmaterial gefährlicher als explizite Werbebotschaften: Hier werden Weltbilder erzeugt und gefestigt. Früh sollen die Schüler lernen, dass gemeinschaftliche Probleme am besten individuell gelöst werden.
Eine dritte Form der Einflussnahme auf Schulen, die in Engartners Studie vielfach zu besichtigen ist, besteht in der Organisation von Veranstaltungen und Unterrichtsstunden für Schüler. Der Chemiekonzern BASF bietet die Möglichkeit, auf dem unternehmenseigenen Campus in „Kids’ Labs“ zu experimentieren, während der Automobilhersteller Daimler sein Personal in den naturwissenschaftlichen Unterricht schickt und sogar Lehrerfortbildungen anbietet.
Die Kaufkraft der Gymnasien
Die verschiedenartigen Engagements stellen – ökonomisch gesprochen – unterschiedlich zukunftslebige Investitionen dar. Einige Firmen werben vorrangig für sich und ihre Produkte, sie verfolgen damit eine eher kurzfristige Strategie. Besonders interessant sind für sie Gymnasien, da hier Haushalte mit höherer Kaufkraft vermutet werden. Dagegen setzen andere DAX-Konzerne mit längerem Atem auf Nachwuchsförderung oder gar, wie im Falle der Allianz, auf weltanschauliche Beeinflussung.
Engartner zufolge gehen die nur scheinbar auf Augenhöhe verorteten „Bildungspartnerschaften“ zulasten derjenigen Lobbygruppen, die nicht über die finanziellen Ressourcen börsennotierter Unternehmen verfügen: Wohlfahrts- und Umweltverbände, aber auch Gewerkschaften können in diesem Ideenwettstreit nicht mithalten. Stattdessen setzen sich in den Schulen die Darstellungen von Großunternehmen durch, die mithilfe der „selektiven, tendenziösen und manipulativen Unterrichtsmaterialien“ Verbreitung finden.
Für Engartner ist daher klar: Die Materialien der privaten Initiativen gehören länderübergreifend auf den Prüfstand, da sie „an den Grundfesten der Demokratie“ und am „Anspruch auf Aufklärung“ rütteln.
Kommentare 6
bleibt zu erwähnen, daß engartner auch hier, in diesem theater,
schon gute beiträge geliefert hat.
"Für Engartner ist daher klar: Die Materialien der privaten Initiativen gehören länderübergreifend auf den Prüfstand, da sie „an den Grundfesten der Demokratie“ und am „Anspruch auf Aufklärung“ rütteln."
Wderspruch: Nicht auf den "Prüfstand", auf den Müll!
Neoliberalismus erzieht sich den Nachwuchs fur das unbegrenzte Wachstum.
Und "Mutti", die fleissige Lobbyistin der Neoliberalen, macht den Weg frei.
Wie ging der Spruch? "Nur dumme Schafe wählen sich ihren Schlachter selbst"
Warum die Unionsparteien noch als "kompetent" gelten, erschliesst sich wohl nur einem Komapatienten, der die letzten 40 Jahre von unserer Realität ausgeschlossen war.
@The Man
Für mich gabs im westlichenTeil Deutschlands - und der stellt nun mal den größten Teil der Bevölkerung dar - ende der 60ger des vorigen Jahrhunderts den letzten gesellschaftlichen Erneurungsprozess. Danach wurde "das Volk" langsam aber stetig in den Dauerschlaf versetzt. Der bis dato darüber gewachsene Filz läßt sich wohl nur sehr schwer wieder entfernen. Jetzt, wo so langsam die Auswirkungen des Lebens auf die Substanz zum Vorschein kommen, sollte wohl auch der letzte Begreifen, daß das Märchen vom unbegrenzten Wachstum in den Mülleimer der Geschichte gehört. Ich befürchte jedoch, daß Menschen erst dann vernüftig handeln werden, wenn alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft sind.
Zwei Anmerkungen:
1. Vor allem junge Lehrer*innen sind wahrscheinlich froh,dass sie für die Unterrichtsvorbereitung auf fertige Materialien aus der Wirtschaft zurückgreifen können. Und sie sind oftmals nicht erfahren genug, deren manipulativen Charakter zu durchschauen und im Unterricht zu thematisieren.
2. Das Schulwesen ist mit Hilfe der Bertelsmann Stiftung ohnehin schon dem neoliberalen Wettbewerbsprinzip unterworfen, das durch Standardisierung, ständiges Messen und Wiegen, Noteninflation, Rankings, die wichtige Funktion der PR für Schulen im Wettbewerb, Qualitätsmanagement usw. Bildung als eine Ware wie z.B. Autoreifen verkommen lässt.
Das mag alles so sein. Falsch ist, dass mit Staat keine Ideologie in den Schulen vermittelt würde.