Alles kommt über Nacht, so scheint es. Aus Centrum-Warenhäusern wird Kaufhof, in der Sparkassenfiliale sitzt nunmehr die Commerzbank. Spee bleibt Spee, hat aber jetzt „die Kraft von Persil“. Und Werktätige mutieren in Scharen zu Arbeitslosen. Die DM in der DDR macht es möglich.
Auf dem Alexanderplatz ist die zersplitterte Scheibe der Deutschen Bank aus der Nacht zum 1. Juli wieder repariert. Bier im Pappbecher gibt es jetzt für 3,50 DM, vorher für 0,51 Ostmark im Glas. Wurst-Toni aus dem Westerwald verscherbelt unterm S-Bahn-Bogen Plastetüten voll Salami. Der Tanz in den Geldsonntag ist aus, inklusive Kreislaufkollaps und Schnittverletzungen. „So ein Tag, so wunderschön wie heute“, singen zwei betrunkene Mädchen auf Wunsch des Kameramanns vom ZDF.
Als erster Ostberliner hebt der Kohlenträger Hans-Joachim Corsalli sein Geld in der Deutschen Bank am Alex ab. Er hat sieben Stunden vor der Tür bis zur Öffnung um Mitternacht gewartet. Das „Restaurant 1900“ im Prenzlauer Berg nimmt am 1. Juli auch um zwei Uhr noch Ostgeld entgegen. Um zwölf Uhr nachts setzt sich jemand ans Piano und spielt „Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt“. Eine Dame hat die Verdienstmedaille der DDR an ihre weiße Bluse gesteckt. 20 junge Leute ziehen mit Hammer-und-Zirkel-Symbolen über den Kollwitzplatz. In einem Lichtenberger Restaurant trägt das Personal FDJ-Blusen.
Hast du mich noch lieb?, fragte eine Frau in grünem Neonpulli ihren Mann. Am Tag wird die eingeflossene feucht-warme Luft durch frische Meeresluft ersetzt. Der Wind weht schwach bis mäßig aus westlicher Richtung. Auf der Dimitroffstraße, Prenzlauer Berg, beschwert sich eine Frau bei ihrer Freundin: Heinz will nur noch von hinten.
Es ist das Herz
Montag, 2. Juli, 9.00 Uhr, Kaufhalle HOFKA, Teutoburger Platz, Prenzlauer Berg, Ostberlin. Die Waren aus dem Westen sind über Nacht zum Greifen nah. Nesquick, Müllermilch, Marlboro, Eduscho, Sanella, Bifisnack. Schlange vor dem Paradies. Rote Fahne vom dritten Stock, Deutschland-Flagge gleich nebenan. Ein Mann mit Plastebeuteln zittert. Ein Metallic-Einkaufswagen glitzert. Das Zittern steigert sich. Der Mann fällt um. Das Herz. Der stirbt, der stirbt, der stirbt, rufen die Kunden.
Polizeisirenen sind zu hören. Sie jaulen seit Tagen. Sie haben die dunkelblauen Mercedes-Busse auf Geldtransport begleitet. Die DM rollte und sollte vor Überfällen geschützt werden.
Was ist der Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank? Das grüne Band der Sympathie. Filialeröffnung der Dresdner Bank in der Friedrichstraße / Ecke Leipziger. Rosenblätter auf dem Pflaster vor dem Portal, hinter dem bis gestern noch der bulgarische Außenhandel zu Hause war. Die Dresdner Bank bietet ihren Klienten 7,5 Prozent Zinsen und gebührenfreie Kontoführung bis 1992. Das Geschäft läuft leise, diskret und prompt. Kommen Sie wieder, wir beraten Sie gern. Die wenige Ostkundschaft ist überrascht und geschmeichelt.
Derweil Prominenten-Party auf dem Dachgarten vom Grand Hotel. Es plätschert der Springbrunnen, es fließt der Champagner. Teure Kleider, steife Anzüge. Eingeladen hat Mister Allfinanz alias Otto Wittschier, ein Religionslehrer, dem vor 20 Jahren die Idee kam, eine Objektive Vermögensberatung (OVB) zu gründen. Ist nun Millionär. Leistet sich bunte Vögel. Sollen seinen Wein trinken und seine Firma preisen. Die Herren – Spezialisten von Zinssätzen und Devisenentwicklungen – sind das neue Terrain in ihren Privatmaschinen angeflogen. Parlieren am lauen Ostberliner Abend mit der deutschen Kultur, mit Stefan Heym, Heiner Müller, Brigitte Mira und Peter Scholl-Latour, mit Günter Fischer, Eberhard Diepgen und frisch frisierten Fernsehansagerinnen. Mäzene und Trophäen – eine Hand wäscht die andere.
Der Haushaltsausschuss der DDR-Volkskammer hat in seiner Sitzung vom 27. Juni sämtliche Mittel für die Künstlerverbände gestrichen. Die Schauspieler Christian Grashof und Dieter Montag sind vom Deutschen Theater in Berlin-Mitte ans Schiller-Theater in Charlottenburg gewechselt. Autor Thomas Knauf zieht zu seiner neuen Freundin Laury Anderson nach New York, der Dramatiker Heiner Müller hat sich einem internationalen Projekt von der Endlichkeit der Kunst verpflichtet.
Die Zeitung Dresdner Morgenpost teilt mit, dass 61 Prozent der DDR-Bürger zuversichtlich in die Zukunft blicken. An einem Bahnübergang bei Weißwasser in der Lausitz sollen sich seit Jahresbeginn vier Personen vor den Zug geworfen haben. Die Selbstmordrate im Land hat sich verdoppelt. Ehemalige Parteifunktionäre erschießen sich. Vom Hochhaus am Lenin-Platz stürzt sich ein Filmpublizist, er will sich damit für alle Ewigkeit dem Boulevard-Journalismus verweigern.
Grenzenlos günstig
Jetzt muss jeder an sich selbst denken, meint ein blonder Chemie-Arbeiter aus den BUNA-Werken in Sachsen-Anhalt vor der Fernsehkamera und ist glücklich, dass er noch einen Job hat. Im „Märkischen Restaurant“ des Ostberliner Palast-Hotels hält ein hessischer Manager beim Löffeln seiner Aalsuppe inne und bemerkt beiläufig: Es wird natürlich Millionen Arbeitslose geben, das ist der Einstieg in die Konjunktur. Sozialministerin Hildebrandt aus der De-Maizière-Regierung appelliert an die Arbeiter, den Zusammensturz ihrer Betriebe durch Einfallsreichtum zu verlangsamen. Ich habe Angst vor dem, was kommt, sagt Erna K., eine Berliner Rentnerin, zeigt ihre noch für Ostmark angelegten Nährmittelvorräte. Kleiner Mann, was nun?
Keinen Schritt weiter ohne uns! Sie wollen doch vorankommen, ermuntert die Immobilienfirma Böttcher. Wir werden feststellen, dass sich in diesen Monaten nicht nur die Solidargemeinschaft der Deutschen bewährt, sondern auch die Dynamik der sozialen Marktwirtschaft, prognostiziert Außenminister Genscher. Deutschsein heißt, eine Sache um ihrer selbst willen zu tun, oder: Deutschsein heißt Auswandern? In einer Kneipe bestellt eine Frau mittleren Alters ein Gulasch. Sie verschlingt es, steht auf und verschwindet, ohne zu bezahlen. Das Reisebüro „Agentur Nr. K 211, Am Spittelmarkt“ bietet Mallorca-Reisen zu Schnupperpreisen. Im Deutschlandsender erklingen Schlager der fünfziger Jahre „Komm’ ein bisschen mit nach Italien, komm ein bisschen mit ans blaue Meer, und wir tun, als ob das Leben eine schöne Reise wär ...“ Ein 22-jähriger DDR-Bürger aus Radebeul ist in den Schweizer Alpen tödlich verunglückt, als er das Matterhorn nicht angeseilt und ohne Bergführer erklimmen wollte.
Riesenansturm bei DDR-Standesämtern am 30. Juni 1990, alle wollen noch für Ostmark feiern. Ausländer beantragen hastig die DDR-Staatsbürgerschaft, um Bundesbürger zu werden. „Hallo, Damen und Mädchen von 19 bis 50, viele Partner suchende Österreicher warten auf Sie! Bitte rufen Sie uns an oder schreiben Sie uns! Wir informieren Sie gern näher! Ost-West-Partnerzentrale Novus, Wels, Pfarrgasse 5.“
„Ick habe die letzten sechs Wochen 25.000 DM gemacht, bis siebten Juli läuft die Sache weiter“, bilanziert der Schwarzhändler in Nappalederhosen. Jeder muss Spekulant werden, das heißt, ernten, wo er nicht gesät hat – auf das Unglück anderer kalkulieren oder den Zufall für sich gewinnen lassen.
„Steht morgen ein Westwarenhaus in unserem Garten?“, fragt der vierjährige Karl seinen Vater. Bei Kaufhof inspiziert Ingrid Matthäus-Meier (SPD) im geblümten Sommerkleid und inkognito das größte gesellschaftliche Experiment, das je an Menschen vorgenommen wurde. „Wat denken die Westler eigentlich, sind wir denn zu doof oder zu faul zum Arbeiten jewesen. Ich kann det nich mehr hören“, protestiert die Chefin der Mokkabar im ersten Stock des ehemaligen Centrum-Warenhauses. Oh, die Revolution geht weiter: Grenzenlos günstige Kaffeepreise bei Tchibo! Die Währungsunion hat es möglich gemacht. S-Bahnhof Wollankstraße, an der Mauer steht geschrieben: Und niemand kann von der Stirne mir nehmen den traurigen Traum?
Fremde im eigenen Land, Statisten eines Gesellschaftsspiels mit offenem Ende. Sie nehmen Abschied von der Utopie, kommen an im Nirgendwo und klammern sich an das Prinzip Hoffnung. Umgeprägt wie Kleingeld suchen sie nach sich selbst wie nach dem verlorenen Groschen. In Werder an der Havel werden die reifen Tomaten untergepflügt. Ein Gemüseverkäufer auf der Ostberliner Husemannstraße hat nur wenig anzubieten. Er wartet auf Lieferung: Es sei ja nicht einfach, 16 Millionen mitzuversorgen. Der Großhandel guckt zu. Das Kapital hat einen Horror vor Abwesenheit von Gewinn wie die Natur vor der Leere. Früher Kommunist, heute Kapitalist – aber immer schon Diktator. Selbst ernannter Direktor – ohne uns. Ex-Genosse Abraham zurücktreten! Kellnerstreik! Die Bediensteten haben die Türen des Nobelrestaurants am Gendarmenmarkt zugeschlossen und sich mit ihren Transparenten auf die Freitreppe des Schauspielhauses gesetzt. Sie rufen „20 80 227“, die Telefonnummer des einstigen Komplexdirektors der HO-Gaststätten und jetzigen Geschäftsführers, der seinen Parteisekretär und seine Freundin zu Gesellschaftern gemacht haben soll. „Manchester-Kapitalismus“, schreit eine Serviererin, „die fahren schon Mercedes“. Über den Platz schlendert aufgeräumt ein württembergischer Tourist und empfiehlt: „Sammeln Sie Ostgeld. Wird wertvoll wie ’ne blaue Mauritius!“
(gekürzte Fassung)
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