Wessen Leiden?

Kommentar Die Legalisierung aktiver Sterbehilfe in Belgien

Eine sehr gute Freundin von mir ist Fachärztin für Anästhesie und Intensivmedizin. Jeden Tag sieht sie das Elend der Krankenhäuser, Menschen mit unendlichen Komplikationen, Menschen, die Monate, manchmal Jahre lang auf den Intensivstationen liegen. Sie sieht die Angehörigen und sie, die Ärztin, hat die Macht. Sie weiß, wie man Leben rettet, Schmerzen lindert und wie man einen schönen, einen sanften Tod bereitet. Beim Thema der aktiven Sterbehilfe allerdings gerät sie in eine Aufregung, die vom Umgang mit dem Tabu her rührt. Es sind meist wir, sagt sie, die Gesunden, die das fremde Leid nicht aushalten. Die Angehörigen, die Ärzte, das Pflegepersonal wollen dem Siechtum nicht mehr zusehen, der Todeswunsch ist eine Projektion.
Wenn aber die Menschen selber um den Tod bitten, wie jüngst unter großem Medienaufwand die vollständig gelähmte Diane Pretty? Auch hier gerät die Ärztin in Aufregung. Man kann den Tod nicht bestimmen, sagt sie. "Es gibt ein Recht darauf, dass Leiden gelindert wird. Und das allermeiste Leiden" - auf diese Aussage legt sie Wert - "lässt sich lindern. Aber es gibt kein Recht, jemanden anderen dazu zu benutzen, dich umzubringen. Wenn du Glück hast, findest du jemanden, der das für dich macht."
Glück haben. Die Ärztin hat etliche Patienten, auch wenn sie den Tod verlangten, nicht sterben lassen. Sie hat, solange es ging, Leben erhalten. Oftmals aus Hilflosigkeit. Wenn man nicht entscheiden kann, plädiert man für das Leben. Die Ärztin weiß, dass Leben verlängern grausamer sein kann, als den Tod zu bringen, sie weiß, dass eindeutig für oder gegen Euthanasie zu sein, zu einfach ist. Würde sie selbst in die Situation geraten, durch schweren Unfall oder Krankheit bewegungsunfähig zu sein, so könnte es sein, dass sie sich aktive Sterbehilfe wünschen würde. Es wäre, meint die Ärztin, ein Liebesdienst, den sie - vielleicht - auch nahen Freunden gewähren würde. Man kann ihn nicht rechtlich verordnen, man kann ihn aber auch nicht im rechtsfreien Raum lassen, das wäre Selbstjustiz.
Dem Liebesdienst ist nicht zu trauen. "Du weißt nie, welche abgründigen Motive auch dich selbst leiten, andere aus dem Leben befördern zu wollen. Und du weißt nie, wessen Elend du eigentlich lindern willst."
Selbst bei der passiven Sterbehilfe, die hierzulande angewandt wird, ist nicht auszuschließen, dass sie unter der Hand von latentem Hass, Wut aufs Leiden, geheimen Omnipotenzphantasien genährt ist. Die aktive Sterbehilfe rührt an noch Tieferes, sie scheint wie eine Waffe, der wir, wie uns selbst, nicht gewachsen sind. Es gibt den Wunsch nach einem schönen Tod - das ist common sense. Aber es gibt keine Garantie darauf, vor allem keine auf den reinen Liebesdienst. Zu viel Menschenliebe, das wissen wir, schlägt gerne im Grausamkeit um. Das Verbot der Sterbehilfe ist ein Schutz vor Ungeheuern. Und gebiert, das mag sein, andere.

Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden