Ein Loch ist im Westen, im Westen, im Westen. War es je vorstellbar, dass man einen Mythos so beschädigen konnte? Jenen Königsweg der Zivilisation, in dessen Richtung Fortschritt, Wohlstand, Reichtum lagen? Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte sich auch das westliche Rest-Deutschland dieser "Meistererzählung" angeschlossen. Galt den Beduinen der Westen als Richtung der Diebe, war, wer hierzulande die Richtung des Sonnenuntergangs einschlug, gesellschaftsfähig. Westbindung war die Eintrittskarte zur Zivilisation wie der Smoking zum Opernball. Ihr Problem war nicht, dass es sie gab. Sondern, dass die Verpflichtung auf die westlichen Werte, die älter sind als der amerikanische Westen, der eine europäischen Idee zum Mythos umformte, mit der unreflektierten Vasallentre
asallentreue zur USA verwechselte. Kann man ein Loch in dieser mythischen Gestalt mit Militärgarn flicken?Parlamentarische Demokratie und die Rechte des Individuums, Rationalität und Aufklärung dürfen, trotz mörderischer Nebenwirkungen, gegen Massenmörder verteidigt werden. Doch der Westen wird aufpassen müssen, dass er bei dieser Operation nicht so viel von seinen erkennungsdienstlichen Merkmalen opfert, dass man ihn danach nicht einmal mehr per Rasterfahndung wiederfindet. George Bush hat sein leichtfertiges Gerede vom "Kreuzzug" zwar zurückgeschraubt. Doch der US-Kongress hat ihm einen Blankoscheck für jahrelange, verdeckte Kriegführung gegeben. Das Modell der offenen Globalgesellschaft, das der Westen eigentlich meinte, schließt sich. "Heute sind wir alle Amerikaner" rief Peter Struck, der ganz und gar uncharismatische Fraktionsvorsitzende der SPD im Deutschen Bundestag kurz nach dem Angriff auf New York. So unbeholfen er sich dabei im patriotischem Charisma der Amerikaner versuchte, so unbewusst überstieg er dabei womöglich die nationalen Grenzen, die Otto Schily wieder dicht machen wollte, als er mit Caesarengesicht die Regelanfrage beim Verfassungsschutz für einwanderungswillige Ausländer ankündigte. Denn die Wertegemeinschaft aus dem Geiste der Französischen und der Amerikanischen Revolution transzendierte immer die nationalen Grenzen. Gerade deswegen schien das ominöse Sonderwegs-Deutschland in dem Westen ja so gut aufgehoben. Freilich kann man sich fragen, ob der Westen, wie ihn die mutmaßlichen islamistischen Terroristen vielleicht wahrnahmen, überhaupt existierte. Historisch gesehen ist er seit dem Ende des imperialistischen Zeitalters auf dem Rückzug gegenüber den Kulturen aus Fernost. Dazu kommt die innere Aushöhlung: Einerseits sind die Beispiele, wo die Werte dieses Vorscheins einer Weltgemeinschaft mit den Füßen getreten wurden, Legion. Der Westen kam einem mit seinem durchlöcherten Universalismus oft genug wie ein Schweizer Käse vor. Andererseits begann er, sich multikulturell zu öffnen. Und beherrschte wirklich die eine unentrinnbare McCulture den ganzen Globus? Modernisierung heißt nicht unbedingt Verwestlichung, hatte Samuel Huntington schon in The Clash of Civilizations zu Protokoll gegeben und als Beispiel für die kulturelle Resistenz unterhalb einer Dominanzkultur den Satz hinzugefügt: "Irgendwo im Nahen Osten kann es sehr wohl ein paar junge Männer in Jeans geben, die Coca Cola trinken und Rap hören, aber zwischen Verbeugungen in Richtung Mekka eine Bombe basteln, um ein amerikanisches Flugzeug in die Luft zu jagen." Test the West - die Aufforderung zum genussvollen Geschmackstest dieser Restsubstanz haben die Terroristen von New York wörtlich genommen und die Schimäre auf eine Zerreißprobe gestellt, bei der nichts mehr virtuell zurückschwang wie im Film Matrix. Eine reale Überdehnung mit ungeahntem Ausgang. Die Weltpolitik befindet sich seit dem 11.September in einem irrwitzigen Zwitterzustand zwischen Fiktion und Realität. Der reale Bündnisfall der NATO, erdacht als virtuelle Option in den fiktiven Szenarien für den nuklearen Showdown, wird zur Wirklichkeit. Ohne dass er bislang zur Anwendung käme. Eine reale Kriegsmaschinerie läuft weltweit auf vollen Touren gegen einen virtuellen Gegner. Ihr oder Wir hat Präsident Bush gerufen. Bei aller furchterregenden Dichotomie klang es aber doch wie ein verzweifelter Versuch in einer sich vermischenden Welt zu eindeutigen Identitäten zurückzukehren. Ob er damit das Verblassen des Westens auf lange Sicht aufhält, das Huntington so leidenschaftslos konstatiert, ist fraglich. Jedenfalls so lange, wie so machtvoll unisono aus den zerfetzten Stahlskeletten des World Trade Centers und allen transatlantischen Gotteshäusern steigt, was sich so ausdifferenziert hatte, dass es fast nur noch Folie schien: der Geist des Westens.