Widersprüchliche Gefühle

Sterbehilfe In ihrem eindrücklichen Debüt „Der Sommer im Garten meiner Mutter“  erzählt die Schauspielerin Ariela Sarbacher vom lebenslangen Ringen ihrer Mutter um Autonomie
Was es ganz konkret bedeutet, wenn nächste Angehörige den Weg der Sterbehilfe wählen: Das alles wurde bis jetzt selten oder gar nicht beschrieben
Was es ganz konkret bedeutet, wenn nächste Angehörige den Weg der Sterbehilfe wählen: Das alles wurde bis jetzt selten oder gar nicht beschrieben

Foto: Photothek/Imago Images

Die Erinnerung verläuft niemals linear von einem Punkt aus in die Vergangenheit. Viel mehr tauchen unvermittelt Menschen, Erlebnisse, Situationen, Gefühle im Bewusstsein auf und verschwinden oft wieder so plötzlich, wie sie aufgetaucht sind. Allenfalls Assoziationen können da die Struktur einer Erzählung zusammenfügen. In ihrem ersten, autobiographischen Roman Der Sommer im Garten meiner Mutter trägt die Schauspielerin Ariela Sarbacher diesem Umstand auf erstaunlich gelungene Art und Weise Rechnung und hat damit in der Schweiz einen beachtlichen Erfolg erzielt.

Vordergründig zufällig aufblitzende Erinnerungsfetzen tauchen im Präsens vor dem inneren Auge der Erzählerin auf. Kindheit, Jugend, Gegenwart, die italienische Kleinstadt, Schauplatz der langen Sommer bei den Grosseltern, der Alltag in der Schweiz, die Mutter, der Ehemann, das Familienleben lassen kontinuierlich die Erzählung einer vielschichtigen, nicht unproblematischen Mutter-Tochter-Beziehung aufscheinen. Der schmerzhafte Auslöser dieses Erinnerungsreigens ist jedoch der selbstbestimmte Tod der schwer kranken Mutter. So wie sich ihr ganzes Leben um Selbstbehauptung und Kontrolle drehte, zwingt sie nun ihre Tochter dazu, auch den letzten Schritt der Selbstermächtigung zu akzeptieren.

Dramaturgisches Versteckspiel

Ariela Sarbacher leuchtet dabei unerschrocken den ganzen Facettenreichtum der Beziehung zweier starken Persönlichkeiten aus. Dabei kann sie die Widersprüchlichkeit der Gefühle, die Brüchigkeit der Vertrautheit zwischen den beiden stehen lassen, erliegt nicht der Versuchung der Verklärung oder Glättung der Dissonanzen. Vielmehr kommen nach und nach gut gehütete Familiengeheimnisse ans Licht, wird immer deutlicher, aus welchen Umständen heraus der starke Wille dieser Mutter geboren ist, was für einen lebenslangen Kampf um soziale Mobilität und Anerkennung sie geführt haben muss.

Das ist alles in einem nüchternen, leichthändig schnörkellosen erzählerischen Ton gehalten, entfaltet damit aber eine umso stärkere Sogwirkung und schafft eine ungewöhnliche Nähe zu den Protagonisten. Das gekonnte Spiel mit den Zeiten – die Schilderung der Krankheit, das Abschiednehmen schildert sie im Präteritum, die lange zurück liegenden Erinnerungen im Präsens – lässt ein Geflecht aus Zeitebenen entstehen, in dem man sich wie in einem dreidimensionalen Raum bewegen kann. Gleichzeitig gelingt es, mit wenigen Strichen soziale Milieus und lebendige Charaktere zu zeichnen.

Dass sich die eigentliche Thematik des Stoffes, Vergänglichkeit und (freiwilliger) Tod des mit der Mutter uns am nächsten stehenden Menschen, erst in der zweiten Hälfte des Romans und dazu über den Umweg der Großeltern aufblättert, ist das seltene Beispiel eines geglückten dramaturgischen Versteckspiels: Die ganze erste Hälfte des Buches lässt die Richtung der Erzählung nämlich völlig offen. Geht es um eine Familiengeschichte? Geht es um das Erwachsenwerden? Erleben wir einen Abnabelungsprozess? Eine sogenannte, wie alle Anglizismen, banalisierende „Coming Of Age“-Geschichte? Werden wir mit einer Abrechnung konfrontiert? Der Einbruch der Krankheit und die damit verbundene Tragik macht dann deutlich: Es geht um all das, und zwar in einer ungeahnt existenziellen Dimension, die von dem vermeintlich leicht-flockigen Unterton zuvor geschickt unterminiert wurde.

Viel wurde schon über „Exit“ berichtet, dieser Verein, der die liberale Sterberechtspraxis in der Schweiz in gewissermassen geordnete Bahnen lenkt; von der Formulierung der Patientenverfügung bis zur Verabreichung des – allerdings noch eigenhändig einzunehmenden – Giftcocktails. Da „Tötung auf Verlangen“ hierzulande lange verboten war, hat die Existenz der NGO zu einem veritablen Sterbetourismus-Boom aus Deutschland geführt.

Was es ganz konkret bedeutet, wenn nächste Angehörige diesen Weg wählen, in was für Gefühlswelten einen das stößt, mit welchen Zweifeln und Ängsten man dabei kämpft, welche Schuldgefühle heraufbeschworen werden: Das alles wurde bis jetzt selten oder gar nicht beschrieben. Ariela Sarbacher ist es geglückt. Gleich mit ihrem ersten Roman ist ihr gelungen, was gute Literatur immer auch ist: eine Ratgeberin für die großen Fragen des Lebens.

Info

Der Sommer im Garten meiner Mutter Ariela Sarbacher, Bilger, R 2020, 155 S., 22 €

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