Widerstand zweckvoll

Legende Am 8. November wäre Peter Weiss 100 Jahre alt geworden. Dieser Tage wird der Schriftsteller, Filmer und Dramatiker neu entdeckt
Ausgabe 44/2016

Nimmt man Anzahl und Größe der Veranstaltungen zu seinem Geburtstag zum Maßstab, ist das Interesse an Peter Weiss enorm. So findet vom 11. bis zum 13. November im Peter-Weiss-Haus in Rostock eine Staffettenlesung seines bekanntesten Werks statt: der Ästhetik des Widerstands, entstanden zwischen 1971 und 1981, bis ein Jahr vor Peter Weiss’ Tod also. Lutz Herden hat kürzlich an den zeitgeschichtlichen Glutkern des Werks erinnert: an den Kampf der Interbrigadisten gegen den Faschismus im Spanischen Bürgerkrieg. Was könnte darüber hinaus seine Aktualität sein? Sabine Kebir hat eine überraschende Antwort, wie Sie gleich lesen können. Außerdem wollen wir sicherstellen, dass neben dem wuchtigen Hauptwerk nicht in Vergessenheit gerät, wie vielseitig und im besten Sinne provokant der Künstler Weiss war, dessen Leben selbst, um das Mindeste zu sagen, ein schwieriges Abenteuer war; aktuell nachzulesen in Birgit Lahanns hervorragender Biografie Peter Weiss. Der heimatlose Weltbürger, erschienen im Dietz-Verlag.

Die Ästhetik, der Widerstand

Wer soll Peter Weiss’Ästhetik des Widerstands in heutiger Zeit lesen? Das durchaus vorhandene Interesse für Geschichtliches muss jetzt irgendwie popkulturell verpackt sein. Und was soll das Thema Antifaschismus, das oft sogar Linke langweilig finden? Und wer, bitte sehr, soll sich ein wuchtiges Sprachkunstwerk vornehmen, das in langen Sätzen mit wenig Satzzeichen und ohne Absätze eine herbe Melodie hervorbringt, die Emotionen unter den Anschein von sachlicher Dokumentation zu zwingen versteht? Schließlich muss der Leser auch noch begreifen, dass er es trotz des Aufgebots vieler bekannter Namen des Antifaschismus keineswegs mit den dahinterstehenden realen Personen zu tun hat, sondern mit weitgehend fiktiven Figuren, denen Weiss die Diskurse in den Mund legte, die er für die Zeit, in der Nazismus, Stalinismus und westliche Demokratie um die Hegemonie in der Welt rangen, für repräsentativ hielt.

Die Hürden, zu diesem Roman zu greifen, sind hoch. Er stand nicht am Anfang einer literarischen Ära, sondern läutete grandios ihren Schwanengesang ein. Denn trotz der Vorbehalte, die Weiss’ Werk in der DDR entgegengebracht wurden, hat es mehr mit dem sozialistischen Realismus gemein, als es in den 70er und 80er Jahren scheinen mochte: Weiss gelingt es, fiktiv und durchaus auch parteilich die Totalität einer Epoche zu erfassen, anstatt sie postmodern zu zerstückeln.

Die nachhaltige Bedeutung des Werks liegt in der schon im Titel enthaltenen Überzeugung, dass das Ziel einer neuen Welt keineswegs nur mit einem anderen ökonomischen System erreicht wird. Vielmehr geht es um den Kampf für eine neue Zivilisation, in dem die dichotomische Spezialisierung von Kunst und Arbeit tendenziell abnimmt und bei einzelnen Protagonisten sogar verschwindet. Und das ist dann die Antwort auf obige Frage: Wer sich für diese Art von Aufbruch interessiert – der auch in der modernen Medienwelt durchaus möglich ist –, greife zur Ästhetik des Widerstands. Sabine Kebir

Der Genitiv, die Bilder

Mitte der 80er Jahre hatten wir einen heimlichen Lesekreis in Ostberlin, an dem auch Leute aus Westberlin teilnahmen, die meisten studierten an der Freien Universität Berlin. Dort gab es gerade eine Peter-Weiss-Mode. Kolloquien, Tutorien, Magisterarbeiten und Promotionen, es schien kein anderes germanistisches Thema jenseits der Mauer zu geben. (Schon alleine deshalb ist es mir ein Rätsel, wie Peter Weiss so schnell vergessen werden konnte. Worüber forschen diese Leute heute? Oder haben sie ein florierendes Taxiunternehmen aufgemacht?) An der Humboldt-Uni wurde wenig bis gar nicht über Peter Weiss geredet. Der Schatten des Körpers des Kutschers gefiel mir wegen des doppelten Genitivs. Die Ästhetik des Widerstands war in der DDR nur in einer sehr kleinen Auflage erschienen. Ich hatte mir das Buch ausgeborgt, leider war es mir aus der Wohnung geklaut worden. Eine Freundin aus dem Lesekreis brachte mir eine ziegelsteingroße Raubkopie aus Westberlin mit, meine erste Berührung mit diesem inzwischen ausgestorbenen Phänomen.

Im Lesekreis lasen wir gemeinsam das Kapitel über Géricaults Floß der Medusa. Wir wussten nicht, wie das Gemälde wirklich aussah, wir hatten nur die Beschreibung des Schriftstellers. Als ich fünf Jahre später nach Paris konnte, ging ich an einem der ersten Tage in den Louvre und setzte mich vor das Bild, bis die Wärter mich nach Stunden baten zu gehen, weil das Museum schloss. Das Kapitel blieb auch nach der Betrachtung des Gemäldes großartig.

Wenn ich es im Nachhinein rekapituliere, beeindruckte mich aber viel weniger das Mammutwerk als die Fragmente der Vorarbeiten, die zwei Bände Notizbücher 1971–1980, die mir ein Freund bei seiner Ausreise überließ. Mit ihnen habe ich Nachhilfe in Stalinismus bekommen. Sollte ich meine Bibliothek um zwei Drittel verkleinern müssen, behielte ich sie eher als den Roman.

Mit einigen aus dem Lesekreis ging ich ins Pergamon-Museum, um vor dem Pergamonaltar die Sprache wieder in die Realität der Steinfiguren zurückzuübersetzen. Ich würde das gerne jeder jungen Leserin empfehlen, aber leider ist das Museum noch bis – schätzungsweise – 2053 geschlossen. Annett Gröschner

Die Essays, Schweden

30 Jahre lang, zwischen 1950 und 1980, meldete sich Weiss immer wieder in Zeitungen und Zeitschriften zu Wort, vornehmlich in der führenden schwedischen Tageszeitung Dagens Nyheter. Weiss nahm lebhaften Anteil am kulturellen und politischen Leben Schwedens. Bei uns ist diese Tatsache unterbelichtet, man betrachtet ihn intuitiv als einen deutschsprachigen Autor, den wir folglich eher mit deutschen Diskussionen befasst wähnen.

Diese Perspektive begegnete Weiss umgekehrt auch in Schweden, wo manche ihn als „den Deutschen“ sahen und diffamierten, so dass er etwa 1979 in einer Kontroverse mit dem maoistischen Fernostexperten Jan Myrdal darauf pochte, nie die deutsche Staatsbürgerschaft besessen zu haben, aber seit dreißig Jahren die schwedische. Zum 100. Geburtstag sind nun seine schwedischsprachigen Essays, Rezensionen und Kommentare in der Übersetzung von Gustav Landgren erstmals in Deutsch erschienen (Dem Unerreichbaren auf der Spur: Essays und Aufsätze, Verbrecher-Verlag).

Reizvoll ist es, Peter Weiss als literaturkritisches Perspektiv seiner Zeit zu sehen: Seine Einschätzungen zu Autoren wie Henry Miller, Samuel Beckett, Hans Henny Jahnn oder Vladimir Nabokov, lange bevor diese bekannt waren, sind luzide und vorausschauend. Nicht zuletzt drücken sich darin en passant seine eigenen ästhetischen Vorstellungen aus, die schwedischen Essays enthalten so weiterführendes Material zur Bewertung seines Werks.

Wenn man diese Texte heute im Überblick liest, verblüfft indes vor allem die Kontinuität seines Denkens und Schreibens. Schon in seinen ersten Rezensionen, die sich teilweise mit schwedischen Künstlern befassen, deren Namen uns nichts sagen, bezieht er seine Argumentation immer auf das gesellschaftliche Ganze. Das führt somit häufig zu interessanten Ableitungen, etwa wenn er über ein Buch des befreundeten Schriftstellers Gert Nyman sagt: „Das Wesentliche ist das Bild des grauen, klassenlosen Beamten, der weder in der revolutionären Arbeiterschicht noch in der vermeintlichen Geborgenheit der Besitzenden verwurzelt ist.“ Wenn er die Filmzensur in ihrer Doppelmoral angreift, dann werden die 50er Jahre – wohlgemerkt vor Auftreten der Nouvelle Vague – bedrängend wach, ein klarer Blick in den historischen Spiegel.

Peter Weiss bleibt nicht stehen beim bloßen Phänomen; er begreift die Filmzensur als zwangsläufiges Symptom einer Gesellschaft, die ihre real wirkenden Widersprüche verdeckt und verdrängt. Es geht bei ihm also ums große politische Ganze. Diese Perspektive scheint vielen jetzigen Kritikern aus dem Blick geraten zu sein, bisweilen wäre sie auch heute durchaus angebracht. Enno Stahl

Die Ermittlung, die 60er Jahre

Wenn wir von der Ästhetik des Widerstands in ihrer Größe und Problematik einmal absehen, waren die frühen 60er Jahre gewiss die produktivste, für die (west-)deutsche Literatur und Gesellschaft innovativste und wirkungsmächtigste Phase im künstlerischen Schaffen von Peter Weiss. Sein Prosamanuskript mit dem seltsamen Titel Der Schatten des Körpers des Kutschers, das jahrelang in schwedischen und deutschen Verlagen kursiert hatte, fand 1960 Siegfried Unselds Gefallen und faszinierte mit seiner Beschreibungsprosa bald auch die Jüngeren. Erst damit war Weiss definitiv zum deutschsprachigen Autor geworden. In schneller Folge erschienen dann 1961/62 die Bändchen Abschied von den Eltern und Fluchtpunkt – die analytisch tiefgreifende Erzählung einer spätbürgerlichen Kindheit und Krisengeschichte des jungen Mannes im Exil, die sich bis heute auch neben vergleichbaren Werken, etwa von Elias Canetti oder Jean-Paul Sartre, behaupten kann.

Zwei Jahre später fegte ein theatralischer Wirbelsturm mit dem noch viel seltsameren Titel Die Verfolgung und Ermordung des Jean Paul Marat dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade über die Bühne des Schiller-Theaters in Berlin und machte den Urheber dieses Spektakels – halb historisches Drama, halb Musical – zum wichtigsten deutschen Bühnenautor seit Brecht. In rasanter Kehrtwendung nur ein Jahr später dann eine Provokation nicht nur des Theaters, sondern des kollektiven Bewusstseins und der politischen Öffentlichkeit in beiden deutschen Staaten.

Während in Frankfurt am Main der sogenannte Große Auschwitzprozess, den der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer durchgesetzt hatte, noch kaum zu Ende war, am 19. Oktober 1965, ging Die Ermittlung mit minimalem szenischem Aufwand, oft nur als Lesestück, über 15 deutsche Bühnen in Ost und West; auch Peter Brook in London und Ingmar Bergman in Stockholm inszenierten das Stück. Aus dem Textmaterial der Verhandlung, den Aussagen von überlebenden Opfern und angeklagten Tätern, hatte Weiss ein „Konzentrat von Auschwitz“ geschaffen, das den Leidensweg unzähliger Opfer zu einem Oratorium in elf Gesängen verdichtet.

Das bis heute ungemein aktuelle ästhetisch-politische Prinzip war: Provokation durch Dokumentation, der Zwang, sich mit der nackten Faktizität von „Auschwitz“ (die damals ja erst partiell fassbar war) auseinandersetzen. Die Wirkung – jedenfalls in der BRD – war enorm: Der Prozess selbst, die Berichterstattung darüber, die vielen Aufführungen des Stücks, die ihrerseits eine breite und kontroverse Diskussion auslösten, und eine bundesweit gesendete Hörspielfassung des Hessischen Rundfunks verstärkten einander. Schillers moralische Schaubühne funktionierte jetzt multimedial. Der Vorhang des Schweigens, der noch so dicht über den 50er Jahren gelegen hatte, hatte einen ersten, entscheidenden Riss bekommen. Jochen Vogt

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