Manche Dinge ändern sich nie. In der Kriminalliteratur gilt das vor allem für die zentrale Ermittler-Figur, sofern es sie denn gibt. Er/sie/divers ist standfest bis unverrückbar gerechtigkeitsfanatisch. Bräsige Beamtenmentalität macht ihn/sie aggressiv, weshalb sie schon deshalb zu unerlaubten Alleingängen neigen. Und er/sie/divers ist etwa so beziehungsfähig wie ein Eremit im Hochgebirge.
Wir Noir-Aficionados lieben derart melancholische Charaktere mit Ecken, Kanten und Bruchlinien, und so ist einem Nihal Khigarian, Berliner Kommissarin mit aserbaidschanischen Wurzeln, auf Anhieb sympathisch. Nihan macht einen tollen Job, ist ehrgeizig und kampfsporterfahren, hochintelligent und megakompetent. Ihre dunkle Seite: Sie fährt extrem schnell aus der Haut. Was einen nicht wundert angesichts der Masse an Problemen, die sie mit sich herumschleppt.
Nihals arbeitsloser Bruder Jamie hat sich in ihrer ohnehin schon kleinen Wohnung eingenistet, zahlt keine Miete, trifft sich mit den falschen Freunden und hat gern lauten Sex mit unterschiedlichen Nacht-Bekanntschaften. Nihals Eltern lieben ausgerechnet diesen missratenen Sohn abgöttisch, nicht aber dessen Schwester, die sich tatsächlich um ihr Wohlergehen sorgt. Ein Partner ist nicht in Sicht, für Freunde hat sie keine Zeit. Immerhin gibt es – auch das gehört ja zwingend zum Genre – einen grundguten Mentor: Bernd ist Nihals Chef, schätzt sie ungemein und versucht schon deshalb, ihr den Begriff „Affektkontrolle“ etwas näherzubringen.
Das erweist sich bereits anfangs als aussichtsloses Unterfangen. Auf ihrer frühmorgendlichen Joggingrunde stößt Nihal auf Protagonist Nummer zwei, den attraktiv-undurchsichtigen Saad mit seiner kleinen Tochter Leila, die von zwei Betrunkenen belästigt werden. Nihal mischt sich ungebeten ein, daraus ergibt sich ein brutales Handgemenge, das Saad und sie – von wegen Affektkontrolle – mühelos gewinnen; man geht lädiert auseinander, wird sich aber wiedertreffen. Denn Saad hat gefährliche Geheimnisse, und da ist er nicht der Einzige.
Eine Geschwindigkeit, bei der einem Hören und Sehen vergeht
Wenige Seiten später ist man schon mittendrin in einem ultraschnellen Mix aus Großstadtkrimi und Politthriller, unter anderem über den korrupten, kokain- und sexsüchtigen Staatssekretär Brasch und seinen Komplizen Müller, einen Waffenlieferanten, der einer Gruppe Saudis streng verbotenes Kriegsmaterial zukommen lassen will. Brasch soll den Deal einfädeln. Normalerweise kein Problem – stünde nicht gerade die saudische Botschaft unter Mordverdacht. Und da die verwöhnten Kunden überhaupt nicht einsehen wollen, dass das Verhalten ihrer Landsleute der erforderlichen Diskretion eher abträglich war, schicken sie zwecks Beschleunigung der illegalen Aktion zwei Auftragskiller.
Von da an rutschen sämtliche Beteiligten, inklusive Nihal und Saad, ungebremst ins teilweise selbst verschuldete, teilweise schicksalhafte Desaster. Mit einer Geschwindigkeit, dass einem Hören und Sehen vergeht. Letzteres liegt natürlich auch an der Sprache, die ihren ganz eigenen Sound hat. Wären der viel zu früh gestorbene Jakob Arjouni und sein legendärer Privatdetektiv Kemal Kayankaya noch am Leben, wäre das geschlossene Pseudonym Kim Koplin für Ratefüchse schnell gelüftet: eindeutig Arjouni auf Speed. Das heißt allerdings auch, dass die rasante, Gangsta-Rap-inspirierte Diktion manchmal nerven kann (dass die Hauptakteure ohne Migrationshintergrund allzu platte Unsympathen sind, kommt strafverschärfend hinzu). Aber immer wenn man denkt, nee, jetzt reicht’s aber, komm mal runter, begeistern lässig-lyrische Passagen à la: „Bevor die Bahn einfährt, rumpelt es dumpf in der Röhre, und ein Schwall trauriger Luft weht über die Gleise. Stumme Menschen mit neonlichtblassen Gesichtern verteilen sich auf dem Bahnsteig. Die Nachtschicht räumt das Feld für die Tagschicht. Dazu ein paar Ruhelose auf dem Rückzug, bevor die Wirkung der Drogen verblasst und das Licht die Illusion zersiebt.“
Auf diese Weise schafft es Kim Koplin immer wieder, das Ruder rumzureißen. Weg von der unterkomplexen Kolportage und hin zu einer spannungsreichen, bildstarken, atmosphärisch satten Hymne an Berlin, die – frei nach Peter Fox – hässlich graue, schrecklich schöne Stadt mit ihrem berüchtigt coolen Anti-Glamour. Ganz abgesehen natürlich von Saad und Nihal, den beiden wunderbar kaputten Helden dieses Höllenritts durch die Unter- und Halbwelt, denen der Roman mitten in Chaos und Lebensgefahr zumindest ansatzweise eine Liebesgeschichte gönnt. Ausgang natürlich offen. So muss es sein.
Die Guten und die Toten Kim Koplin Suhrkamp 2023, 255 S., 16 €
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