Wie auf der Autobahn

ITALIEN Tausende albanische Flüchtlinge werden mit Schlauchbooten über die Adria geschmuggelt

Über 20 Meter recken sich die Felsen der Steilküste südlich vom apulischen Otranto in die Höhe. Die tiefblaue Adria hat das Riff in jahrhundertelanger Kleinarbeit ausgewaschen; die zerfurchten kalkweißen Klippen sehen aus wie angefressen. Hier am Kap von Otranto, unterhalb des verlassenen Leuchtturms Della Palascia, scheint es fast unmöglich, sich aus dem Wasser zu ziehen und über die zum Teil messerscharfen Felsen nach oben zu klettern. Doch wird diese Annahme durch eindeutige Spuren widerlegt: Reebok-Trainingsjacken, Levis-Jeans, ein schwarzer Büstenhalter, bunte Kindersocken und eine Stoffhose der Marke Italy liegen verstreut zwischen den Felsen. Kein Zweifel, an dieser Stelle sind Menschen gestrandet - vermutlich Flüchtlinge aus dem Kosovo, die von Albanien nach Italien übergesetzt haben. Ins Auge springen vor allem die vielen kleinen Sweat-Shirts. Offenbar haben die Mütter ihren Kindern die nassen Sachen vom Leib gerissen.

Die Fischer der Gegend sammeln die Kleidungsstücke regelmäßig und benutzen sie dann als Lumpen. Im Gras hat sich eine rote Plastiktüte verfangen, in der mit Kirschmarmelade gefüllte Croissants eingeschweißt waren. Reiseproviant, hergestellt von einer albanisch-griechischen Firma im südalbanischen Argirocastro, wie dem Etikette zu entnehmen ist. Mehrere Trinkbecher aus Karton - Made in Greece - liegen zwischen den Steinen herum, dazu aufgeweichtes Stangenweißbrot in einer Plastiktüte und zwei knallgrüne Baseballmützen aus Deutschland (Aufschrift »Gärtner Hagmann«).

Auf dem Serpentinenweg, der vom Leuchtturm zur Küstenstraße führt, hat eine Frau ihre schwarzen Pumps zurückgelassen. An der Straße selbst fällt der Blick auf die neue Radarstation gegenüber, die vor dem Krieg noch nicht dort stand und jetzt von Raketenstellungen geschützt wird. »No Photo« droht das Schild am Eingangstor.

In der Regel kommen die Flüchtlinge nachts, lassen sich von Polizeistreifen aufgreifen und ins Sammellager nach Otranto bringen. Nach einer Dusche und einer Mahlzeit geht es weiter in eines der beiden Aufnahmeheime, entweder nach San Foca an der Küste oder in das Städtchen Squinzano nördlich der Provinzhauptstadt Lecce. Das 100.000 Einwohner zählende Lecce, bekannt für seine Barockbauten aus hellem Sandstein, dämmert unter kräftiger Frühlingssonne vor sich hin. Weder ziehen Kosovo-Flüchtlinge in Scharen durch die Passagen, noch herrscht so etwas wie Ausnahmezustand, den man nach der Lektüre der meisten italienischen Zeitungen erwartet hatte. Und doch ist nichts wie vorher. Das Vier-Sterne-Hotel Crystal ist für Offiziere der US-Army reserviert. Auf dem Truppenübungsplatz Frigole in Küstennähe reißen die Schießübungen seit Kriegsbeginn nicht ab. Auf den apulischen Flughäfen von Bari und Brindisi darf nur noch in der Zeit von sieben Uhr morgens bis 20 Uhr abends gestartet und gelandet werden. Die Kreuzfahrtschiffe machen einen gewaltigen Bogen um die Lagunenstadt Lecce - und der Reiseveranstalter Voilà Tours beklagt Stornierungen von 60 bis 70 Prozent, die Region Apulien fürchtet zu Recht um ihre Sommerurlauber.

So viele Flüchtlinge, wie man nur will
In der Lokalredaktion Lecce der Gazzetta del Mezzogiorno schreiben die Redakteure über alle möglichen Auswirkungen des Krieges. Erst gestern haben die Zollfahnder zehn albanische Flüchtlingsschleuser verhaftet. »Das ist die Ausnahme, im allgemeinen schnappen sie keinen der Schlepper«, erklärt Lokalredakteur Toti Bellone. Der 45jährige hält stolz die Seite sechs der aktuellen Ausgabe mit seinem Artikel hoch. Bellone erschien auf Wink der Beamten am Hafen und konnte die Verhafteten interviewen. »Größtenteils sind es Jugendliche. Einer hatte seinen ersten Auftrag und wurde gleich verhaftet. Mit 100.000 Lire (etwa 100 Mark - die Red.) lebt man in Albanien wenn nicht einen Monat, so doch mindestens zehn Tage recht gut. Da ist es verständlich, wenn sich arbeitslose Jugendliche für dieses Honorar gerade jetzt als Schleuser anwerben lassen.« Abrupt klingelt das Telefon auf seinem Schreibtisch, ein Anruf aus dem Flüchtlingsheim in Squinzano. »Er ist Möbelhändler und sie Ärztin? Aha, beide 34 Jahre alt, zwei Kinder. Und wann sind sie angekommen?«, schreit Bellone in den Hörer. »Also, ihr Haus wurde zerstört. Am 4. April landeten sie in Albanien und von dort sind sie am 25. April nach Italien weiter. Insgesamt 20 Leute an Bord eines Schlauchboots. Gut. Ich danke Dir.« Bellone lüftet das Rätsel seines hektischen Telefonats. Er muß für die Fernsehtalksendung Porta a Porta am Abend ein geeignetes Flüchtlingsschicksal ausfindig machen. »In den beiden Heimen bekommt man so viele Flüchtlinge, wie man nur will.« Ein letzter Tip an mich: Die Zollfahnder von Otranto bei ihren Patrouillen auf See begleiten; vielleicht geht ja ein Schlauchboot ins Netz.

Bei Otranto handelt es sich um eine verschlafene Urlaubsidylle. Im kleinen Hafen ankern einige Yachten und Fischerboote. Hinter der Zollschranke gelangt man zur Anlegestelle der Guardia di finanza, die in diesen Tagen fast täglich Journalisten mit an Bord nimmt. Gegen 18 Uhr legt das 90-Tonnen-Motorboot Feliciani ab und nimmt Kurs auf die albanische Küste, die von Otranto nur 74 Kilometer entfernt liegt. Ein wendiges Schlauchboot mit etwa 700 PS, das voll beladen eine Geschwindigkeit von 35 Knoten erreicht, bewältigt die Strecke in zwei Stunden. »Vor neun Jahren kamen die Albaner mit Booten, die höchstens acht bis zehn Knoten Höchstgeschwindigkeit erreichten. Seitdem hat sich viel geändert«, erzählt Vincenzo Ventre, der Kommandant des Patrouillenbootes. »Der Boom hat vor allem in den vergangenen drei, vier Jahren eingesetzt. In manchen Nächten taucht ein Schlauchboote nach dem anderen auf. Wie auf einer Autobahn.« Die Schleuser hätten ihre einfache Boote mittlerweile zu schnellen Flüchtlingsfähren umgerüstet, die höchstens einen Meter aus dem Wasser ragen. »Mit dem Radar kaum zu entdecken«, klagt Vincenzo, dessen Haut durch die Arbeit auf See braun gegerbt ist. »Das trifft hauptsächlich für die vergangenen Wochen zu, in denen der Zustrom von Flüchtlingen durch den Krieg stark zugenommen hat.«

Die Zollfahnder melden die Ankunft von Schlauchbooten gewöhnlich nur an Land weiter, wo Carabinieri die Flüchtlinge dann erwarten. An diesem Abend ist jedoch nichts zu sehen. Das Motorboot der Guardia di finanza patrouilliert langsam in Richtung Norden, immer entlang der Zwölf-Meilen-Zone. Am Horizont zeichnen sich die Umrisse von Handelsschiffen ab. Die Feliciani nähert sich bis auf Sichtweite. »Wenn eines unserer Boote in der Nähe ist, verbergen sich die Flüchtlingsschlepper manchmal hinter den großen Frachtern«, erklärt Vincenzo. Doch Fehlanzeige. Langsam geht die Sonne unter, und die ruhige Fahrt wird nur durch Militärflugzeuge unterbrochen. Die Transportmaschinen vom Typ C 130 Herkules überqueren in nicht allzu großer Höhe die Adria, an Bord Hilfsgüter, die von Italien nach Albanien gebracht werden.

Ein Stern? Ein Flugzeug oder eine Rakete?
Plötzlich taucht vor dem Bug eine dichte Nebelbank auf, die vom Balkan herüberzieht. Der Steuermann dreht bei. »Bei diesem Nebelschleier ist die Überfahrt schwierig«, meint der Kommandant. In der Dunkelheit tauchen Lichter auf. »Ein Stern? Ein Flugzeug oder ... eine Rakete?«, scherzt Vincenzo Ventre. Gegen halb neun kehrt die Feliciani in den Hafen von Otranto zurück. Auf dem Landungssteg liegt ein etwa zehn Meter langes, beschlagnahmtes Schlauchboot, dessen Boden mit Metallplatten verstärkt wurde. Fast unvorstellbar, daß 60 Menschen darin zusammengedrängt waren.

In Squinzano, das von der NGO CIM-Movimondo geleitet wird, leben derzeit etwa 520 Flüchtlinge, sagt Leiter Vinicio Russo; bis vor kurzem waren es noch 700. »Bis zu 500 Personen können wir verkraften, darüber hinaus wird es problematisch.« Rund 30 Mark erhält das Heim für jeden Flüchtling pro Tag vom Staat. Das reiche absolut nicht, um die Ausgaben zu decken. Die Fluktuation sei daher recht groß. »Dennoch haben wir die Situation eigentlich unter Kontrolle«, so Russo. Einige Flüchtlinge hätten bereits eine Aufenthaltsgenehmigung erhalten. Tahir Ademaj (29) wartet indes noch darauf. Der Kosovo-Albaner ist vor zehn Tagen aus Vlora gekommen und will zu seinem Onkel nach Augsburg. Von seinen Eltern weiß er nichts. »Es ist gefährlich im Kosovo wegen des serbischen Militärs. Die Polizei hat uns verjagt«, sagt er und bestätigt so die Aussagen der meisten Flüchtlinge, von denen ein Großteil nach Deutschland oder in die Schweiz will. »Deutschland ist besser als Italien. Ich will politisches Asyl beantragen. Wieviel Geld bekommt man als politischer Flüchtling in Deutschland?«, fragt er.

Für Sie oder Ihren Hasen

6 Monate den Freitag mit Oster-Rabatt schenken und Wunschprämie aussuchen

Verändern Sie mit guten Argumenten die Welt. Testen Sie den Freitag in Ihrem bevorzugten Format — kostenlos.

Print

Die wichtigsten Seiten zum Weltgeschehen auf Papier: Holen Sie sich den Freitag jede Woche nach Hause.

Jetzt kostenlos testen

Digital

Ohne Limits auf dem Gerät Ihrer Wahl: Entdecken Sie Freitag+ auf unserer Website und lesen Sie jede Ausgabe als E-Paper.

Jetzt kostenlos testen

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden