"Ach, kommst du, mich zu töten, Junge? Klar, sie haben dich geschickt. Sage nachher deinem Hauptmann, dass man Che ohne Akzent schreibt ... Warte, mir tut das verletzte Bein weh, aber ich will stehen. Jetzt wirst du sehen, wie ein Mann stirbt. Schieß jetzt, verdammt!"
So soll es gewesen sein - am 8. Oktober 1967. So soll es der Mörder erzählt haben. Der junge bolivianische Soldat, den die ganze Welt kennt, weil er Che Guevara erschossen hat. Er befolgte einen Befehl. - Die Erinnerung versucht er in Alkohol zu ertränken. Bis heute.
Bis zu jenem Tag war Vallegrande eine verschlafene Gegend im Südosten Boliviens, zwischen Santa Cruz und Sucre, umgeben von felsigen Bergen und schwer zugänglichen Tälern, in denen sich ein paar kaum erreichbare Dörfer verlieren. Eine Region, in der die Sonne tagsüber unbarmherzig brennt und die Nächte elend kalt sind. Armut herrscht hier und eine Lethargie, die Che Guevara fast um den Verstand brachte.
Eigentlich wussten die Leute von Vallegrande nicht so richtig, was sich da ein paar Monate lang um sie herum abspielte. Man hörte von bärtigen Männern, die sich durchs Dickicht schlugen und gelegentlich bei einem Bauern auftauchten, weil sie etwas essen mussten. Aber die Angst war größer als die Neugier. Dann richteten bolivianische Militärs in Vallegrande ihre Kommandozentrale ein, in der Nähe des Flughafens und des Friedhofs, in einem Gebäude, das heute noch steht. Dorthin brachten sie die toten Guerilleros, dort ließen sie deren Leichen verschwinden. Auch die von Che und Tania. Einwohner von Vallegrande halfen den Soldaten dabei.
Von da an sollte nichts mehr wie früher sein in dem kleinen Ort. Immer wieder in den folgenden 30 Jahren wurden die Leute aufgeschreckt von irgendwelchen Nachrichten, dass sich irgendwer an irgendetwas erinnern könnte. Irgendjemand wollte wissen, wo die Toten vergraben seien - gefunden wurde nie etwas. Warum auch? Schließlich hatte es ja gute Gründe gegeben, die Leichen an unbekannten Orten zu verscharren.
Was dann den Ex-General Mario Vargas Salinas im Oktober 1995 veranlasste, das große Geheimnis zu lüften - er erhielt seinerzeit den Befehl, Che's Leiche zu beseitigen - ist bis heute Spekulation geblieben. Salinas hatte dem amerikanischen Journalisten John Lee Anderson, einem renommierten Che-Biographen erklärt, die Reste der Guerilleros seien unter dem Flugfeld von Vallegrande zu finden. Es begann eine großangelegte, fieberhafte Suchaktion. Aus Argentinien rückten gut ausgebildete Anthropologen an. Salinas erschien mit Vertretern der Regierung zum "Lokaltermin" und grenzte das Terrain ein. Männer aus Vallegrande gruben das bezeichnete Gelände um. An den Rändern der ausgehobenen Gräben hockten die Journalisten und warteten auf den großen Augenblick. Täglich - bei glühender Hitze - Stunde um Stunde, ungefähr zwei Wochen lang. Plötzlich räumte Salinas Gedächtnislücken ein. "Ich habe immer gesagt, in der Umgebung des Flughafens. Ich habe nicht den Begriffs Piste benutzt, denn das ist etwas anderes ..." Das schlechte Gedächtnis nahm ihm keiner ab. Schon 1987 hatte er in seinem Buch Werbeträger Che - Mythos und Realität bekannt, der Tod des Guerilleros sei das wichtigste Ereignis seines Lebens gewesen. Dessen Leiche habe an einem geheimen Ort begraben werden müssen, um jede Erinnerung auszulöschen. Und daran konnte sich Salinas nun nicht mehr erinnern?
Als klar wurde, dass der General offenbar die ganze Welt zum Narren hielt, war auch er plötzlich verschwunden. Salinas sei - da in Drogengeschäfte verwickelt - nach Kolumbien geflohen, hieß es. Durch ein paar sensationelle Enthüllungen habe er sein Ansehen retten wollen. Andere sprachen von einem abgekarteten Spiel, angezettelt in höchsten Kreisen. Der damalige bolivianische Präsident Sánchez de Lozada hatte grünes Licht für die Ausgrabungen gegeben und seinen Willen kundgetan, eine überfällige humanitäre Pflicht zu erfüllen - gegenüber den Kubanern und den Angehörigen der bolivianischen Opfer - aber bedauerlicherweise habe sich General Salinas geirrt. Wenn es nicht einmal der wisse, der es wissen müsste, wer sollte es dann wissen?
Also lag bald wieder Ruhe über der Piste von Vallegrande. Jedenfalls zog irgendwann das Gros der Journalisten ab, nur ein paar unerschütterliche blieben, für alle Fälle. Und dann geschah ein Wunder.
Als sie in Santa Cruz losfuhren, war es schon dunkel wie in einem Sack. Kilometerweit nur das, was sie auf ein paar Meter weit vor sich im Scheinwerferlicht erkennen konnten. Steine und Schlaglöcher unter den Rädern, rechts nichts als Felswände, links ein Abgrund, der sich nur erahnen ließ. Serpentinen ohne Ende, die Straße war schmal, immer wieder tauchten wie aus dem Nichts Menschen auf, Bauern mit ihren Körben und Säcken auf dem Heimweg, kilometerweit. Der Bolivianer amüsierte sich darüber, dass sich seine Begleiterin ständig erschreckte. Er fuhr sehr vorsichtig, nicht mehr als 40, doch plötzlich drehte sich der Wagen blitzschnell um die eigene Achse. Die Frau packte seinen Arm, der Wagen prallte gegen die Felswand. Er lächelte - Bolivianer haben erst am nächsten Tag Angst. Er versuchte, auf die Fahrbahn zu lenken, verlor die Kontrolle über das Fahrzeug, das Auto preschte auf die andere Seite gegen eine Böschung, sie bemerkten etwas wie ein blitzartiges Licht, und da stand ein Mann. Wie aus heiterem Himmel, dachte die Frau, und war nicht fähig, sich zu bewegen. Der Mann rief etwas, was beide nicht verstanden. Der Fahrer versuchte wie verrückt, den richtigen Gang einzulegen, es schien eine Ewigkeit zu dauern, ehe sie von der Stelle kamen. Sie sprachen lange nicht. Irgendwann fragte der Fahrer, ob sie den Mann gesehen hätte. - Ja, sie hatte. Und dass es ihr schien, als sei er vom Himmel gefallen ... Sie waren erleichtert, als vor ihnen das Ortschild von Vallegrande auftauchte. Es war kurz nach Miternacht.
"Die Hände - hat er Hände?", riefen die Umstehenden
In Vallegrande ging es wie ein Lauffeuer um, dass am nächsten Tag das Grab entdeckt würde. Das Wunder war geschehen. Irgendjemand hatte angerufen, den Bürgermeister oder Unterpräfekten. Er nannte seinen Namen nicht. Am Morgen erschienen die argentinischen Anthropologen, Polizisten und Männer mit Schaufeln, der Rest Journalisten, John Lee Anderson und - ganz schnell angereist - der Direktor des kubanischen Gerichtsmedizinischen Instituts am angebenen Ort: Cañada de Arroyo, fünf Kilometer von Vallegrande entfernt, schon mitten im Dickicht der angrenzenden Berge, so gar nicht in der Umgebung des Flughafens. Sie fingen an zu graben und fanden die Reste eines menschlichen Körpers. "Die Hände - hat er Hände?", riefen die Umstehenden. Ja, er hatte, dem hier waren die Hände nicht abgehackt worden. Es war also nicht Che - aber einer seiner Mitkämpfer. Loyola Guzmán, Ex-Guerillera und Vorsitzende der Vereinigung von Angehörigen Verschwundener, erkannte an den noch erhaltenen Stiefeln und Resten der Uniformjacke, dass es sich um das Skelett eines Bolivianers handelte. (Loyola hatte zur Stadtguerilla von La Paz gehört, die ein Teil des großen Revolutionsprojektes werden sollte, von dem Che träumte. Einmal war sie ihm begegnet.) Die Schaulustigen waren betroffen. Der Subpräfekt besiegelte in einer schnell improvisierten Zeremonie - in Anwesenheit des Staatsanwaltes von Vallegrande - die erste offizielle Exhumierung. "Mit dem Segen Gottes, der Justiz und des Präsidenten ..."
Danach war es so, als erwache die Gegend aus einem langen Schlaf. Plötzlich wusste jeder etwas. Die Menschen kramten ihre Erinnerungen hervor und Fotos von Che und Tania, die sie einmal irgendwann irgendwo erstanden hatten. Man erzählte Geschichten, die man von jemandem gehört hatte, der gesehen hatte, dass ...
Plötzlich wussten viele, was in jener Nacht passiert sein sollte, als Che und seine Kampfgefährten eilig verscharrt wurden. Sie führten die Journalisten an die Orte, wo die geheimen Gräber sein sollten. In der Umgebung des Flughafens, des Friedhofes, unter den frischen Setzlingen der Baumschule, auf dem Gelände der einstigen Kommandozentrale ...
Doña Rosa, die auf dem Markt Chicha verkauft, erinnerte sich, dass sie an jenem Tag ins Hospital musste. Dort hatte man die Toten hingebracht, bevor sie vergraben wurden. Da habe sie Che gesehen. Er muss es gewesen sein - so ein schöner Mann. All die Jahre hatte sie Fotos in einem Karton versteckt. Nun konnte sie alles ohne Furcht der Enkelin zeigen. Auch die von Tania, der Deutschen, mit dem argentinischen Pass.
Tania, la Guerillera, wird in Vallegrande wie eine Heilige verehrt. Jeder kennt die Geschichte ihres Todes, aber keiner weiß, wer sie im Leben war. Das Foto von Doña Rosa zeigt einen aufgedunsenen Körper ohne Gesicht. Die Leiche schwamm tagelang im Rio Grande, bevor sie gefunden wurde. Man erzählt, dass sich die Nonnen eines nahegelegenen Klosters der Toten annahmen, sie wuschen und zum Begräbnis vorbereiteten. Doña Rosa wollte hin zur Beerdigung auf dem Friedhof von Vallegrande. Die Militärs hatten eine "würdige Beisetzung" angekündigt, Präsident Barrientos, der den Mord an den Guerilleros befahl, wollte der Toten die letzte Ehre erweisen. Es war peinlich, dass man eine Frau aus dem Hinterhalt erschossen hatte. Aber als Doña Rosa auf dem Friedhof ankam, sah sie nur noch einen weißen Sarg hinter den Grabsteinen verschwinden. Ein frisches Grab gab es nicht.
Plötzlich erscheinen Hunderte von gelben Schmetterlingen
Ein Jahr später machten sie noch einmal diese seltsame Fahrt, aber tagsüber. Sie wollten die Stelle wiederfinden, wo ihnen dieser Mann "wie aus heiterem Himmel" erschienen war. Sie fuhren langsam, hielten an, versuchten, sich zu erinnern. Sie waren erst an einen Felsen geprallt und dann auf der gegen überliegenden Straße gegen eine Böschung. Aber auf der ganzen Strecke sahen sie nur Felsen am rechten Straßenrand, auf der anderen Seite hätte man sich nur in die Tiefe einer Schlucht stürzen können. Wo war der Ort ihres mysteriösen Unfalls? Was war überhaupt passiert?
Etwa 70 Kilometer von Vallegrande entfernt, liegt La Higuera, die kleine verlassene Gemeinde nahe der Quebrada del Yuro, der letzten Bastion der Guerilla. Mit dem Bus kann man nach 50 Kilometern Pucara erreichen, ein Dörfchen, an das sich die Leute nur Anfang Dezember erinnern, wenn dort eine riesige Fiesta für einen wichtigen Heiligen gefeiert wird. Außerhalb von Pucara geht gar nichts mehr, es sei denn man hat einen Jeep oder einen Esel. Doch irgendwann zwischen Pucara und nirgendwo steht an einer Weggabelung "Che - La Higuera". Wenn man von da zurückschaut, zeigt sich eine wilde, eigenwillig schöne Landschaft. Blaue Berge gegen einen weißen Himmel, dazwischen endlos trockenes Grün. Plötzlich kommt Wind auf, wie aus "heiterem Himmel", und es erscheinen Hunderte von gelben Schmetterlingen ...
Wenn man Glück hat, hält ein weißer Jeep, die mobile Ambulanz der ganzen Bergregion, und drinnen sitzt "Gott". Gott ist der Arzt, denn mit dem Arzt ist Che Guevara zurückgekehrt, und Che war immer ein bisschen wie Gott.
Carlos Medina aus La Paz war der erste Arzt in La Higuera. Er hatte in Havanna Medizin studiert und war 1992 auf Initiative des Centro Felix Varela mit dem Auftrag in den Ort geschickt worden, ein "Familienarzt-Zentrum" nach dem Vorbild des kubanischen Gesundheitssystems aufzubauen. "Als ich nach La Higuera kam, hielten viele meine Ankunft für ein Wunder, denn sie wussten nicht einmal, dass das Wort medico auf spanisch existiert", erzählt er später.
Auf Wunsch der Dorfbewohner richtete Medina seine Praxis in der kleinen Schule ein, in der Che erschossen wurde. Das Projekt war aufgrund der schwierigen ökonomischen Lage Kubas immer wieder gefährdet, und manchmal arbeitete Medina monatelang ohne Gehalt. 1996 wurde er von einem jungen Arzt abgelöst. Der stammte aus Vallegrande, und die Bevölkerung war stolz, nun sogar ihren "eigenen Gott" zu haben. Mittlerweile können über 2.500 Menschen in den Dörfern der Provinz medizinisch betreut werden.
So wenig die Bolivianer damals begriffen, was Che mit seinen bärtigen Gesellen in ihren Bergen suchte, so sehr verehren sie ihn heute. Sie hätten ihn gern behalten, den "Don Ernesto", ihn würdig bestattet in bolivianischer Erde. Aber er ist nach Kuba gebracht worden, nachdem sie ihn endlich gefunden hatten, seltsam rechtzeitig zu seinem 30. Todestag.
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