Neulich trieb es den Bürgermeister von Lyon und seine Mitarbeiter in ein sogenanntes "Problemviertel" an der Banlieue von Lyon. Man wollte wissen, wie der Plan zur Sanierung des Ghettos umgesetzt wird, und zeigen, dass man sich auch um einige tausend Einwanderer aus Algerien, Marokko und Chile sorgt.
Dabei können sie sich gar nicht besonders leiden - der Bürgermeister von Lyon, Raymond Barre (UDF), seine Stadträte und der örtliche Bezirksbürgermeister. Noch aber bindet sie ein gemeinsames Interesse: Das an Frankreichs zweitgrößter Stadt und der Macht, die sie verleiht. Außerdem wird Barre bald abtreten. Das spornt die Erben an. 76 Jahre sind das, was man ein erfülltes Alter nennt für einen Wirtschaftsprofessor und früheren Premierminister der Französischen Republik, der seine Karriere auch noch mit dem Amt des Maire von Lyon zu zieren wusste. Jetzt also ist Barre in "Chicago" unterwegs, einem der Viertel, wo die Autos brennen, wenn - wie vor drei Jahren geschehen - die Polizei einen jungen Nordafrikaner aus den Hochhäusern erschießt. Barre will in "Chicago" architektonisch nachbessern - der "Klotz der 200", wie der Volksmund aus nicht völlig einleuchtenden Gründen die größte Wohnmaschine des Viertels mit 380 Appartements und 15 Stockwerken nennt, soll niedriger werden. Morgens, wenn die Blöcke im Sonnenlicht gleißen wie riesige Satellitenschüsseln, ist das "Plateau de Duchère" - so heißt das Quartier tatsächlich - am schönsten. Dann haben die Bewohner einen spektakulären Ausblick auf die Stadt, wenn schon sonst nirgendwohin im Leben.
Während des Lokaltermins flankieren den Bürgermeister die ehrgeizigsten seiner Rivalen und lassen sich nicht aus den Augen. Den einen, Gérard Collomb, den sozialistischen Bürgermeister des 9. Arrondissements von Lyon, will Barre auf keinen Fall auf seinem Stuhl sehen. Dem anderen, Henry Chabert, Gaullist, und Stadtrat für Verkehr, hat Barre vor ein paar Monaten den Geschäftsbereich entzogen. Sein übliches Verfahren für Kommunalpolitiker, die mit der Justiz Probleme haben, aber noch nicht verurteilt sind.
Genau ein Jahr vor den nächsten Kommunalwahlen haben sich in Lyon nicht weniger als fünf Politiker des rechten Lagers selbst als Kandidaten ausgerufen. Zwei Gaullisten, zwei Liberale, ein geschasster Bürgerlicher. Kann man mehr tun, um sich lächerlich zu machen? Sie alle sind überzeugt, den Sozialisten Collomb schlagen zu können, denn Lyon, die Stadt der Kaufleute und Honoratioren, wird seit 100 Jahren von der Rechten regiert, heißt es. Die Umfragen geben ihnen zwischen drei und neun Prozent. Mit fünf multipliziert ergäbe das wohl eine halbwegs sichere Kandidatur. Doch in Lyon kalkuliert man anders. Als ein Untersuchungsrichter Anfang des Jahres gegen besagten Henry Chabert - den einflussreichen Stadtrat und aussichtsreichsten Kandidaten - wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder zu ermitteln begann, leckten Chaberts Widersacher Blut. Eine illustre Schar kämpft seither um den Chefposten der Millionenstadt: ein Professor für Europarecht, ein renommierter Chirurg, ein Ex-Verteidigungsminister, ein jovialer Senator und eben der 54jährige Gaullist Chabert - politisch sei er tot, versichern seine Parteifreunde.
In Lyon läuft die Parteiendemokratie ihre letzte Runde. Die Stadt ist ein Beispiel für jene neue Form des Feudalismus, der in Frankreichs Metropolen Einzug hält. Jeder kann gewinnen - Hasardeure und Populisten, alteingesessene Potentaten und neue Medienprofis. Sie müssen nur unverschämt genug sein, vor allem genügend Menschen von sich abhängig machen. "Man investiert nicht 30 Jahre seines Lebens in eine Stadt und sucht sich dann einen anderen Job", insistiert Chabert, der im Stadtrat von Lyon eine von zwei gaullistischen Fraktionen führt. "Das sind keine Parteien mehr, das sind Clans", sagt Marie-Thérèse Geffroy, Bürgermeisterin des V. Arrondissements, selbst eine Gaullistin, und fährt fort:
"Man macht einen kleinen Putsch ..."
"... und bringt seine Freunde mit, der Kopf des bisherigen Chefs muss rollen, dann wird der Apparat übernommen - die übliche Praxis ...". Lyon ist kein Einzelfall. In Paris haben sich vier bürgerliche Kandidaten aufgeschwungen, 2001 die Stadt zu erobern - in Marseille fünf Sozialisten. - Unfähigkeit regiert in den Parteizentralen. Mehrheiten zu gewinnen für ein Programm und einen Kandidaten, der es glaubhaft trägt, das gilt als obsolet. Wie zu Zeiten der Renaissance ist die Stadt wieder ein eigener Kosmos mit eigener Geschichte und eigenen Regeln. Oft genug sind sie kriminell. In Paris haben sich Anfang der neunziger Jahren Chirac und seine liberal-gaullistische Mehrheit mit gefälschten Wahllisten an der Macht gehalten. Mehr als zehn Jahre lang sind Hinweise vertuscht worden, erst recht seit der einstige Bürgermeister im Elysée regiert.
In der Hauptstadt hat sich der gaullistische RPR nur hinter verschlossenen Türen zähneknirschend auf Philippe Séguin als den gemeinsamen offiziellen Kandidaten gegen den Dissidenten und noch amtierenden Bürgermeister Tibéri einigen können. Dass Séguin während des Wahlkampfs 2001 von Neidern aus den eigenen Reihen angeschossen wird, gilt als sicher. Eine Stadt zu besitzen, hat viele Vorteile im politischen Geschäft der V. Republik. Das Bürgermeisteramt kann die Basis für eine lange Karriere als Parlamentarier und Minister sein. Ist eine Stadt erst einmal erobert, wird sie zur Festung. Der Stadtherr rekrutiert seine Getreuen für den Auftritt auf der nationalen Bühne, feuert Salven auf die Regierung in Paris, zieht sich zurück, wenn die politische Konjunktur ungünstig ist.
Alain Juppé, der 1997 abgewählte konservative Premier, krallt sich in Bordeaux fest. Rennes - die Hauptstadt der Bretagne - wird schon seit einem Vierteljahrhundert vom Sozialisten Edmond Hervé regiert, der 2001 noch einmal für sechs Jahre antreten wird. Toulouse dagegen war gleich im Familienbesitz der liberalen Baudis, vom Vater zum Sohn - und das seit Kriegsende. Nun ist die Bahn dort frei für Philippe Douste-Blazy, bislang noch Bürgermeister des Wallfahrtsorts Lourdes, nur 100 Kilometer weiter - und Kulturminister der letzten konservativen Regierung.
Eine Stadt lässt sich auch mühelos gegen eine andere, größere eintauschen - der Feldherr wechselt einfach die Garnison. Der erwähnte Philippe Séguin hat sich von Epinal in den Vogesen getrennt, um in Paris kandidieren zu können. Jack Lang ließ aus demselben Grund Blois fallen. Als er jedoch im März in die Regierung Jospin eintrat und dafür das Rennen um Paris aufgeben musste, wollte er wieder Blois übernehmen. Die Barone wählen sich ihr Schloss aus - das war dann selbst den Sozialisten zuviel.
Ohne Zweifel hat dieser Feudalismus einen neuen Politikertyp hervorgebracht, einen homo citadensis, der sich an den großen nationalen Fragen vorbei zum "öffentlichen Repräsentanten" aufschwingt. Politik zum Anfassen ist sein Rezept. Kindergartenplätze statt Steuerreform, Stadtautobahnen statt EU-Gipfel. Besagter Henry Chabert geht in Lyon mit seiner Leistungsbilanz hausieren, seitdem er wegen der Luxussanierung seines Landhauses in die Mühlen der Justiz geraten ist: Elf Jahre Stadtrat für Verkehr, Abgeordneter Lyons in der Nationalversammlung, als Unternehmer in der Tiefkühlbranche großer Anbieter von Arbeitsplätzen, Vordenker der Métro-Linie D in Lyon ...
Aber da ist noch dieses Landhaus in der Drôme. Die Kosten für den Umbau sollen lächerlich niedrig gewesen sein, denn der stets so bescheiden auftretende Stadtrat hat - so der Verdacht des Untersuchungsrichters - befreundete Bauunternehmer mit der Sanierung beauftragt und als Gegenleistung mit Projekten der Stadt gefüttert. - "Alles haben sie mit mir gemacht, es gab sieben Untersuchungen der Finanzbrigade, nichts ist mir im Zusammenhang mit meiner Amtsführung vorgeworfen worden", klagt er, äußerlich ganz das Gegenteil des gemütlichen Raymond Barre. Der Stadtrat hat seine ganze Story ins Internet gesetzt, samt Foto des Landhauses. Dienstleistung am Kunden bis zum bitteren Ende.
Ein Stockwerk tiefer im pompösen Rathaus von Lyon hat der Chirurg Dubernard sein Quartier aufgeschlagen. Er macht mit schwierigen Transplantationen von sich reden. Anfang des Jahres nähte er einem Franzosen zwei neue Hände an, nebenbei ist er Finanzstadtrat in Lyon und wie Chabert Abgeordneter in Paris. Der Chirurg führt die zweite gaullistische Gruppe im Rathaus und will auch Bürgermeister werden. Oder zumindest solange seine Kandidatur aufrecht erhalten, bis er einen angemessenen Preis für die Aufgabe erhält. Frankreichs neue Stadtpolitiker sind Multitalente. Während Dubernard in der Freizeit operiert, hat sich Chabert auf die Dichtkunst verlegt.
"Zwei Hügel beugen sich ...",
heißt es in seinem Bildband Lyon Lumières, "majestätisch und kühl über zwei Flüsse - die Saône, langsam, mit ihrem kastanienfarbenen Wasser, die Rhône, männlicher und blau gefärbt..." - Weiter wird erzählt, wie Henry Chabert das Licht nach Lyon brachte und fortan Denkmäler und Fassaden nach einem künstlerisch ausgeklügelten Plan Abend für Abend erleuchten lässt.
Lyon ist eine verschlungene Stadt. Zwischen Rhône und Saône liegen neun Arrondissements mit ihren Rathäusern, auf Hügeln verteilt wie kleine Festungen. Drei sind nach den letzten Wahlen an Sozialisten und Grüne gefallen. Die übrigen - bürgerlichen - kämpfen gegeneinander. Die Linke habe zumindest einige gemeinsame Werte, anerkennt die Gaullistin Marie-Thérèse Geffroy. "Unsere Leute sprechen nur über sich und über das, was sie alles gemacht haben. Man verkauft die Wähler für dumm."
Hoch über dem Ufer der Saône thront dickbäuchig Notre Dame la Fourvière mit ihren vier Kirchtürmen. "Der umgestürzte Elefant" heißt sie im Volksmund. Es ist der einzige Scherz, den man sich mit der katholischen Kirche leistet. Ein Rest des "alten Frankreichs", denn eine Neigung zu Marschall Pétain ist in manchem Milieu geblieben. "Lyon wählt nicht links, Lyon ist eine gemäßigte, volkstümliche Stadt", beharrt Henry Chabert und glaubt weiter an seine Beliebtheit unter den Bürgern. Ein neues richterlich angefordertes Gutachten setzt die Kosten für sein Landhaus mittlerweile mit 1,1 Millionen Francs an - dreimal höher als angegeben.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.