Wie die Finanzmarktspekulation arme Länder in noch größere Not stürzt
Kasino Ob Gas, Kohle oder Weizen: Mit realen Knappheiten hat das Auf und Ab der Preise an den Märkten wenig zu tun. Reiche Länder können sich behelfen. Ärmere leiden – von Polen bis Pakistan
Die hohen Weizenpreise sind für viele Menschen weltweit unerschwinglich – obwohl zweifellos mehr als genug Weizen vorhanden ist
Foto: Dan Kitwood/Getty Images
Vor einigen Wochen war ich mit meinem Bruder auf Familienbesuch in Polen. Auf der Strecke zwischen unseren Großmüttern, die in der Nähe von Katowice leben, mussten wir dabei, wie jedes Jahr, zwei Bahnübergänge passieren. Nie war dies ein großes Problem, denn die Güterzüge aus dem Kohleabbaugebiet begegneten uns in den vergangenen Jahren, wenn überhaupt, nur einmal die Woche.
Dieses Jahr war alles anders. Nicht nur die generelle Verunsicherung wegen des Kriegs im Nachbarland, der Inflation, dem Verfall des Wechselkurses und einer Abkühlung der Wirtschaft war mit Händen greifbar. Auch die normalerweise kurzen Autofahrten zogen sich in die Länge. Fast jeden Tag standen wir vor den Bahnschranken, da unzählige Güterzüge,
üge, beladen bis über den Rand hinaus mit Kohle, den Weg ins Ausland antraten. Gleichzeitig spricht das ganze Land über Kohlemangel. Wie kann das sein?Der Markt und der HungerJa, auch im Rest der Welt ist Energie- und Wirtschaftskrise – und viele Länder haben dabei eine deutlich schwierigere Startposition als Deutschland. Das, was ärmere Länder an Ressourcen haben, wird oft an das Ausland verkauft, da dort Preise erzielt werden, die die Menschen in armen Ländern schlicht nicht aufbieten können. Hinzu kommt, dass die Währungen vieler Entwicklungs- und Schwellenländer im Sinkflug sind. Das macht Exporte attraktiver, da der Wert der Deviseneinnahmen sich in lokaler Währung vervielfacht.In der Geschichte gab und gibt es erschreckende Beispiele dafür, wie arme Länder bzw. Bevölkerungsgruppen vom Markt „ausgepreist“ werden. Besonders prominent ist das der großen Hungersnot in Irland, die in den 1840er Jahren wütete. Während die Iren verhungerten, wurden irischer Weizen, Hafer, Eier, Vieh und Butter nach England verschifft. Ähnliches war es in Äthiopien 1973, als Nahrungsmittel aus der Region Wollo in die reicheren Landesteile exportiert wurden und zwischen 40.000 und 80.000 Menschen ihr Leben lassen mussten.Spekulation auf RohstoffmärktenIn den vergangenen Jahrzehnten sorgte die Finanzmarktspekulation auf den Rohstoffmärkten immer wieder für Hungerkrisen, die sich in Gewalt entluden. Der Arabische Frühling wurde durch eine spekulationsgetriebene Hausse der Rohstoffe und Nahrungsmittel ausgelöst und entfachte eine Kettenreaktion. All den Krisen ist gemein, dass insgesamt genug Nahrungsmittel verfügbar, allerdings nicht bezahlbar waren.Das globale Finanzkasino hat seit der exzessiven Deregulierung in den 2000er Jahren in immer höheren Ausmaßen Wetten auf real verfügbare Rohstoffe abgeschlossen. Das Volumen an Terminkontrakten übersteigt bei weitem die verfügbaren bzw. mit den Kontrakten abgesicherten Mengen. Dies macht das Argument obsolet, dass Finanzmarktspekulationen hauptsächlich dazu dienen, dass der Bauer seine zukünftige Ernte absichern kann. Solche sinnvollen Kontrakte gibt es, aber sie machen nur einen winzigen Teil der Geschäfte aus.Die Wetten auf den Rohstoffmärkten werden zumeist gehebelt, was bedeutet, dass mit geringen Summen an Eigenkapital und hohen Mengen an Fremdschulden gearbeitet wird, um die Profitabilität der Spekulationen zu steigern. Oft sind es heute nicht einmal mehr Menschen, die den Handel ausführen, sondern Computer. Im Energiemarkt werden beispielsweise über 80 Prozent der Transaktionen von Algorithmen ausgeführt, die sich hinsichtlich der Preisentwicklung an historischen Daten orientierten. Steigende und fallende Preise neigen dabei zu sich selbst verstärkenden Dynamiken, sodass wir eine unglaublich hohe Volatilität im Markt haben, von der einige Wenige unglaublich profitieren.Von Russland bis LibyenWenn eine Herde mit großen Hebeln Kapital auf eine begrenzte Menge Güter wettet, ergeben kleinste Veränderungen in der realen Verfügbarkeit Preissprünge, die nichts mehr mit den Fundamentalwerten zu tun haben. Das war 2010 der Fall, nachdem der Weizenpreis aufgrund der Dürre in Russland durch die Decke ging oder 2011, als Libyen als Rohölexporteur ausfiel und der Ölpreis in kürzester Zeit explodierte – bis die Ölblase 2014 aufgrund hoher aufgebauter Bestände platzte. 2022 ist es der Krieg in der Ukraine, der die reale Knappheit von Energie und Nahrungsmittel verstärkt.Für die Entwicklungsländer, deren Volkswirtschaften stark von Rohstoffexporten oder -importen abhängen, sind solche Achterbahnfahrten der Rohstoffpreise verheerend. Exporteuren mögen sie kurzfristig positiv erscheinen, doch sie gehen oft mit einer realen Aufwertung einher, sodass die Hausse auf den Märkten die Diversifizierung der Wirtschaft unmöglich macht, weil lokale Unternehmen bei dem Wechselkurs nicht wettbewerbsfähig sind. Platzt die Blase, stehen die Länder mit einer kaputten produktiven Basis und ohne Deviseneinnahmen da. Rapide Preisanstiege quetschen die lokalen Budgets von Rohstoffimporteuren aus und sorgen für hohen Inflationsdruck, da Preise für Nahrungsmittel und Rohstoffe in armen Ländern einen viel höheren Anteil am Warenkorb ausmachen. Ziehen die Zentralbanken hier die Zinsen an, schmiert die Dynamik in der Wirtschaft ab.Die Gas- und Strompreis-RallyRohstoffspekulationen sorgen weltweit für enorme Probleme – und zum ersten Mal merken wir es auch in Deutschland. Dass diese Preisschwünge und das Preisniveau nichts mehr mit Informationen über die reale Knappheit zu tun haben – was traditionell die Rolle von Preisen ist – liegt auf der Hand. Wir erleben den Irrsinn derzeit auf den europäischen Energiemärkten, wo die Preise für Strom innerhalb weniger Monate auf über 1.000 Prozent im Langfristvergleich steigen, nur um binnen Wochen wieder zu kollabieren und sich auf hohem Niveau einzupendeln. Auch der Gaspreis legt eine Achterbahn auf hohem Niveau hin. Nach Russlands Angriff auf die Ukraine verdreifachte sich der Gaspreis (Dutch TTF) auf zirka 210 Euro pro Megawattstunde, bevor er sich binnen weniger Wochen mehr als halbierte und Mitte März bei zirka 100 Euro pro Megawattstunde lag. Mitte Juni ging eine erneute Rally los, die Ende August in Preisen von mehr als 300 Euro pro Megawattstunde gipfelte. Derzeit liegen wir, je nach Frist der Futures, bei zirka 170, 180 Euro.Auch andere Rohstoffe sind von der Spekulation nicht verschont, was das Risiko einer weltweiten Hungerkrise erhöht. Die Weizenpreise beispielsweise liegen auf einem Niveau von etwa 350 US-Dollar pro Tonne (Sorte HRW). Das ist auf deutlich weniger als die 550-Dollar-Marke, an der sie noch im Mai kratzten, aber eben auch deutlich mehr als die 220 Dollar pro Tonne, die wir noch während der Pandemie hatten. Dieses Niveau der Weizenpreise ist, um es so deutlich zu sagen, vor allem in Zeiten eines wirtschaftlichen Abschwungs für viele Menschen weltweit unerschwinglich – obwohl zweifellos mehr als genug Weizen vorhanden ist.Exzessive SpekulationDie realen Knappheiten, die sich infolge des russischen Angriffs auf die Ukraine ergaben, sorgen in einem Mix mit einer exzessiven Spekulation, dem Verfall der Währungen und der Einkaufstour des reichen Westens in weiten Teilen der Welt für enormen wirtschaftlichen und politischen Druck. Wo es in einer solchen Phase an internationaler Kooperation und Koordination fehlt, ist der „Markt“ nicht der Mechanismus, der dafür sorgt, dass die begrenzten Güter am effizientesten eingesetzt werden. Ganz im Gegenteil. Emotionen, Herdenverhalten, Panik und Spekulation bewegen die Preise in Richtungen, die nichts mehr mit den eigentlichen Knappheiten zu tun haben. Dann gibt es, um sich den Worten von John Maynard Keynes (1926) zu bedienen, einen „erbarmungslosen Kampf ums Überleben, der die Erfolgreichsten durch den Bankrott der weniger Erfolgreichen selektiert [indem er] den Giraffen mit den längsten Hälsen erlaubt, jene mit kürzeren Hälsen auszuhungern.“ Mit anderen Worten: es ist reiner Sozialdarwinismus – und eben kein funktionierender Markt.Länder mit einer starken wirtschaftlichen und institutionellen Leistungsfähigkeit können, sofern sie kein allzu großes wirtschaftspolitisches Harakiri veranstalten (wie in Deutschland beispielsweise über die Schuldenbremse), solche Krisen für gewöhnlich managen. Viel schlimmer sieht es da bei vielen Entwicklungs- und Schwellenländern aus, die die Folgen der Krise mit voller Wucht zu spüren bekommen. Gerade heute ist es nach zwei Jahren Corona und schwierigen Jahren für die Weltwirtschaft seit 2018 umso schlimmer.Pakistan in NotPolen ist da nur ein Beispiel, wie ärmere Länder im Wettbewerb um knappe Güter ausgepreist werden, wenn reiche Länder mitbieten und Spekulanten die Preise in die Höhe schießen lassen. Dabei galt Polen zu Beginn der Krise noch als Musterknabe. Das Land wurde gelobt, dass es so zeitig Flüssiggas-Terminals gebaut hat und sofort ein freiwilliges Kohleembargo gegen Russland verhängte. Doch die Einkaufstour der reichen Länder auf dem globalen Gasmarkt und die Panik haben die Preise derart in die Höhe getrieben, dass das Land die Marktpreise nicht mehr bezahlen kann. Die Infrastruktur steht, doch die Pipelines bleiben leer. Dasselbe gilt für andere Länder, wie unter anderem Pakistan, wo die Gasknappheit aufgrund des LNG-Mangels erste wirtschaftliche Dellen verursacht hatte, bevor das Land mit der Jahrhundertflut endgültig in die Krise geschleudert wurde.Hinzu kommen in weiten Teilen des globalen Südens erhebliche Schwierigkeiten in Bezug auf Schuldentragfähigkeit und Inflation, da der US-Dollar extrem stark aufwertet und einen weltweiten Wettlauf um die höchsten Zinsen entfacht. Importe von Rohstoffen, die in US-Dollar abgewickelt werden, verteuern sich drastisch in lokaler Währung, während die Last der Dollar-denominierten Fremdschulden eine neue Schuldenkrise absehbar macht. Wie eine Welle türmen sich die Probleme derzeit auf – und die ersten Ausläufer des Sturms haben den globalen Süden bereits erreicht.Wird Austerität zur Realität?Gerade heute bräuchte es einen neuen Anlauf der internationalen Zusammenarbeit und eines genuinen Multilateralismus. Bilaterale Handelsverträge gehören nicht dazu, sondern eine Reform der Welthandelsorganisation WTO, eine Reform des globalen Währungssystems, Sand im Getriebe der Spekulation und eine Stärkung der Vereinten Nationen. Solche globalen Reformen müssen ein Standbein eines neuen, internationalen Entwicklungsmodells bilden, um dem globalen Süden die Möglichkeit zu geben, Bedingungen zu schaffen, um sich nachhaltig und dynamisch zu entwickeln. Wie bei uns im Norden sind Investitionen der einzig gangbare Weg, um die derzeitigen Knappheiten zu überwinden. In den vergangenen 40 Jahren hat der Norden dem Süden keine Möglichkeit dazu gegeben. Das zweite Standbein muss eine Radikalkur der Verschuldung der Entwicklungs- und Schwellenländer sein, die eine Umstrukturierung samt Schuldenschnitt beinhaltet. Bestehen wir auf den derzeitigen Kreditbedingungen – beispielsweise kamen 87 Prozent der Kredite des Internationalen Währungsfonds IWF 2021, also im zweiten Jahr der Coronapandemie, mit der üblichen Konditionalität zur Austerität – blockieren wir von vornherein einen Weg aus der Misere.Wenn wir in dieser Krise im Sinne des Sozialdarwinismus weiterhin den globalen Süden sich selbst überlassen, können wir auf Dauer sämtliche Entwicklungs- und Nachhaltigkeitsziele abschreiben. Zu welchen sozialen Kosten dies geschehen würde, ist nicht absehbar. Dass der globale Süden möglichst schnell auf die Beine kommt, ist dabei nicht nur eine Frage des Anstands und der Moral, es liegt langfristig auch im ureigenen Interesse der reichen Länder.
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