Das war’s für Maitland Jones: 82 Studierende hatten eine Petition gegen den Chemieprofessor unterschrieben. Sie machten ihn für ihr Versagen bei den Prüfungen persönlich verantwortlich. Daraufhin verlängerte die renommierte New York University seinen Lehrvertrag nicht. Der 84-jährige Wissenschaftler hatte jahrzehntelang erfolgreich in Princeton gelehrt und ein 1.300 Seiten starkes Lehrbuch verfasst. Nun war er frustriert. Die Studierenden seien nicht in der Lage gewesen, die Prüfungsfragen zu verstehen, sagte er der New York Times im Oktober. Nachlassende Leistungen hatte er seit Längerem registriert und Aufgaben angepasst. Dann kam die Pandemie und die Prüfungsergebnisse der Studierenden fielen ins Bodenlose. Mit dieser Diagnose eines gravierenden Leistungsabfalls in der universitären Lehre steht Jones nicht allein. Seit Jahren beobachten Bildungsexperten an US-amerikanischen Hochschulen eine Inflation von Bestnoten bei sinkenden Standards. Covid verschärfte die Probleme. Ein spektakulärer Fehlschlag war die verordnete Digital-Lehre: Die vor ihre Bildschirme verbannten Studierenden verloren nicht nur soziale Kompetenzen, die Konzentration schwand ebenfalls.
Die Studierenden ließen Jones’ Klage nicht auf sich sitzen. Ihre Beschwerden habe sich nicht gegen Kursinhalte und Benotungen gerichtet, sondern gegen Unterrichtsmethoden eines älteren Hochschullehrers, der sich neuen Lernbedingungen verschloss, ließen sie die Öffentlichkeit wissen. Nach der Rückkehr zur Präsenzlehre wollte er keine Online-Zugänge mehr anbieten. Zugleich rechnete man vor, wie aufwendig die Teilnahme an seinen Lehrveranstaltungen war, Kritik begegnete er mit Sarkasmus. Solidarität fand Jones dagegen bei Kollegen. Auch sie beklagten die mangelnde Leistungsbereitschaft einer Generation, die mit „Wokeness“ – also einer besonderen Achtsamkeit gegenüber Diskriminierung – auftrumpfen wollte, statt sich auf ihr Studium zu konzentrieren.
Der Konflikt ist paradigmatisch. Bei allen Unterschieden in der Bildungslandschaft kommt es gerade in den „Humanities“ auch hierzulande zu Kollisionen zwischen der Generation der Digital-Nomaden mit vernetzten Endgeräten und den Exponenten der alten Buch- und Schrift-zentrierten Leistungskultur. Zugespitzt formuliert: Texte werden von Angehörigen der Generation Z gern auf Displays von Mobiltelefonen gelesen; für mich Boomer bei Lyrik gerade noch okay, bei Faust II eher nicht. Referate basteln sie aus algorithmisch angebotenen WWW-Seiten; schon problematischer. Für Hausarbeiten und Qualifikationsschriften nutzen Zoomer schnell zugängliche Internetquellen und verzichten auf bibliografische Recherchen sowie auf intensive Suchen in Bibliotheken. Was Lehrende mit Liebe zu bedrucktem Papier nachhaltig irritiert – doch wie lässt sich intervenieren?
Veränderte Umgangsformen mit Wissen und Verfahren sind also mit Händen zu greifen. Unsere Studienordnungen aber rubrizieren die Vielfalt von alten und neuen Formen geistiger Arbeit noch immer pauschal als „Workload“ und erfassen diese „Arbeitsbelastung“ quantitativ. Nach ihren Vorgaben sollen etwa junge Humboldtianer 210 Arbeitsstunden aufwenden, um ein Modul mit Note abzuschließen. Wobei die Zeit in Vorlesungen und Seminaren ebenso genau angegeben ist wie die Stundenzahl für Vor- und Nachbereitung.
Wäre es nicht Zeit, um über diese Vorgaben nachzudenken? Sollten wir Magister und Scholaren vielleicht gemeinsam über Inhalte und Methoden diskutieren, die wir teilen und vermitteln? Und wollen wir endlich über Leistungen der universitären Lehre sprechen – und nicht nur über „Exzellenz-“ und „Spitzenforschung“? Dies scheint umso dringlicher, als trotz allem Gehetze die Rechnung nicht aufgeht: 60 Prozent der Studierenden in Deutschland schaffen ihr Studium nicht in der Regelstudienzeit, meldete die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) dieser Tage.
Ralf Klausnitzer lehrt an der HU Berlin. In diesem Semester gibt er u. a. ein Seminar über Generationskonflikte (Workload: 120 Stunden)
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