Wie ein Vibrator in der Venus von Milo

Alltagslektüre Vergessen Sie Raymond Chandler, unterhalten Sie sich mit der erstklassigen Crime-Noire-Persiflage "Das Un-Glück". Vorausgesetzt, Sie sind Fan von Wie-Vergleichen

Was habe ich gelesen?
„Das Un-Glück – Ein Schlüsselroman“ von Constantin Seibt und Michael Spittler.

Seitenzahl: 214.

Amazon-Verkaufsrang: 1.171.718

Warum habe ich es gelesen?
Constantin Seibt, ein Reporter der Schweizer Tageszeitung Der Tagesanzeiger, ist vermutlich der beste deutschsprachige Journalist. Manche behaupten zwar, Alexander Osang und Dirk Kurbjuweit vom Spiegel seien die besten, aber ich finde sie eher langweilig. Im Vergleich zu Seibt haben sie weder den Mut politisch zu sein, noch haben sie in frühen Jahren einen frechen, eitlen Grünschnabel-Roman hingezaubert. An einem bier- und rührseligen Männerabend in Zürich erfuhr ich von Seibt, dass er zusammen mit einem Studienkollegen Anfang der 1990er einen Krimi geschrieben hatte. Lange bevor er Journalist wurde. Schwankend beschloss ich noch auf dem Heimweg, den Krimi zu lesen. Man will ja wissen, wie die besten Journalisten waren, bevor sie wurden, was sie sind. Das Buch besorgte ich mir in einem Antiquariat, es ist im Handel längst vergriffen.

Worum geht es?
Riley ist Privatermittler. Versoffen, wortkarg, übelgelaunt. Wenn eine Frau sagt: „Einen Augenblick lang hatte ich richtig Angst“, sagt Riley: „Angst ist mein Geschäft“. Ein Womanizer also, einzuordnen irgendwo zwischen Philipp Marlow und Götz George (das ganze spielt in Berlin, obwohl mehrere Figuren mit Helvetismen um sich werfen). Der Plot ist kompliziert wie eine Wurzelbehandlung und unlogisch wie das Leben: Eine Frau findet eine Blutlache neben ihrem Bett, eine andere ihren Mann nicht mehr, Riley einen dreiköpfigen Fisch – und alle finden in das Bett des Privatdetektiven. Menschen sterben, die Verdächtigen tragen Namen wie Schuski oder Ebenbauer, rote Slips spielen Hauptrollen – eine Crime-Noire-Persiflage vom Feinsten.

Was bleibt hängen?
Sicher nicht die Handlung. Aber etwas viel wichtigeres: Der „Wie“-Vergleich. Viele Schreiber messen sich daran, wer den besten „Wie“-Vergleich schafft. Ein typischer „Wie“-Vergleich geht so: „Er war verwirrt wie ein Komma am Ende des Satzes“ (der ist von Andreas Dietrich, Blattmacher einer Schweizer Tageszeitung und ein wahrer Meister des Fachs). Unter den Top-„Wie“-Vergleichern Deutschlands sind Leute wie Ingolf Gillmann, Textchef des Monopol („Er strahlte wie ein Kind, das zur Freude seiner Eltern ein Weihnachtsgedicht stotterfrei aufgesagt hat“) oder Thomas Kaiser, Textchef von GQ, („Nervös wie ein Crackhund in der Menopause“) oder eben Constantin Seibt („Sie lächelte und streckte ihm ihre zarte Hand entgegen, in der ein gar nicht zarter Revolver steckte, wie ein Vibrator in der Venus von Milo“). Völlig übermütig verschoss Seibt für „Das Un-Glück“ seine allerbesten Wie-Vergleiche, die er später als Journalist sicher mal gebraucht hätte. In jedem zweiten Satz kommt einer. Das ist natürlich viel zu viel. Aber es ist auch viel unterhaltsamer als jeder ernstgemeinte Raymond-Chandler-Krimi. Eine Variation des „Wie“-Vergleichs ist das „als“. Seibt beherrscht auch diese Form: „Ebenbauer lachte, als sässe er mit John Wayne am Lagerfeuer“. Ein weiteres Stilmittel, das Seibt exzessiv verwendet: Gegenständen ein Eigenleben geben. „Ihr Bademantel vergaß endgültig seine Erziehung und glitt zur Seite“. Oder: „Sein Gürtel wehrte sich, aber es nutzte nichts, er wurde entfernt“.

Wie liest es sich?
Wie die Tagebucheinträge eines selbstverliebten Textchefs.

Das beste Zitat:
„Es war ein guter Whiskey, er rann Riley die Kehle runter wie gewissen Frauen die Tränen: weich, flüssig und herzerwärmend.“

Wer sollte es lesen?
Jeder, der gern „Wie-Vergleiche“ macht. Wie lautet Ihr bester? Sind Sie besser als Seibt? Zeigen Sie es!

Was lese ich als nächstes?
„Sucka mitt hjärta men brist dock ej“ von Mark Levengood.

Die Alltagslektüre: In seiner Kolumne unterzieht Freitag-Autor Mikael Krogerus jede Woche ein Buch einem persönlichen Lese-Check. Zuletzt: "Nachts um eins am Telefon" von Michael Köhlmeier

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