Sensitivity Reading: Wie empfindlich sollten wir sein?
Streitgespräch Diskriminierende Sprache ist insbesondere in literarischen Klassikern nicht selten. Die Literaturwissenschaftlerin Lisa Pychlau-Ezli setzt sich deshalb dafür ein, Texte auch darauf zu überprüfen. Harald Martenstein geht das zu weit
„Die Realität soll aus der Literatur vertrieben werden“: Harald Martenstein im Gespräch mit der Literaturwissenschaftlerin Lisa Pychlau-Ezli
Collage: der Freitag; Material: Imago (3), dpa; Benjamin Zibner (unten)
Es war gar nicht leicht, eine Person zu finden, die sich fürs Sensitivity Reading stark macht. Angefragte Lektor*innen sagten ab, wollten ihre Tätigkeit nicht infrage stellen lassen. Umso mehr freuen wir uns, dass wir mit Ihnen, Frau Pychlau, zwar keine Praktikerin, aber dennoch eine Frau vom Fach gewinnen konnten. Sie sind Literaturwissenschaftlerin und freiberufliche Literaturkritikerin. Promoviert haben Sie über Essen und Trinken im Mittelalter. Von dort scheint ein weiter Weg hin zu politisch korrekter Sprache in Büchern. Wie sind Sie zu dem Thema gekommen?
Lisa Pychlau-Ezli: Ich habe schon an der Uni viel zu Rassismus und Intersektionalität gearbeitet.
Harald Martenstein: Was ist das?
Pychlau-Ezli: Das kann ich Ihnen gern kurz erklären. Intersektionalitä
Harald Martenstein: Was ist das?Pychlau-Ezli: Das kann ich Ihnen gern kurz erklären. Intersektionalität berücksichtigt, wenn sich mehrere Formen der Diskriminierung in einer Person überschneiden, zum Beispiel bei Schwarzen Frauen. Deren Perspektive war lange nicht sichtbar, weil entweder – aus antirassistischer Sicht – die Schwarzen Männer oder – aus feministischer Sicht – die weißen Frauen im Fokus standen. Es gibt ja verschiedene Diskriminierungsformen – Sexismus, Rassismus, Behindertenfeindlichkeit, Klassismus ...Martenstein: Also, wenn ich als alter weißer Mann beschimpft werde, wäre das ein Fall von Intersektionalität? Alt und weiß?Pychlau-Ezli: Genau so, Herr Martenstein! Das Sensitivity Reading entstand aus der Own Voices Bewegung. Es geht darum, die Perspektive zu wechseln.Der Beruf entstand 2016 in den USA. Stimmt es, dass es dabei um eine minderheitssensible Ausdrucksweise geht, ein achtsames Lektorieren?Pychlau-Ezli: Nicht ganz, Frauen sind ja keine Minderheit, werden aber sexistisch diskriminiert. Ich würde auch nicht sagen, dass es um achtsames Lektorieren geht – das könnte jeder Lektor leisten. Aber ein Lektorieren aus der Perspektive der Betroffenen – das kann nicht jeder.Haben Sie sich schonmal von einem Text von Herrn Martenstein verletzt gefühlt?Pychlau-Ezli: Nein. Ich denke, Herr Martenstein polarisiert. Und ich glaube, er kokettiert mit seiner Position als alter weißer Mann. Das hat er ja eben schon angesprochen. Aber mich persönlich verletzt das überhaupt nicht. Die ganze Anti-Rassismus-Debatte stempelt häufig alte, weiße Männer als das ultimative Böse ab. Und das ist ja auch nicht richtig. Polarisieren hilft nicht weiter. Mein Anliegen ist, sich ernsthaft auf Augenhöhe mit solchen wichtigen Themen auseinanderzusetzen. Denn Rassismus ist Realität, Sexismus ist Realität. Es geht da um reale Menschen, und das sollte man einfach ernst nehmen.Herr Martenstein, haben Sie sich als Leser schon von Romanen verletzt gefühlt, z. B. als „alter weißer Mann“?Martenstein: Nicht speziell als alter weißer Mann. Aber natürlich habe ich viele Dinge gelesen, die mich erschüttert haben, die mir also wehgetan haben. Das ist ja einer der Gründe, warum ich Bücher lese. Die Bücher, die mir in Erinnerung bleiben, sind meistens die, die mir gegen den Strich gehen. Ein Beispiel ist Jonathan Little, „Die Wohlgesinnten“, ein Roman, der aus der Sicht eines SS-Mörders erzählt. Der Roman fragt: Wer waren diese Leute? Das hat mich so stark interessiert, weil ich in meiner Jugend natürlich auch mit Nazis zu tun hatte, die liefen ja überall herum. Und ich habe manche von denen gemocht, zumindest, bevor ich ihre Vergangenheit kannte. Wie konnten sie so etwas tun? Was hätte ich getan? Little versucht, in den Kopf eines solchen Menschen einzudringen. Das kann nur Literatur. Oder „Lolita“ von Vladimir Nabokov, der als Autor versucht, in den Kopf eines Pädophilen zu kriechen. Ein Mann macht sich an ein zwölfjähriges Mädchen heran, sie wird seine Geliebte ...Ein Buch muss weh tun?Martenstein: Nicht jedes. Aber bei vielen guten Büchern ist es so. „Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns“, hat Franz Kafka gesagt.„Die Leute ärgern sich und verwechseln das mit Verletzung“Am 25. März hat Ihnen die Gesellschaft für deutsche Sprache den Medienpreis für Sprachkritik überreicht.Martenstein: Die Sendung mit der Maus hat ihn, unter anderem Namen, auch schon bekommen.Die Jury lobte, dass Sie „ironisch, kritisch, unangepasst und provozierend, aber niemals verletzend“ schreiben. Sind Sie einverstanden?Martenstein: Jedenfalls fühle ich mich verstanden. Ich finde, jeder Mensch muss sich kritisieren oder auch verspotten lassen für das, was er sagt oder tut. Nicht kritisierbar ist dagegen das, was den Menschen ausmacht, sein Geschlecht, seine Sexualität, Herkunft, Gewicht, Alter und so weiter. Das ist meine Arbeitsgrundlage als Kolumnist.Kritik am Meinen und Sagen ist korrekt – aber Kritik an der Person als solcher geht zu weit?Martenstein: Vergessen Sie das „Tun“ nicht. Ich gehe schon manchmal polemisch auf Leute los, für das, was sie gesagt oder getan haben. Aber nicht auf sie als Menschen. Zumindest versuche ich das. Jeder bleibt Mitmensch.Dennoch erhalten Sie viele Leserbriefe von Menschen, die sich von Ihnen verletzt fühlen. Können sie alle die Unterscheidung nicht machen – oder liegen sie auch mal richtig mit Ihrer Kritik an Ihnen?Martenstein: Man sollte nie die Möglichkeit völlig ausschließen, dass Kritiker recht haben. Aber oft fühlen sich Leute verletzt, weil ich etwas geschrieben habe, das ihnen nicht gefällt. Und da kann ich ihnen leider nicht helfen. Ärger gehört zum Leben, die Leute ärgern sich und verwechseln das mit Verletzung.Würden Sie zustimmen, dass Literatur, die es allen recht machen will, keine Daseinsberechtigung hat?Martenstein: Eine Daseinsberechtigung hat sie vielleicht schon, aber sie ist uninteressant.Pychlau-Ezli: Es geht doch nicht um Rechtmachen, sondern um Diskriminierung! Es ist ja auch keine Pflicht, keine Zensur, sondern ein Angebot. Es kann nur bereichernd sein. Klassiker würde ich nicht ändern. Aber man muss unterscheiden zwischen Texten für Kinder und für Erwachsene. Erwachsene sind mündig, die haben schon einiges gesehen und erlebt. Sie können sich Wissen selbst aneignen. Herr Martenstein hat ja gerade „Lolita“ angesprochen, zufällig auch eines meiner Lieblingsbücher. Der Ich-Erzähler entlarvt darin selbst seine Fehler. Erwachsene lesen und wissen, wie der Hase läuft –Martenstein: Nabokov ist definitiv keine Kinderliteratur.Pychlau-Ezli: Und Astrid Lindgren keine Erwachsenenliteratur.„Kinderbrücher sollten diskriminierungsfrei sein“Frau Pychlau, Sie haben über Rassismus in Kinderbüchern geforscht. Daraus ist 2022 das Buch „Wer darf in die Villa Kunterbunt?“ entstanden, angelehnt an das bunte Zuhause von Pippi Langstrumpf, einer starken Mädchenfigur in Astrid Lindgrens Geschichten. Wer darf denn in die Villa?Pychlau-Ezli: Die People of Colour von Taka-Tuka-Land jedenfalls nicht, im Gegenteil: Die Schwarzen Kinder verbeugen sich vor den weißen Kindern! Wir lesen mit unseren Kindern viel Astrid Lindgren, aber so etwas kann ich einfach nicht vorlesen. Das finde ich diffamierend.Würden Sie den N*König in Pippi Langstrumpf weglassen?Martenstein: Ich denke schon.Pychlau-Ezli: Das freut mich sehr, Herr Martenstein!Geht es beim Sensitivity-Reading denn vor allem um Kinderbücher?Pychlau-Ezli: Da Kinder diese kritische Reflexion von Texten noch nicht leisten können, sollten Kinderbücher tatsächlich diskriminierungsfrei sein, während Texte für Erwachsene das nicht unbedingt sein müssen. Weltliteratur schon mal gar nicht! Was aber tatsächlich bei der ganzen Debatte komplett unter den Tisch fällt, sind Schulbücher. Darin finden sich so viel Rassismus und andere Diskriminierungen! Ich habe mir mal die Mühe gemacht und bei den drei marktbeherrschenden Schulbuchverlagen in Deutschland, Klett, Westermann und Cornelsen, nachgefragt. Keiner setzt Sensitivity Reading ein. Ich glaube aber, gerade dort brauchen wir das dringend.Würden Sie da zustimmen, Herr Martenstein?Martenstein: Wahrscheinlich habe ich nicht die gleiche Definition von „diskriminierend“ wie Frau Pychlau. Nehmen Sie „Tom Sawyer“ von Mark Twain. Rassismus ist ein Thema dieses Romans, deshalb kann man nicht alle Worte entfernen, die darauf hinweisen. Kinder müssen ja auch lernen, was Rassismus ist und wo der herkommt. Man kann sie nicht unter eine Käseglocke stecken.Pychlau-Ezli: Da bin ich absolut Ihrer Meinung, aber ich finde, die Aufklärung über Rassismus sollte nicht mit Unterhaltung vermischt werden. Außerdem darf man nicht vergessen, dass Rassismus Alltag ist. Man begegnet ihm in der Schule, in der Werbung, überall in der sichtbaren Öffentlichkeit. Muss er wirklich auch noch in Kinderbücher, die man abends gemütlich im Bett vorliest? Sollte das nicht ein geschützter Bereich sein – gerade für Kinder, die täglich rassistische Diskriminierung erfahren? Außerdem gibt es auch Kinder, die allein lesen. Die sind dann damit allein gelassen.Martenstein: Ich habe Tom Sawyer allein gelesen, aber ich glaube nicht, dass ich davon rassistisch geworden bin.Woher wissen Sie das?Pychlau-Ezli: Ich denke, dass subtil rassistische Texte weiße Kinder tatsächlich beeinflussen und nicht-weiße Kinder tatsächlich verletzen. Sehr viele Kinderbücher beinhalten subtilen Rassismus und dieser wird von Kindern fest verinnerlicht, wenn sie jeden Tag damit konfrontiert werden. Weiße Kinder werden auf diese Weise quasi rassistisch sozialisiert und weiße Menschen verhalten sich daher immer wieder rassistisch – ohne es zu merken oder zu wollen. Auch ich.Martenstein: Ich fürchte, ich auch.Pychlau-Ezli: Das läuft unbewusst ab.Martenstein: Mark Twain hat es immerhin geschafft, antirassistische Bücher zu schreiben. Ich habe ein Problem damit, wenn man Leuten aufgrund ihrer Hautfarbe negative Eigenschaften zuschreibt. Natürlich kann alles Mögliche beeinflusst und verstärkt werden durch Texte. Aber ich bestreite ganz entschieden die These, dass wir qua Geburt Rassismus in uns haben, als Erbsünde. Dann hätte ja der ganze Kampf gegen Rassismus in Europa keinen Sinn.„Texte werden immer umgeschrieben“Lassen Sie uns noch über andere Verletzungen sprechen. Im „Struwwelpeter“ zum Beispiel, ein altes Kinderbuch. Darin gibt es die Geschichte vom Daumenlutscher, dem beide Daumen abgeschnitten werden, weil er nicht aufhört, daran zu lutschen. Meine Oma hat mir sowas als Kind vorgelesen – keine Ahnung, ob ich einen Knacks davon bekommen habe – aber darf man überhaupt in zeitgeschichtlichen, literarischen Dokumenten herumfuhrwerken?Pychlau-Ezli: Das würde ich nicht machen, Texte müssen als Zeitzeugen für die Nachwelt so bewahrt werden, wie sie sind, sonst würde man das Bild der Vergangenheit verfälschen. Aber ich muss den Struwwelpeter meinen Kindern ja nicht vorlesen.Martenstein: Mache ich auch nicht.Wie ist es mit Märchen? Darin passieren grausame Dinge, die Protagonisten sind oft stereotyp.Pychlau-Ezli: Ich lese meinen Kindern keine Märchen vor.Martenstein: Ich schon. Von Schneewittchen bis Hänsel und Gretel, also das volle Programm. Sogar in Schulklassen, bei den Märchentagen. Im Moment lesen wir aber Matilda von Roald Dahl.Zu diesem Autor kommt aus Großbritannien die Debatte zu uns, ob dessen Bücher umgeschrieben werden sollen, zumal deren Autor als fragwürdig gilt. Dahl hat sich zum Antisemitismus bekannt. Seine Kinderbücher erscheinen jetzt in einer bereinigten Form. „Weiß“ wird zu „pale“, also „bleich“, „fett“ zu „übergewichtig“, damit kein dickes Kind verletzt wird. Nach heftiger Kritik gibt es aber auch weiterhin die Ursprungsversion zu kaufen. Was halten Sie davon, rückwirkend quasi die Bücher zu waschen?Pychlau-Ezli: Eine historisch-kritische Version beizubehalten, finde ich auf jeden Fall richtig. Aber so ganz verstehe ich die Aufregung nicht. Es ist ja nicht die Ausnahme, sondern die Regel, dass Bücher geändert werden. Ich habe neulich mit dem Karl-May-Experten Andreas Brenne gesprochen. Er sagte, in einigen Karl-May-Ausgabenseien 80 Prozent des Textes gar nicht von Karl May. Darüber hat sich kein Mensch aufgeregt. Texte werden immer umgeschrieben, werden immer ein bisschen angepasst. Ich habe gestern noch mal in meine deutsche „Matilda“-Ausgabe von 1996 geschaut. Der Herr Martenstein kennt vermutlich die Szene, wo der dicke Junge den ganzen Kuchen aufessen muss.Martenstein: Ja!Pychlau-Ezli: Das ist geschildert mit dem Vokabular eines sportlichen Wettbewerbs, den der Junge gewinnt – ein großer Sieg für ihn! Das ist eine empowernde Szene. Dicksein wird nicht abgewertet.Martenstein: Es bringt halt nichts, nur einzelne Worte zu betrachten. Es kommt immer auf den Kontext an. Deshalb verstehe ich nicht, was mit Dahls Büchern passiert. Seine Matilda ist ein Mädchen, das wahnsinnig klug ist und viel liest. Sie begeistert sich vor allem für Rudyard Kipling. In der bearbeiteten Fassung ist der Kipling gestrichen und durch Jane Austen ersetzt worden, eine feministische Ikone. Warum? Die Kinder, die das lesen, können Kipling doch gar nicht kennen. Sowas geht mir sehr gegen den Strich.Pychlau-Ezli: Finde ich jetzt nicht so dramatisch. Wie Sie schon sagen: Kinder wissen mit den Namen ohnehin nichts anzufangen, es ändert also nichts.Kipling ist der Mann, der das „Dschungelbuch“ geschrieben hat.Pychlau-Ezli: Ein ultrarassistisches Buch, ja. Er hat auch das Gedicht „Die Bürde des weißen Mannes“ verfasst, das rassistische Narrationen propagiert, die auch im deutschen Kolonialismus eine große Rolle spielten. Aber Kipling oder Austen ist nicht der Punkt. Rassismus in Schulbüchern ist viel wichtiger: Wie viel Sichtbarkeit wollen wir Rassismus in der Öffentlichkeit geben?Wer ist denn „wir“?Martenstein: Dieses Wir gibt es nicht. Darf es auch nicht geben, dann hätten wir doch noch ein Wahrheitsministerium wie in George Orwells „1984“.„Herrschaft der woken Dummheit“Da kommen wir auf die Frage, wer entscheidet, was noch wie in Büchern stehen darf. Schließlich könnten auch andere „Wirs“ auf die Idee kommen, im Namen einer vermeintlich guten Sache Bücher zu waschen. In den USA gibt es von ultrakonservativer Seite Bestrebungen, die Beschäftigung mit der Geschichte des US-Rassismus aus den Lehrplänen zu streichen, um die empfindsamen (weißen) Kinderseelen nicht mit der Grausamkeit ihrer Vorfahren zu erschüttern. Das wäre ein geschichtsklitterndes Sensitivity Reading.Pychlau-Ezli: Die Gefahr sehe ich jetzt nicht. In unserem deutschsprachigen Literaturbetrieb dominiert der akademische weiße Mittelstand. Sensitivity Reader brechen das ein bisschen auf. Es sieht vielleicht von außen so aus, es werde reingewaschen. Aber tatsächlich findet genau das Gegenteil statt: Es wird bunt. Weiße, nichtbehinderte Mainstream-Perspektiven werden in Frage gestellt. Immer mehr Leute wirken an einem Text mit und dadurch werden mehr Sichtweisen möglich. Autor*innen bekommen Anstöße, mal in eine andere Richtung zu denken.Martenstein: Klingt wie ein Gruppenreferat an der Uni. Ich denke, dass Autoren auch ohne Sensitivity Reader selbstständig aus einer Perspektive schreiben können, die nicht ihre eigene ist. Das nennt man Literatur. Nehmen Sie Flauberts „Madame Bovary“, die Geschichte eines scheiternden Frauenlebens. Es kommt nicht auf Hautfarbe oder Geschlecht an, sondern auf die Qualität eines Textes.Wobei Flaubert sich zweifellos viel mit Frauen beschäftigt hat, um so einfühlsam über sie zu schreiben. Bei solcher Recherche könnten Sensitivity Reader helfen.Martenstein: Es gibt doch nicht DIE Frauen, DIE Schwarzen oder DIE Weißen. Diversität bedeutet ja nicht nur, dass die Leute unterschiedliche Hautfarben haben, unterschiedliche Geschlechter, Sexualitäten, Körper. Auch das, was in den individuellen Köpfen steckt, ist ziemlich unterschiedlich. Wohin Sensivity Reading führen kann, sieht man jetzt in Baden-Württemberg.Da soll Wolfgang Koeppens Romanklassiker „Tauben im Gras“ Abiturstoff sein. Er handelt von der Nachkriegszeit, auch vom Rassismus, der sich jetzt, die Juden sind ja weg, gegen schwarze Besatzungssoldaten richtet. Natürlich kommt das N-Wort oft vor. Eine (schwarze) Lehrerin fühlt sich dadurch verletzt und fordert, das Buch nicht zu behandeln.Martenstein: Die Realität soll also in der Literatur nicht mehr vorkommen. Außer, Leute schreiben über sich selbst. Das Problem scheint ja zu sein, dass Koeppen weiß war. Nur noch Autobiographie, sonst nichts mehr. Aber selbst in Ihrer und meiner Autobiographie kommen andere Leute vor, was dann? Hier würde ich wirklich von der „Herrschaft der woken Dummheit“ sprechen, die sich anbahnt.Pychlau-Ezli: Man muss dabei beachten, dass gerade die Schule ein dominanzkultureller Ort ist. Im Deutschunterricht werden fast ausschließlich die Texte weißer Männer besprochen und praktisch gar nicht die Texte afrodeutscher Frauen wie May Ayim, die ja auch ein wichtiger Teil des Kanons deutscher Literatur sind. Und der Rassismus in Koeppens Werk „Tauben im Gras“ beschränkt sich ja nicht auf das N-Wort, das wirklich gefühlt auf jeder Seite vorkommt. Das ist nur der vordergründige Rassismus. Obwohl die Absichten des Autors sicherlich antirassistisch waren, reproduziert er fortwährend rassistische Klischees. So werden Schwarze Männer in Koeppens Buch stark sexualisiert, animalisiert, infantilisiert und mitunter auch kriminalisiert. Außerdem wird Schwarzsein mit Sklaverei, Sportlichkeit und Musikalität verknüpft, das alles sind bis heute gängige Narrative und Stereotype, die auf eine Dichotomie zwischen Natur und Kultur; zwischen Schwarzer Wildheit und weißer Zivilisiertheit abzielen. Gerade darin, in dem hintergründigen, eher subtilen Rassismus, liegt die Gefahr des nicht-authentischen Erzählens, der durch ein Sensitivity Reading begegnet werden soll. Es gibt halt bestimmte Problematiken, die nur die Betroffenen identifizieren können.„Der Buchmarkt ist nicht divers genug“Die Sesamstraße hat jetzt eine Puppe im Rollstuhl eingeführt.Pychlau-Ezli: Wunderbar!Ich habe eine behinderte Schwester und ärgere mich oft über die öffentlich-rechtlichen Serien. Mit Glück sehen wir ein paar Quoten-PoCs, bei denen krampfhaft darauf geachtet wird, dass die Hautfarbe nicht zur Sprache kommt. Oder „In aller Freundschaft“ den perfekt funktionierenden Arzt im Rollstuhl, zu dem alle besonders nett sind und der praktischerweise auch noch einen Namen mit Migrationshintergrund hat. Aber Menschen mit Behinderungen erscheinen höchstens als liebenswert schrullig, Opfer oder Aktivistin. Sie haben keinen Sex, morden nicht – sind als Individuen unsichtbar. Kann Sensitivity Reading auch für solche Abwesenheiten sensibilisieren?Pychlau-Ezli: Genau dafür brauchen wir Sensitivity Reading. Vielleicht müssen Sender und Verlage da ein bisschen mutiger sein, auch mal etwas Neues zumuten, diverse Perspektiven.Martenstein: Es muss eine spannende Geschichte sein, ohne pädagogische Überfrachtung. Ich empfehle David Walliams, das ist ein englischer Comedian, der auch Kinderbücher schreibt, zum Beispiel eine Geschichte um eine Oma, die mit ihrer Enkeltochter in den Londoner Tower einbricht.Pychlau-Ezli: Das glaube ich Ihnen! Und es ist schön, dass die Protagonistin eine ältere Frau ist, da auch alte Frauen eine Gruppe sind, die von intersektionaler Diskriminierung betroffen ist, und gesellschaftlich gerne unsichtbar gemacht wird.Martenstein: Keine ältere, eine richtig alte, kranke Frau, die weiß, dass sie bald sterben wird.Placeholder infobox-1Herr Marteinstein, Sie schreiben vermutlich schon an Ihrem nächsten Roman. Hätten Sie Lust, dass ein Sensitivity Reader drübergeht? Aus Neugier?Martenstein: Wenn der Verlag das verlangen würde, würde ich das Buch zurückziehen.Manche Kritik am Sensitivity Reading ist so polemisch, dass von betreutem Lesen die Rede ist. Aber ist es nicht eher so, dass der aktuelle Literaturbetrieb betreutes Lesen betreibt: Weiße Mittelschicht schreibt Bücher für weiße Mittelschicht.Pychlau-Ezli: Der Buchmarkt ist tatsächlich nicht divers genug, er ist sehr homogen im Moment. Das ist ein Problem.Der „alte weiße Mann“ bleibt unbehelligt.Martenstein: Die Literaturpreise der letzten Zeit sprechen nicht dafür. Fest steht: Wer ein unerfülltes Diskriminierungsbedürfnis hat, darf jederzeit risikolos alte weiße Männer diskriminieren.Pychlau-Ezli: Und gerade deshalb finde ich es so wichtig, dass man Debatten führt, ohne zu polarisieren. Ohne Feindbilder. Man darf niemanden diskriminieren, auch die alten weißen Männer nicht.