Identitätspolitik wird schon immer von allen betrieben, das fällt nur bei denen nicht auf, deren Meinung bisher als die gängige galt. Wie wäre es, darüber differenzierter und gründlicher zu diskutieren, anstatt reflexhaft zu reagieren? Und anstatt – wie aktuell in der Causa Amanda Gorman und der Übersetzung ihres Gedichts The Hill We Climb – zu fragen, ob Jobs jetzt nach Hautfarbe verteilt werden oder weiße Menschen Schwarze übersetzen dürfen, vertiefender darauf einzugehen, welche Rolle dabei den Erfahrungswelten, dem Wissen über geschichtliche Aufarbeitung, Debatten über Wortgebräuche und dem Selbstverständnis von Nachkommen einst Versklavter und Kolonialisierter zukommt.
Gorman selbst hatte sich von ihren europäischen Verlagen diversitätssensible Übersetzerinnen gewünscht. Diese machten vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen inländischen kolonialhistorischen Debatten unterschiedliche Vorschläge und tragen damit die Verantwortung – nicht Gorman. Die Feminist*in Marieke Lucas Rijneveld, die anfangs für die niederländische Übersetzung angefragt war, verwandelte die intersektionale Kritik an ihrer Wahl in eine Lernerfahrung und schließlich in ein Gedicht, in dem sie über die Beweggründe ihres Rücktritts schreibt, der nicht aus Bestürzung vollzogen wurde, sondern: „ (…) weil du weißt, da ist so viel / Ungleichheit.“
So hat in Europa nicht nur das schlecht aufgearbeitete koloniale Erbe dazu geführt, dass Schwarze Menschen noch immer Rassismus begegnen, was auch die Frage von Repräsentation betrifft. Was sie über den Atlantik hinweg eint, ist ein transgenerationales Trauma, das durch Sprache reaktiviert werden kann. Das betrifft auch andere Perspektiven wie die von Juden und Jüdinnen, Sint*izze und Romn*ja, Menschen mit Behinderung oder non-binären Personen. Statt um Cancel Culture sollte es daher um Perspektivenvielfalt in einer pluralen Gesellschaft gehen. Darum, dass schlussendlich das Werk über die ideale Besetzung für eine Übersetzung entscheiden sollte. Es geht nicht um Moral, so wäre es zeitgemäß.
Gerade der Fall Amanda Gorman zeigt, dass Sensibilität in besonderem Maß gefordert ist und sich ein Team gegenseitig ergänzen und miteinander lernen kann, zum Beispiel was „positioniertes Übersetzen“ im Sinne der Autorin Sharon Dodua Otoo bedeutet. Und ja, das kann auch anstrengend sein!
Wer den Wandel (an)erkennt und einem gewissen Rechtfertigungsdruck mit Offenheit begegnet, hat es leichter. Konstruktiv wäre, einander abzuholen. Denn wenn eine Gesellschaft der Vielen funktionieren soll, geht es darum, etablierte Strukturen machtkritisch infrage stellen, ohne sich und das eigene Dasein gleich selbst in Gefahr zu sehen. Das gilt auch für den mehrheitlich homogen besetzten Literaturbetrieb, der es mit einer wachsenden Präsenz vielfältiger Autor*innen zu tun hat. Deshalb ist es nicht falsch, nach den Expertisen von Übersetzer*innen zu fragen. Es bleibt zu hoffen, dass unter ihnen mit der gleichen Passion selbstkritisch diskutiert und der Versuch einer Antwort etwa auf die Frage formuliert wird, die die Literaturwissenschaftlerin Marion Kraft stellt: Ob man weiß sein muss, um im Mainstream-Literaturbetrieb zur Kenntnis genommen zu werden?
Kommentare 11
Ich denke, es spielt eine viel größere Rolle aus welcher Position heraus ein text gelesen wird. Vorraussetzung ist, dass eine richtige Übersetzung abgeliefert wird.
Der woke Denkansatz in dem Artikel bringt nichts weiter. Es bringt nichts weiter ob der Übersetzer unter einem Begriff dasselbe ( vorausgesetz natürlich das entsprechende Sprachverständis zur zu übersetzenden Sprache hin) versteht wie der Schreiber. Deshalb spielt eigentlich die Aussage des Artikels nur für die beiden eine Rolle.
Der übersetzte Begriff hat für den Leser den Inhalt, den er allgemein gültig oder für ihn hat. Die Welten mögen so nebeneinader stehen können. Denn wer etwas aus seinem Verständnis heraus genau so rüberbringen will, soll es genauso formulieren. Die Begriffe nutzen, die ein allgemeines Verständnis ansprechen.
In der FAZ stand heute zu lesen, dass die Übersetzungsarbeit in dem Team wohl die erfahrene Uda Strätling macht.
"Sint*izze und Romn*ja"
Gibt es in Deutschland mehr als eine Handvoll Menschen, die sich mit dieser bizarren, unaussprechlichen Konstruktion selbst bezeichnen? Oder ist es eine Fremdbezeichnung, mit der die woke Blase eine ethnische Minderheit für ihre eigene Ideologie einspannt?
Werden wir dann demnächst eine "weiße" und eine "schwarze" (Oder müssen die Anführungszeichen wegbleiben?) Übersetzung nebeneinander lesen können?
Und wie verhält sich das dann z.B. mit den verschiedenen Religionen, die ja ebenfalls sehr verschiedene Erfahrungshintergründe und folglich jede Menge Gelegenheit zu größten Missverständnissen bieten? Darf dann ein Mann eine Frau übersetzen? Oder umgekehrt? uswusf.
Das scheinen mir dann schon naheliegende Fragen zu sein.
Ich weiß nicht, wie man als "Antirassist" die Identität einer Person so sehr an ihren Melaningehalt knüpfen kann, ohne sich zu fragen, ob man langsam zu dem wird, was man angeblich bekämpft. Was haben denn Frau Haruna-Oelker und Frau Gorman effektiv gemeinsam, außer dass ein Teil ihrer Gene aus Afrika stammt? Das Ganze ist in etwa so, als würde man fordern, dass Haruki Murakami nur von einem Deutsch-Asiaten übersetzt übersetzt werden darf. - Auch wenn das vielleicht ein Vietnamese ist, der Japanisch nur mittelmäßig beherrscht. Hauptsache die "Rasse" stimmt.
Dass die umgekehrte Konstellation: Jemand stört sich daran, dass ein weißer Autor von einem Schwarzen übersetzt wird, völlig undenkbar ist bzw. ein lupenreiner Fall von Rassismus wäre, ist zwar richtig, zeigt aber auch den Doppelstandard. Denn wenn die Hautfarbe für die Identität eines Menschen so zentral ist, dass ein Buch von einer Schwarzen von einer weißen Person nicht angemessen übersetzt werden kann, warum sollte das dann nur in eine Richtung gelten?
"Werden wir dann demnächst eine "weiße" und eine "schwarze" (Oder müssen die Anführungszeichen wegbleiben?) Übersetzung nebeneinander lesen können?"
Hoffmann & Campe in Deutschland sind und waren so "woke", nicht das Risiko einzugehen, infolge eines Mega-Shitstorms die Veröffentlichung der Übersetzung sogleich wieder mit der Begründung einstampfen zu müssen, "machtkritische Strukturen" nicht hinreichend infrage gestellt und "kulturelle Anmaßung" begangen zu haben. Dass Übersetzungen, zumal von Lyrik, immer schwierig und in gewisser Weise eine "Anmaßung" sind - geschenkt. Ob es um Kunst oder Wissenschaft geht - Kuratorium und Kompetenzrunde ist der Twitter-Mob; stimmen müssen Hautfarbe, Haltung und identitäre Verortung.
Wegen der historischen Rollenverteilung von Opfer und Täter, also wegen erweiterter Sippenhaftung in Verbindung mit Rassismus der ganz hinterfotzigen Art. Die Art und Weise wie hier völlig unterbelichtete US Diskurse eingeschleppt werden ist atemberaubend.
Nun, man wird sehen, wie viele der in diesem “Fall“ Aufgeregten am Ende das Buch kaufen und lesen. Oder ob die ganze Diskutiererei nur der Suche nach einer Ausrede dient, “wenn das so ist“ (wie auch immer), die Finger davon zu lassen. Deutsche Debatten haben ja meistens den Zweck, sich mit Lieratur zu befassen, ohne lesen zu müssen. Und dann noch Lyrik, die ist ja nun dermaßen was von populär hierzulande! Kein deutsches Herz, an dem sie nicht liegt.☺
Gedichtbändchenrechnedich?
So ist es! Und im Gegensatz zum Wort "Zigeuner", den viele ebensolche als deutsche Eigenbezeichnung anerkennen, ist "Sint*izze und Romn*ja" eine modernistische Fremdbezeichnung. Trotzdem wird das Wort von Jugendverbänden etc. als Eigenbezeichnung empfohlen. Das entlarvt die Demagogen der politisch korrekten, sensiblen Sprache und zeigt, wie selbstgerecht dieser Meinungsmarkt funktioniert.
als selbst schreibender empfindet man ja schon fast so etwas wie sekundäre freude, wenn sich wenigstens auf dem weg über weitgehend sinnfreie diskurse, die ich persönlich eher als ersatzdebatten für un-stellbare systemfragen wahrnehme, noch aufmerksamkeit für gedichte erreichen lässt. allen gebärvätern und prostatapatientinnen sei ins stammbuch geschrieben: der krieg heißt reich gegen arm, und die klasse der reichen wird ihn gewinnen, leider egal, wer lyrik wie übersetzt.