Wie funktioniert zeitgemäßes Übersetzen?

Amanda Gorman Spielt es eine Rolle, aus welcher Position heraus ein Text übertragen wird? Ja, das tut es
Ausgabe 10/2021
Amanda Gorman bei der Rezitation ihres Gedichtes „The Hills We Climb“ anlässlich der Amtseinführung Joe Bidens
Amanda Gorman bei der Rezitation ihres Gedichtes „The Hills We Climb“ anlässlich der Amtseinführung Joe Bidens

Foto: Lagencia/IMAGO

Identitätspolitik wird schon immer von allen betrieben, das fällt nur bei denen nicht auf, deren Meinung bisher als die gängige galt. Wie wäre es, darüber differenzierter und gründlicher zu diskutieren, anstatt reflexhaft zu reagieren? Und anstatt – wie aktuell in der Causa Amanda Gorman und der Übersetzung ihres Gedichts The Hill We Climb – zu fragen, ob Jobs jetzt nach Hautfarbe verteilt werden oder weiße Menschen Schwarze übersetzen dürfen, vertiefender darauf einzugehen, welche Rolle dabei den Erfahrungswelten, dem Wissen über geschichtliche Aufarbeitung, Debatten über Wortgebräuche und dem Selbstverständnis von Nachkommen einst Versklavter und Kolonialisierter zukommt.

Gorman selbst hatte sich von ihren europäischen Verlagen diversitätssensible Übersetzerinnen gewünscht. Diese machten vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen inländischen kolonialhistorischen Debatten unterschiedliche Vorschläge und tragen damit die Verantwortung – nicht Gorman. Die Feminist*in Marieke Lucas Rijneveld, die anfangs für die niederländische Übersetzung angefragt war, verwandelte die intersektionale Kritik an ihrer Wahl in eine Lernerfahrung und schließlich in ein Gedicht, in dem sie über die Beweggründe ihres Rücktritts schreibt, der nicht aus Bestürzung vollzogen wurde, sondern: „ (…) weil du weißt, da ist so viel / Ungleichheit.“

So hat in Europa nicht nur das schlecht aufgearbeitete koloniale Erbe dazu geführt, dass Schwarze Menschen noch immer Rassismus begegnen, was auch die Frage von Repräsentation betrifft. Was sie über den Atlantik hinweg eint, ist ein transgenerationales Trauma, das durch Sprache reaktiviert werden kann. Das betrifft auch andere Perspektiven wie die von Juden und Jüdinnen, Sint*izze und Romn*ja, Menschen mit Behinderung oder non-binären Personen. Statt um Cancel Culture sollte es daher um Perspektivenvielfalt in einer pluralen Gesellschaft gehen. Darum, dass schlussendlich das Werk über die ideale Besetzung für eine Übersetzung entscheiden sollte. Es geht nicht um Moral, so wäre es zeitgemäß.

Gerade der Fall Amanda Gorman zeigt, dass Sensibilität in besonderem Maß gefordert ist und sich ein Team gegenseitig ergänzen und miteinander lernen kann, zum Beispiel was „positioniertes Übersetzen“ im Sinne der Autorin Sharon Dodua Otoo bedeutet. Und ja, das kann auch anstrengend sein!

Wer den Wandel (an)erkennt und einem gewissen Rechtfertigungsdruck mit Offenheit begegnet, hat es leichter. Konstruktiv wäre, einander abzuholen. Denn wenn eine Gesellschaft der Vielen funktionieren soll, geht es darum, etablierte Strukturen machtkritisch infrage stellen, ohne sich und das eigene Dasein gleich selbst in Gefahr zu sehen. Das gilt auch für den mehrheitlich homogen besetzten Literaturbetrieb, der es mit einer wachsenden Präsenz vielfältiger Autor*innen zu tun hat. Deshalb ist es nicht falsch, nach den Expertisen von Übersetzer*innen zu fragen. Es bleibt zu hoffen, dass unter ihnen mit der gleichen Passion selbstkritisch diskutiert und der Versuch einer Antwort etwa auf die Frage formuliert wird, die die Literaturwissenschaftlerin Marion Kraft stellt: Ob man weiß sein muss, um im Mainstream-Literaturbetrieb zur Kenntnis genommen zu werden?

Hadija Haruna-Oelker betreut im Team mit Kübra Gümüsay und Uda Strätling die zweisprachige Ausgabe The Hill We Climb – Den Hügel hinauf, die Ende März bei Hoffmann und Campe erscheint

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