Selten ist jemand über Nacht so inbrünstig zur Lichtgestalt der EU-Diplomatie ausgerufen worden wie Bertie Ahern. Ohne sich dagegen wehren, geschweige denn erwartungsgerecht in Szene setzen zu können. Der irische Premier wird bis zum 1. Juli als Ratspräsident der Europäischen Union vermutlich nie soviel Lorbeeren einfahren, wie ihm seit dem 1. Januar als Vorschuss zu Füßen gelegt werden. Immerhin soll er einen jüngst auf dem Boden der Tatsachen gestrandeten europäischen Großtanker wieder in Fahrt bringen.
Gelingen wird ihm das nur, darf er der Union all das ungeschminkt zu Bewusstsein bringen, was längst Realität ist oder demnächst sein wird: Es gibt einen Kern von Führungsstaaten, die sich zur Koalition der Verfassungswilligen formieren, nicht aber der Vollstrecker einer EU-Konstitution sein können. Es wird mehr denn je eine Union der zwei bis drei Geschwindigkeiten geben. Die Aspiranten aus dem Osten müssen so angenommen werden, wie sie sind - mit ihren Defiziten, ihren nationalen Ambitionen, ihrem Hoffnungswillen, ihren Illusionen. Schließlich: Die Politische Union bleibt ein Luxus, zunächst muss die Solidar- und Subventionsgemeinschaft der 25 bewältigt werden.
Folglich wird Bertie Ahern der EU die Gewissheit nicht ersparen dürfen, dass nach dem 1. Mai 2004 - wenn die alte Union unwiderruflich unter der Erweiterungslawine verschwindet - nichts mehr so sein kann, wie es war. Und er wird damit leben müssen, dass vieles dennoch bleibt, wie es ist.
Dabei lastet der Imperativ des Wandels besonders auf den Neuzugängen aus Ost- und Mitteleuropa. Sie werden ihren Platz in einer etablierten Ordnung finden und eine romantische Verklärung europäischer Visionen aufgeben müssen. Letzteres könnte reibungsloser vonstatten gehen als gemeinhin angenommen wird, da die östliche Idealisierung EU-Europas vielfach euphemistische Züge trug. Die alten und neuen Eliten im Osten wussten vermutlich ziemlich genau, sie würden den Mythos vom Gelobten Land Europa nicht ewig wie eine Monstranz vor sich her tragen können. Dieses Schauspiel taugte allein für die Zeit des Übergangs, als sich die EU gewissermaßen zur postrevolutionären Sinngebung des großen Bruchs von 1989 berufen sah.
In Polen wurde die "Ankunft in Europa" gar als Abschied vom Osten dargestellt, als gelte es, einer tragischen Herkunft zu entkommen. Eine versprengte Nation fieberte ihrer europäischen Wiedergeburt entgegen. Nun offenbarte allerdings der Eklat-Gipfel von Brüssel, dass europäische mitnichten polnische Interessen sein müssen. Wie umgekehrt deutsche Interessen nicht zwingend von europäischem Geist, wohl aber von Eichels leeren Kassen beseelt sein können.
In Brüssel gerieten die künftigen, EU-internen Abstimmungsmodalitäten in den Vordergrund, aber das allein treibt Polen wie auch Slowaken und Tschechen nicht um. Bleibt es beispielsweise beim eingefahrenen Protektionismus und der gerade von den französischen Landwirten geschätzten Subventionslust der EU-Agrarpolitik können sich die polnischen Bauern nach neuen Absatzmärkten in Weißrussland umsehen oder untergehen. Pflegen andererseits Gerhard Schröder und Jacques Chirac weiter ihren hemdsärmligen Umgang mit dem europäischen Vertragswerk, wie sie das beim Stabilitätspakt eindrucksvoll vorführten, müssen sich die Neuen ihrer Neigung zu einer gewissen Veto-Mentalität in Sachen Agrarmarkt nicht schämen.
Wie auch immer, es ist soweit. Die osteuropäischen Revolutionen entlassen ihre Kinder, und die stoßen auf der Suche nach dem Gelobten Land nicht auf die Mongolei, sondern das alte Europa, das so hingebungsvoll rief, bis alle, alle kamen. Nun muss das schöne europäische Haus nicht nur aus-, es muss vor allem umgebaut werden, was Zeit, Geduld und vor allem Machtverzicht verlangt. "Den Großen Staat regiert man, wie man kleine Fische brät", riet der chinesische Philosoph Laotse vor fast 2.500 Jahren in seinem Taoteking. Auf kleiner Flamme? Wird sich die EU das zumuten wollen?
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