Günter Gaus hat kürzlich in dieser Zeitung eine bemerkenswerte Verknüpfung von "konservativ" und "links" vorgenommen. Er plädierte dafür, die Deutungsmacht darüber, was konservativ ist, nicht denen rechts zu überlassen, die in Wahrheit reaktionär seien. Seine Definition der "auf klassische Weise" Konservativen als derjenigen "links von der Mitte", die sich nicht der Despotie des Marktes unterwerfen, ist mir auch deshalb ausgesprochen sympathisch, weil die vom Autor vorgenommene Abgrenzung zwischen konservativ und reaktionär ins Herz unserer staatlichen Verfasstheit zielt - das Grundgesetz.
In einem recht kurzen Zeitraum hat es in Deutschland die Mehrheit der politischen Klasse geschafft, den pazifistischen Grundton der Verfassung zu ignorieren u
norieren und trotzdem über 90 Prozent der Wähler bei der Stange zu halten. Die dem zugrunde liegende Koinzidenz von Vereinigung beider deutscher Staaten, Verweigerung einer Verfassunggebenden Versammlung und der Neuausrichtung der Außenpolitik unter militärischen Vorzeichen war kein Zufall. Fast über Nacht mutierte nach 1990 die Kultur der sicherheitspolitischen Zurückhaltung zum Euphemismus von der "Verantwortung des größeren Deutschland", der man sich nicht entziehen könne. Manfred Wörner, seinerzeit NATO- Generalsekretär, brachte es auf den Punkt: Out of area or out of business. Deutschland beteiligte sich an führender Stelle bei der Identifikation "neuer Risiken", die weltweit militärisch in Schach gehalten und nötigenfalls - auch ohne Plazet des Sicherheitsrates - bekämpft werden sollten: Organisierte Kriminalität, Terrorismus, Proliferation von Massenvernichtungswaffen. Die mehr als vier Jahrzehnte lang von allen Bundesregierungen wiederholte Beteuerung, das Grundgesetz lasse den Einsatz der Bundeswehr nur zur (Landes- und Bündnis-) Verteidigung zu, war mit einem Schlag obsolet. Die Verteidigungspolitischen Richtlinien von 1992 - Grundlagendokument für die Neuausrichtung der Bundeswehr als global einsetzbare Interventionstruppe (sie wiesen den Streitkräften unter anderem den Auftrag zu, die Rohstoffversorgung der Wirtschaft sicher zu stellen) - waren Ausdruck für das Bedürfnis der Politik, endlich wieder so normal sein zu dürfen wie alle anderen auch.So klafft heute zwischen der durch politisches Handeln geschaffenen Verfassungswirklichkeit und dem Wesensgehalt des Grundgesetzes in der Frage des außenpolitisch Zulässigen eine tiefe Kluft. Eine öffentliche Debatte hierüber findet jedoch nicht statt, und die Politik meidet den Blick auf die Verfassung, weil sie ihren Handlungsspielraum nicht einengen lassen will.Diese Situation macht es allen "auf klassische Weise Konservativen" zur Pflicht, die Kernbereiche des Grundgesetzes unbeirrbar gegen Ignoranz und Neuinterpretation zu verteidigen. Das bedeutet, sozialistische Politik ist in Deutschland nur möglich, wenn wir die Deutungsmacht über die Grundausrichtung unserer Verfassung nicht denen überlassen, die Partikularinteressen über das Gemeinwohl stellen. Deutschland, ein auch global gesehen nicht ganz unwichtiges Land, das in mehrfacher Hinsicht historische Schuld auf sich geladen hat, marschiert in der Frage von Krieg oder Frieden nahezu kollektiv (in sozialer Hinsicht übrigens auch) in eine von der Verfassung nicht vorgesehene Richtung. Deswegen plädiere ich, der sich Entstehung und Gehalt des Gesellschaftsvertrages Grundgesetz naturgemäß erst nach 1990 erschlossen haben, für eine Besinnung auf den Neubeginn nach 1945, auf die nach meiner Überzeugung ehrlichen Motive der durch Nationalsozialismus, Krieg, Konzentrationslager und die nazistische Pervertierung alles Menschlichen geprägten Väter des Grundgesetzes. Das erscheint inzwischen fast revolutionär.Der Kanzler hat seit Beginn des Wahlkampfes bis jetzt für die Ablehnung einer deutschen Beteiligung an einem möglichen Krieg gegen den Irak ausschließlich politisch-pragmatische Argumente ins Feld geführt. Um die Verfassungs- und Völkerrechtslage im Falle eines der UN-Charta widersprechenden Präventivkrieges macht er dagegen einen Riesenbogen. Seit Wochen nutzen die USA ihre Basen auf deutschem Hoheitsgebiet für logistische Kriegsvorbereitungen. Mitte Oktober wurden vier Tarnkappenbomber F-117 von New Mexico nach Spangdahlem/Eifel verlegt, aber die Bundesregierung und die Altparteien verhalten sich wie die drei bekannten Affen. Außen- und Verteidigungsministerium werden zu diesem Thema Maulkörbe verpasst, der Außenminister reagiert ungnädig auf Fragen von Journalisten, die sich das bieten lassen, die Opposition im Bundestag schweigt. Das Grundgesetz lässt jedoch an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig: Die allgemeinen Regeln des Völkerrechts gehen den Gesetzen vor und erzeugen Rechte und Pflichten für alle Bürger (Art. 25), die Vorbereitung eines Angriffskrieges steht unter Strafe (Art. 26), die Regierung ist an Recht und Gesetz gebunden (Art. 20). Wir stehen nicht nur in der sozialen Frage am Rande des Verfassungsbruchs. Dagegen ist Widerstand auf breiter Front angesagt. Unter diesen Vorzeichen lässt sich auch eine sozialistische Partei das Etikett "klassisch konservativ" im Gaus´schen Sinn anheften.